Was ist natürlich?

BERLIN. (hpd) Über eine “Natur modernisiert zum Naherholungsgebiet oder innerstädtischen Grünzonengürtel und zum verglastem Palmengarten oder Büropflanzenhabitat” spottet unverblümt Bazon Brock. Den Theoretikern geht es nicht anders. Je mehr man sie dreht und wendet, umso mehr verflüchtigen sich ihnen Begriffe wie natürliches Gleichgewicht, Landschaft, Naturzustand. Ist gar der Begriff der Natur selbst ein künstlicher?

Im Ernst-Bloch-Zentrum in Mannheim trafen sich sich Philosophen, Wissenschaftler und Künstler zum Gedankenaustausch darüber, was Natur denn sei und wie wir mit ihr umgehen sollten. Heraus kam ein lesenswertes Buch “Arkadien oder Dschungelcamp. Leben im Einklang oder Kampf mit der Natur”, herausgegeben von Robert Pfaller und Klaus Kufeld mit den zu Essays überarbeiteten Diskussionsbeiträgen. Der Blick richtete sich nicht nur in die Vergangenheit, sondern auch in die Zukunft. Denn wie vertragen sich Natur und Wirtschaft, Politik und Natur, das war folgerichtig die Frage. Welche Politik brauchen wir?

Erst seit der Mensch paradigmatisch zum Maß der Dinge wurde, mit der Neuzeit, begann man auch von der Natur zu reden. Wurden Mensch und Natur als Gegensatz begriffen. Noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts waren in den Mythen und Märchen Mischwesen zwischen Mensch und Tier fester Bestandteil der Vorstellungswelt. An ihre Stelle traten jedoch schon lange vorher, mit Petrarca und Leonardo da Vinci ganz andere Bilder. Solche von Landschaften. Aber gibt es die draußen vor der Tür? Auch sie entstehen im Kopf des Betrachters. Man sehe nur, was erst neuerdings als Landschaft wahrgenommen wird.

Um das Tempelhofer Feld unantastbar in seinem jetzigen Zustand als verwilderte Steppe zu bewahren, kam es unlängst in Berlin zum Volksentscheid. Noch vor ein paar Dekaden hätte diese immense Wiese mit Asphaltrollbahnen kaum jemand für ein Stück Natur gehalten.

Was ist also Naturzustand, ein ursprünglich einmal dagewesenes Biotop oder jedes Areal, in dessen Wachsen und Vergehen keiner eingreift? Die Artenvielfalt ist immerhin heute in den Städten größer als auf dem von der Agrarindustrie planierten Land. Ach ja, von natürlichem Gleichgewicht wird gern global gesprochen und geschrieben, aber ist nicht jeder Ist-Zustand unseres Planeten, weil in ihm per definitionem immer schon alles mit allem in Austausch ist, ein Zustand natürlichen Gleichgewichts, wie Klaus Kufeld meint.

Unsere Rationalität, so die Devise der Moderne, trennt uns von der Natur. Wolfgang Welsch legt dagegen in seiner Einlassung nahe, die Rationalität schon als Phänomen der Natur zu verstehen. Der Anfang der Menschheit muss eine Fiktion bleiben, genauso wie die Zukunft, die Utopie. Dazwischen gibt es nur den Wandel, meinte Ernst Bloch.

Schimpansen begreifen Symbolsprachen, in denen sie Dinge logischen Klassen zuordnen müssen. Kakadus haben ein elementares Verständnis von Ursache-Wirkungszusammenhängen. Elstern erkennen sich im Spiegel. Können sie Rechtssubjekte sein? Kann die Natur an sich Rechtssubjekt sein? Für einen Naturzustand kann niemand stellvertretend Klage erheben. Schon weil er eine Eigenschaft sei. Einfordern kann man aber, so Konrad Ott, das Recht auf Gesundheit und Wohlbefinden, das einer Gruppe von Menschen durch den Naturgenuss entsteht. Beat Silver Liver fordert dagegen auch für die Tiere und Pflanze selbst ein Recht auf Schutz und Unversehrtheit, weil sie Subjekt in dem Sinne seien, dass sie selbstbezügliche Wesen sind.

Mit jedem Scheitern einer Klimakonferenz taucht wieder die Frage auf, ob die Politik mit ihren parlamentarischen Demokratien die bedrohte Natur überhaupt retten kann. Ja, dafür plädieren die Diskussionsteilnehmer dann doch. Aber es müsste eine andere Politik her. Sagte nicht schon Nicolaus Cusanus, an Entscheidungen, von denen alle betroffen sind, müssten alle teilnehmen.

Grenzen müssten einer Wirtschaft gesetzt werden, in der Konsum und Produktion immer weiter von einander entfernt stattfinden und die Folgen der Produktion aus der Kostenrechnung herausgehalten werden, um die Produktionskosten klein zu halten, so der Altlinke und Politologe Elmar Altvater. Daneben können auch die Konsumenten große Firmen zu Fairness zwingen. Beim Konsumverzicht sind alle gefragt.

Das Anthropozän hat ein neues Problem. Es gilt bald mit enormer natürlicher, nicht nur Marktknappheit fertig zu werden. Da ist es auch wieder erlaubt, darüber nachzudenken, ob die lebensnotwendigen Güter überhaupt dem freien Markt überlassen werden sollten, überlegen junge Radikale wie Manfred Moldaschl, Nico Stehr oder Barbara Muraca. Und es darf geträumt werden von einer Welt der Gabe und nicht des Marktwerts. Was können wie wissen, was können wir hoffen, was können wir tun in Zeiten des Anthropozäns, das sind die großen, noch völlig offenen Fragen.

 


Robert Pfaller, Klaus Kufeld (Hg.): „Arkadien oder Dschungelcamp. Leben im Einklang oder Kampf mit der Natur“, Verlag Karl Alber, Freiburg und München 2014, 304 S. 24 Euro