Eine politikwissenschaftliche Studie

War die DDR eine totalitäre Diktatur?

(hpd) Der Politikwissenschaftler Florian Gräßler geht in seiner Studie “War die DDR totalitär?” der im Titel enthaltenen Frage im Sinne einer Fallstudie zur Prüfung der genannten Ansätze nach. Es handelt sich um eine gelungene Kombination von empirischem und theoretischem Vorgehen, wobei die belegte Angemessenheit der Totalitarismuskonzepte nicht mit einer Ignoranz gegenüber ihren Schwächen einhergeht.

Dass die DDR eine Diktatur war, wird mit Ausnahme von ihren Apologeten nicht in Zweifel gezogen. Doch wie kann man das politische System der SED-Diktatur genau als Staatsform bezeichnen? Handelte es sich eher um eine autoritäre oder mehr um eine totalitäre Diktatur? Diese Frage fand bislang kaum nähere Aufmerksamkeit. Allenfalls gab es eine meist häufig erregt und wenig sachlich geführte Debatte über die Angemessenheit der Rede von “zwei deutschen Diktaturen”, unterstellte doch eine Seite in dieser Auseinandersetzung damit fälschlicherweise eine Gleichsetzung mit dem “Dritten Reich”. Die damit einhergehenden Positionen bilden indessen gerade nicht die Problemstellung einer Arbeit, die der Politikwissenschaftler Florian Gräßler mit dem Titel “War die DDR totalitär? Eine vergleichende Untersuchung des Herrschaftssystems der DDR anhand der Totalitarismuskonzepte von Friedrich, Linz, Bracher und Kielsmansegg” vorgelegt hat. Bereits in der Formulierung wird eine empirische wie theoretische Perspektive deutlich.

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Denn dem Autor geht es erklärtermaßen darum, die Totalitarismuskonzepte von Carl J. Friedrich, Juan L. Linz, Karl Dietrich Bracher und Peter Graf Kielmansegg zur Analyse des konkreten Fallbeispiel der DDR - im engeren Sinne bezogen auf ihr Herrschaftssystem - zu nutzen. Entsprechend gliedert sich auch die Arbeit inhaltlich: Zunächst beschreibt und vergleicht der Autor die Konzepte der vier genannten Autoren, wobei dafür Extension, Intension, Operationalisierung und Erklärungskraft die Kriterien bilden. Danach findet sich eine ausführliche Darstellung des Herrschaftssystems der DDR in der gesamten Ära ihrer Existenz von 1949 bis 1989. Danach betrachtet Gräßler dieses im Licht der vier vorgenannten Totalitarismuskonzepte und nimmt erneut eine vergleichende Erörterung vor. Dem folgt noch eine weitere komparative Erörterung mit anderen konkurrierenden Konzepten: dem von der “Fürsorgediktatur” nach Konrad Jarausch, dem von der “modernen Diktatur” nach Jürgen Kocka und dem von der “partizipatorischen Diktatur” von Mary Fulbrook.

Bilanzierend formuliert der Autor: “Die Ergebnisse der theoretischen Prüfung und des Vergleichs der vier Totalitarismuskonzepte … zeigen: Zum einen eignen sich die Modelle von Friedrich, Linz, Bracher und Kielmansegg grundlegend als politikwissenschaftliche Analyseinstrumente, zum anderen taugen sie für die empirische Prüfung.” Und weiter heißt es: “Die vier Modelle definieren ‘totalitäre Systeme’ hinreichend für den praktischen Verständigungszweck und grenzen sie von anderen Herrschaftsformen ab. Die Merkmalskataloge sind soweit präzisiert, um einzelne Regime daran messen zu können.” (S. 326). Im Ergebnis habe das Herrschaftssystem der DDR trotz gesellschaftlicher und politischer Veränderungen prinzipiell seinen totalitären Charakter beibehalten. Gräßler leugnet aber auch nicht die Schwächen der Totalitarismuskonzepte, “weder den Wandel hinreichend erklären noch bestimmte Entwicklungsmuster abbilden zu können” (S. 327). Dies gelte auch und gerade für den Zusammenbruch des SED-Regimes.

Die Studie beeindruckt dadurch, dass sie mit klarer Fragestellung und passender Struktur eine gelungen Kombination empirischer und theoretischer Perspektiven vornimmt. Die DDR dient als Feld für eine Fallstudie, welche die praktische Relevanz der Totalitarismuskonzepte prüft. Dabei geht der Autor auch auf scheinbar marginale Gesichtspunkte wie beispielsweise die Stellung der Kirchen ein. Er macht auch immer wieder methodische Aspekte besonders deutlich, wozu etwa der Hinweis auf den idealtypischen Charakter der Konzepte gehört. Bezogen auf die einzelnen Autoren nimmt er eine differenzierte Einschätzung von deren Stärken und Schwächen vor, wobei nicht jedes Urteil nachvollziehbar und verständlich ist.

Irritierend sind die Ausführungen zu den anderen konkurrierenden Konzepten, da sie mit der eigentlichen Fragestellung im engeren Sinne nichts zu tun haben. Daher scheinen sie hier ein wenig wie überflüssige “Füllmasse”. Lobenswert sind darüber hinaus noch die differenzierten Bemerkungen zu den Analyseschwächen der Totalitarismuskonzepte.

 


Florian Gräßler, War die DDR totalitär? Eine vergleichende Untersuchung des Herrschaftssystems der DDR anhand der Totalitarismuskonzepte von Friedrich, Linz, Bracher und Kielmansegg, Baden-Baden 2014 (Nomos-Verlag), 362 S.