Leben am Rand – Reich der Räbinnen

BERLIN. (hpd) Natur ist immer, auch da, wo sie vom Menschen völlig verändert wurde. Das ist die Botschaft von Esther Kinskys Roman “Am Fluss”, der von Spaziergängen an den Ufern des Lea, eines Zuflusses der Themse am Stadtrand von London, handelt.

Rousseaus “Träumereien eines einsamen Spaziergängers” kommen der Leserin nicht zufällig in den Sinn. Der großen Aufklärer schrieb sie als Rückblicke auf sein Leben, und sie lassen dabei doch schon die Morgendämmerung einer neuen Epoche ahnen: der Romantik. Auch Esther Kinskys Roman ist verschiedenes zugleich, Betrachtung und Selbstbeobachtung mit einem Schuss Romantik im Unromantischen.

Eine Frau flieht vom Zentrum an den Rand, erkundet Tag für Tag die Topologie eines Ortes, der Grenzland ist zwischen Fluss und Land: die Marsch. Zwischenzone, nicht Stadt, nicht Land. Der Fluss ist Scheide, aber auch Verbindung, geprägt von Menschen, und Lebensfluss. Kanalisiert die Ufer, begradigt. Brücken führen über ihn hin. Und dennoch ist da Natur: Nicht nur Bäume und Buschwerk am Ufersaum, auch der Regen, die Wolken, das Licht, die Vögel – märchenhafte Schwäne und Krähen meist, die sich hartnäckiger gehalten haben als Regenpfeifer oder Kibitz, die es dort auch noch gibt. Im Buch haben sie so symbolträchtig ihren Auftritt wie die Füchse, die um die Häuser streichen.

Die Erzählerin, wohl ziemlich authentisches Alter Ego der Autorin, erinnert sich an andere Flüsse in ihrem Leben, den Ganges, einen Abwasserlauf in Tel Aviv, den Rhein im Bonn ihrer Kinderzeit, die Oder: Grenzfluss, aber auch eine Art Charon, der die Toten von den Lebenden scheidet, der überquert werden muss, um in die Heimat der Vorfahren, Polen, zu gelangen.

Seit Petrarca die Alpen literarisch entdeckte, hat jede Epoche ihre eigene Landschaft. Eichendorffs italienische Gärten, wo die Zitronen blühen, bleiben unvergessen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren es vielleicht die Marschen voller Schafe an Schleswig-Holsteins Westküste der Sarah Kirsch. Von nun an sind es für unsere Zeit die Uferzonen der Esther Kinsky, die Stadtbrachen, wo einst Fabriken und Schlachthöfe standen. Müll wird von geduckten Büschen aufgespießt und weht im Wind. Im Fluss treibt allerlei.

Aber diese Randzone des Urbanen wird bevölkert von allerlei märchenhaften Gestalten, denen man es zutraut, in jedem Moment in die Luft zu schweben wie Chagall-Figuren. Trödelhändler, fromme chassidische Juden, ein Zauberer, der König der Raben ist, Zigeuner – Randexistenzen. Eine Native Woman in Kanada taucht in der Erinnerung auf.

Kinsky schildert Begegnungen. Zaghafte Annäherungen. Oft nur Beobachtungen. Kaum einmal trifft die Erzählerin eine ihrer Gestalten wieder. Auch eine Handlung gibt es kaum. Ein Kind der Protagonistin kommt vor. Die Erzählspur verliert sich wieder. Die Szenen reihen sich assoziativ, in denen die elementare Katastrophe oft Thema ist, Überschwemmung oder Brand. Momente in denen die Elemente dem Menschen außer Kontrolle geraten. Wie Vexierbilder spiegeln sich Gegenwart und Vergangenheit, Nahes und Fernes. Fixpunkte sind wie Glieder einer Kette Fotografien, die die Autorin selbst macht, und Zufallsfunde. So entstehen Traumgeschichten – Träumereien einer einsamen Spaziergängerin eben. Ein sehr poetischer Roman für Leser, für die ein Roman mehr als nur einen guten Plot haben muss.

 


Esther Kinsky: Am Fluss, Matthes & Seitz 2014, 387 S. gebunden 22,80 Euro