Filmkritik

"Messias des Proletariats": Snowpiercer

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Filmplakat
Filmplakat

(hpd) Bong Joon-hos Endzeitthriller "Snowpiercer" feierte bereits bei der letztjährigen Berlinale seine Deutschlandpremiere und wurde von Publikum wie Kritikern gefeiert. Doch noch heute lohnt der Blick auf dieses Kinoereignis.

Ein gigantischer Zug rast durch das scheinbar unendliche Weiß einer Schneelandschaft. Im Inneren dieser Arche überlebt ein Rest der menschlichen Zivilisation die selbstverschuldete Klimakatastrophe. Bereits 1982 erschien der Fortsetzungscomic Le Transperceneige von Jacques Lob und Jean-Marc Rochette, der die Dystopie einer hierarchischen Drei-Klassen-Gesellschaft innerhalb einer Eisenbahn entwarf. Diesem folgten in den Jahren 1999 und 2000 zwei Fortsetzungen, nun von Benjamin Legrand verfasst und wiederum von Rochette gestaltet. Schon das Original wurde mit großem Erfolg in Frankreich wie später auch, im Zuge des Erscheinens der Fortsetzungen, international veröffentlicht.

Im Juli 2013 feierte die Verfilmung des südkoreanischen Regisseurs Bong Joon-ho unter dem Titel Snowpiercer ihre Weltpremiere. In Deutschland wurde sie erstmals auf der Berlinale vergangenes Jahr aufgeführt. Seine Adaption entfernt sich stark von der Vorlage und greift nur deren Grundidee auf. Überraschenderweise gab es dafür von niemand Geringerem als Zeichner Rochette persönlich überschwängliches Lob. Im Interview erklärte er, Bong habe die Arbeit von ihm und Jacques Lob zum Meisterwerk verbessert. Könnte es eine größere Ehrung für den Regisseur geben?

Allerdings sorgte der Film vor seiner Veröffentlichung auf dem internationalen Markt auch für eine Kontroverse. Medienmogul Harvey Weinstein, der sich die Rechte für den US-Vertrieb gesichert hatte, behauptete, er sei zu unverständlich für ein US-Publikum und müsse stark gekürzt werden. Nach heftigen Protesten brachte er ihn zwar in der Originalfassung heraus, jedoch nur in ausgewählten Programmkinos.

Tatsächlich präsentiert sich Snowpiercer im Vergleich zu ähnlichen aktuellen Science-Fiction-Filmen mit seinem teils gemäßigten Erzähltempo als recht ungewöhnlich. Intensive Dialoge, innovative dramaturgische Wendungen und die einfallsreiche Inszenierung der Actionszenen weisen eine für derartige Filmproduktionen ungewohnte Komplexität auf. Erstaunlich für eine internationale Koproduktion mit einem 40-Millionen-Dollar-Budget. Zumal neben den britischen Charaktermimen Tilda Swinton und John Hurt allen voran "Captain America" Chris Evans in der Rolle des mürrischen Rebellenführers Curtis brilliert. Dabei erzählt der Film einmal mehr vom Kampf der Geknechteten gegen ihre Unterdrücker. Snowpiercer verlegt dieses Handlungsschema in einen riesigen Zug samt seinen drei Wagenklassen, die hier als räumlich wie auch sozial-hierarchisch getrennte Gruppen erscheinen.

Er setzt zunächst mit einem Rückblick ein: Beim Versuch die Erderwärmung mit Hilfe eines chemischen Wundermittels zu stoppen löste die Menschheit eine neue Eiszeit aus, die alles Leben eliminierte. Die technische Hybris wurde zum Verhängnis. Einzig eine gigantische Luxus-Eisenbahn, der "Snowpiercer", bot einem Rest der Zivilisation Schutz, der zu Beginn der Handlung bereits seit 17 Jahren über die Erdoberfläche rast. Angeführt von Curtis, der mit seinen inneren Dämonen ringt, wagt die im Elend der hinteren Wagons gefangene Unterschicht die Revolte. Dabei bahnt sie sich ihren blutigen Weg durch die Dekadenz der herrschenden Klassen in den vorderen Abteilen und geht den Geheimnissen der Lokomotive, wie auch ihres mysteriösen Schöpfers Wilford, langsam auf den Grund.

Tatsächlich lässt sich im Kosmos des "Snowpiercers" viel von Karl Marx’ Gesellschaftstheorie auf engstem Raum wiederentdecken. Das Proletariat erhebt sich gegen die Ausbeutung der Bourgeoisie. Ganz im Sinne Marx’ kommt es zum Klassenkampf und der Zerschlagung der bisherigen Verhältnisse. Allerdings präsentiert Bong am Ende nicht den im Marxismus erhofften Umbruch zum Kommunismus. Dies wurde von so manchem Rezensenten bemängelt, hätte man sich doch konkrete soziale Lösungsansätze gewünscht. Der Film hätte somit eine "Vorbildfunktion" erfüllen können. Das wirft allerdings die Frage auf, ob ein derartiges “Happy End” nicht zu platt für einen Endzeitthriller wäre.

Der diktatorische Herrscher Wilford wird von den vorderen Klassen als gottgleicher Prophet angebetet – satirisch überspitzt in einer Szene, in der bereits Grundschüler lernen ihm zu huldigen. Dies weckt Assoziationen an Max Webers berühmtes Modell der "charismatischen Herrschaft", das vielfach herangezogen wurde, um den Gehorsam der Bevölkerung in totalitären Staaten zu erklären. Bongs Werk lässt also eine starke, wenn auch abstrakte Sozial- und Ideologiekritik durchblicken, die bei aller Action und CGI-Schauwerten nicht übersehen werden sollte.

Darüber hinaus können zahlreiche mythische, religiöse Referenzen ausgemacht werden, die er gekonnt in seine Geschichte einarbeitet. So entspricht die Figur Curtis messianischen Vorstellungen in Teilen des rabbinischen Judentums. Hier wurde die Gestalt des Messias oftmals als einfacher Mann ohne übernatürliche Kräfte und die Zeit vor seinem Handeln als leidvoll für sein Volk geschildert.

Wilford sieht den Zug als nun eigentliche Welt, erachtet seinen Absolutismus und das Klassensystem als notwendig. Immer wieder betonen er und seine Anhänger, es komme dem Wohl aller zugute, wodurch sie das Leid der untersten Schicht metaphysisch legitimieren. Im Showdown wird er, monotheistischer Vorstellung folgend, für die eigenmächtige Apotheose bestraft, ebenso wie Curtis’ sein messianisches Opfer erbringt. Allerdings bleibt nach der dramatischen Zuspitzung der Handlung am Ende des Films, samt Verlassen des Zuges, vieles offen. Der biblische Schöpfungsmythos spiegelt sich vordergründig in einer dystopischen Abwandlung wider: Statt dem Liebespaar Adam und Eva als Wurzel der Menschheit im Paradies, sind die einzigen Überlebenden, als letzter Spross ihrer Spezies, dem Dasein in einer "Hölle" aus Schnee und Eis ausgesetzt. Dennoch wirkt dies nicht durchweg negativ. Ein Polarbär, der an ihnen vorüberzieht, greift die alttestamentliche "Arche Noah" auf. Ähnlich der Taube, die dort die neuerliche Bewohnbarkeit des Festlands bewies, zeigt er, dass die Außenwelt nicht mehr gänzlich lebensfeindlich ist.

Das offene Ende lässt insofern viel Raum für Interpretation. Letztlich, und dies kann den besagten Kritikern entgegengehalten werden, bleibt es der Phantasie des geneigten Zuschauers überlassen, wie eine bessere Welt nach der Apokalypse aussehen könnte. Im Gegensatz zu manch oberflächlichem Action-Spektakel schafft Bongs Verfilmung so das Kunststück im Gedächtnis zu bleiben und zur Diskussion anzuregen.

Die Neuinterpretation biblischer Versatzstücke verdeutlicht einmal mehr deren dauerhafte Faszination für den Menschen und ihre fiktionale Qualität. Es sind Gleichnisse, die immer wieder zur Deutung einladen und freilich nicht wörtlich genommen oder gar als letzte Wahrheit begriffen werden sollten.

Die Science-Fiction ermahnt seit jeher zu Fortschrittskritik und ethischer Selbstreflexion. Snowpiercer hat dahingehend sehr viel Potential, da er als Parabel zum Überdenken gesellschaftlicher Entwicklungen und ethischer Problemstellungen anregt, jedoch ohne im Ausgang selbst eine Utopie zu entwerfen. Deren Ausgestaltung bleibt dem Publikum überlassen. So gesehen wirkt er angesichts der zahlreichen globalen Krisenherde, trotz seines fantastischen Settings, sehr aktuell und universell.

 


Snowpiercer, Regie: Bong Joon-ho, 2013, USA/Südkorea