Über den Völkermord an den Armeniern

Der "Tod in der Wüste"

BERLIN. (hpd) Rolf Hosfeld schildert in seinem Buch "Tod in der Wüste" den von den Türken an den Armeniern verübten Völkermord und die internationalen Reaktionen darauf. Dies führte zu ersten Diskussionen über das Recht, zum Schutze der Menschenrechte in die inneren Angelegenheiten fremder Staaten einzugreifen, und über die Notwendigkeit, ein System des internationalen Rechtes zu schaffen.

Der Völkermord an den Armeniern von den ersten organisierten Massakern 1894–96 bis zur endgültigen Vernichtung der Armenier als relevanter ethnischer Gruppe auf dem Gebiet der Türkei 1915/16 durch die Türken im Osmanischen Reich wird bis heute von der türkischen Regierung verleugnet. Der Völkermord diente, ebenso wie heute seine Verleugnung, dem Zweck, eine nationale türkische Identität zu bilden und zu erhalten. § 301 des türkischen Strafgesetzbuches stellt die "Beleidigung der türkischen Nation" unter Strafe. Wer in der Türkei zugibt, dass es einen Völkermord an den Armeniern gegeben hat, wird nach § 301 angeklagt. Es ist politisch verheerend, dass die türkische Regierung sich bis heute nicht der Verantwortung für diesen am Beginn der modernen Türkei stehenden Völkermord stellt. Eine demokratische Innen- und friedliche Außenpolitik ist nicht möglich, solange dieses Verbrechen nicht anerkannt wird. Dies zeigt nicht zuletzt bis heute der Umgang der Türkei mit ihrer kurdischen Minderheit. Schon 1919 hielt der damalige türkische Innenminister Djemal die Aufarbeitung dieser Vergangenheit im Hinblick auf einen nationalen Neubeginn für unverzichtbar (S. 228). Diese Aufarbeitung steht bis heute aus.

Der Völkermord an den Armeniern war der Beginn einer Welle ethnischer Säuberungen in Europa mit dem Ziel, ethnisch "reine" Nationalstaaten zu schaffen. Diese ethnischen Säuberungen zogen sich in Europa bis nach den zweiten Weltkrieg hin. Ähnliche Prozesse fanden und finden nach dem Ende der Sowjetunion in Osteuropa statt und heute wieder nach dem Zerfall der Baathstaaten Syrien und Irak. Auch die Massaker des IS in diesem Gebiet zielen nicht zuletzt auf die Bildung eines religiös und ethnisch einheitlichen Raumes ab.

Die alten Reiche, wie das Osmanische Reich, bezogen vor der Entstehung des modernen Staates als Nationalstaat schon immer eine Vielzahl von Ethnien ein. Dies war kein Problem, sondern vielmehr die grundlegende Struktur dieser Reichskonstruktionen. Eine militärisch dominieren-de Gruppe unterwarf andere Ethnien und erhob von ihnen Tribute. Eine Homogenisierung der Ethnien wäre sinnlos, ja kontraproduktiv gewesen. Man kann schließlich nicht von sich selbst Tribute erheben. Eine Homogenisierung der Bevölkerung oder auch eine Assimilation an die herrschende Ethnie fand daher in diesen Reichen nicht statt. In den Städten lebten die Volksgruppen in eigenen, klar voneinander getrennten Vierteln. Auf dem Land siedelten die unterschiedlichen Ethnien in eigenen Dörfern.

Erst der moderne bürgerliche Staat braucht ein einheitliches Staatsvolk. Die kapitalistische Ökonomie benötigt im Gegensatz zu dem tributären System der alten Reiche einen intensiven Durchgriff des Staates auf seine Bürger. Dieser bürgerlich-kapitalistische Staat konstituiert sich daher in Europa seit dem 15. Jahrhundert als Nationalstaat. Nachholende Nationalstaatsbildungen von vorstaatlichen Reichen beruhen seitdem auf Prozessen geographischer Aufspaltung und ethnischer Säuberung. So kam es im Osmanischen Reich bereits 1913 nach dem zweiten, von den Türken verlorenen Balkankrieg zu einer von der bulgarischen und türkischen Regierung vereinbarten Zwangsumsiedlung von insgesamt ca. 100.000 Türken und Bulgaren aus den Grenzregionen, um ethnisch reine Nationen zu bilden (S. 93). Nach und während des griechisch-türkischen Krieges 1920–22 kam es ebenfalls zu Vertreibungen und Zwangsumsiedlungen von "griechischen" Türken und "türkischen" Griechen.

Hosfeld beschreibt diesen Prozess der Nationenbildung durch ethnische Säuberung bei der Entstehung der modernen Türkei aus den Resten des Osmanischen Reichs. An der Tatsache, dass es einen Völkermord an den Armeniern gab, gibt es keinen Zweifel. Die zeitgenössischen Dokumente und Quellen – insbesondere die Berichte des deutschen Orientalisten Johannes Lepsius – sind ebenso wie neuere historische Forschungen eindeutig.

Armenische Stämme siedelten seit ca. 2.700 Jahren in Ostanatolien, der heutigen Grenzregion zwischen der Türkei und Russland und den angrenzenden Regionen. Sie wurden seit ca. 300 n.u.Z. christianisiert und seit ca. 1300 von dem türkischen Stamm der Seldschuken, die seit ca. 1000 n.u.Z. islamisiert worden waren und mit der Eroberung von Byzanz 1453 das Osmanische Reich gründeten, mit unterworfen. Die Armenier waren nach den Türken und Griechen die drittgrößte Bevölkerungsgruppe im Osmanischen Reich um die Wende zum 19. Jh. (ca. 10 Prozent, mit sehr unterschiedlichen regionalen Schwerpunkten), stellten aber in keiner Region die Mehrheit. Sie waren christlich und gingen häufig ökonomisch erfolgreich bürgerlichen Berufen nach.

Der Völkermord an den Armeniern war für die Nationalsozialisten ein Vorbild für die Shoa (S. 15). Genau so wie der NS später bei der Shoa nutzte das Osmanische Reich einen äußeren Krieg, um ungestört im Inneren den Völkermord durchzuführen. Ohne den Ersten Weltkrieg wäre es zu dem Genozid wohl nicht gekommen. Ebenso wie später im NS diente auch der Völkermord an den Armeniern unter anderem dazu, ökonomische Konkurrenten zu berauben und zu verdrängen (S. 198).

Die osmanische Führung unter Innenminister Mehmet Talaat und Kriegsminister Ismail Enver – beide führende Politiker der jungtürkischen, die Türkisierung des Osmanischen Reiches verfolgenden politischen Reformbewegung Comité et Progrès (CUP), die seit ca. 1908 in geheimbündlerischer Manier die Geschicke des Osmanischen Reiches leitete – sah nach dem Eintritt des Osmanischen Reiches in den Ersten Weltkrieg in den Armeniern einen inneren Feind, den es zu vernichten galt. Es begann eine systematische Erfassung und Deportation der Armenier.

Das Ziel war dabei, dass die Armenier in keinem Gebiet des Osmanischen Reiches mehr als 5–10 Prozent der Bevölkerung stellen sollten. Um dieses Ziel zu erreichen, hätte die Zahl der Armenier im Osmanischen Reich von 1,7 Millionen um 1,5 Millionen auf 200.000 reduziert werden müssen (S. 208). Faktisch gelang es dann "nur", ca. 800.000 Armenier zu ermorden. Zumindest ist dies die Zahl, die der Innenminister der osmanischen Nachkriegsregierung, Djemal, 1919 offiziell bekannt gab (S. 228). Während junge armenische Mädchen geraubt und verkauft wurden, wurde der Rest der Armenier während der Deportationszüge systematisch und bestialisch abgeschlachtet. Die Armenier, die diese Massaker überstanden, verhungerten in den Wüstengebieten, in die sie deportiert wurden, oder starben an Seuchen.

Im Rahmen des Völkermordes kam es zwar auch immer wieder zu den seit Jahrhunderten üblichen Pogromen an den Armeniern, insbesondere durch Kurdenstämme, dennoch war der Völkermord insgesamt zentral organisiert und wurde mit zunehmender Dauer immer systematischer durchgeführt. Nachdem man 1916 festgestellt hatte, dass ca. 500.000 deportierte Armenier noch am Leben waren, wurde eine zweite Vernichtungsphase eingeleitet (S. 210). Neben den üblichen Mordmethoden wie Erschlagen und Erschießen wurden auch Verbrennungen mit Kerosin durchgeführt (S. 215). Erst mit dem Ende des Ersten Weltkriegs endete dieses Abschlachten.

Nicht nur Völkermord ist eine moderne Entwicklung wohl erstmals in der Geschichte kommt es während des Völkermords an den Armeniern auch dazu, dass sich Staaten für die Belange der Bewohner anderer Staaten einsetzen und sich somit in deren "innere Angelegenheiten" einmischen. – Erst nach dem 1. Weltkrieg kommt es zur Gründung des Völkerbunds.

Dass dies gerade in Bezug auf die Armenier geschieht, ist kein Zufall. Die Frage, was aus dem Osmanischen Reich werden würde, wie es mit dem kranken Mann am Bosporus – so eine zeitgenössische Charakterisierung – weitergehen werde, wurde unter den Staaten Europas damals intensiv diskutiert. Zudem waren die Armenier eine christliche Minderheit, zu deren Schutz sich die christlichen europäischen Staaten besonders aufgerufen sahen. Dennoch aber fanden die politischen Interventionen zu Gunsten der Armenier nicht aus großmachtpolitischen Interessen heraus statt, wenn solche auch z.B. bei den Kolonialmächten Großbritannien und Frankreich im Umgang mit dem Osmanischen Reich eine Rolle spielten. Großmachtpolitische Interessen, wie sie z.B. auch das deutsche Kaiserreich in seiner Außenpolitik gegenüber dem Osmanischen Reich vertrat, konnten im Gegenteil dazu führen, bestenfalls die Türken gewähren zu lassen, schlimmstenfalls sie indirekt zu unterstützen. Die zentralen Figuren des politischen Engagements zum Schutz der Armenier waren der ehemalige britische Premierminister William Gladstone und der deutsche Orientalist Johannes Lepsius. Gladstone forderte bereits nach den Massakern 1896 die Absetzung der türkischen Regierung. Die Türkei war im Frieden von Paris nach dem Krimkrieg von 1856 in das "Konzert der europäischen Mächte" aufgenommen worden und hatte erklärt, an den Fortschritten des öffentlichen Rechtes und des politischen Systems in Europa teilzunehmen. Auf dieser Basis forderte Gladstone das Recht der europäischen Staaten, in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einzugreifen und dort die Einhaltung der Menschenrechte zu erzwingen (S. 30). Hierzu waren die europäischen Staaten jedoch nicht bereit.

Die "armenische Frage" wurde daher ein Gegenstand der öffentlichen Debatte. Entscheidend waren hierbei die Berichte von Lepsius. Über die Massaker 1895/96 hatte Lepsius eine Artikelserie in der Zeitung Der Reichsbote veröffentlicht. 1897 kam sein Buch Armenien und Europa heraus. 1915 publizierte Lepsius unter geschickter Umgehung der Kriegszensur, die es untersagt hätte, dass ein negativer Bericht über einen Kriegsverbündeten erschienen wäre, erneut einen Bericht über die Ermordung der Armenier: Bericht über die Lage des Armenischen Volkes in der Türkei. Während jedoch die öffentliche Debatte 1895/96 einen gewissen Einfluss entfalten konnte, war dies während des 1. Weltkrieges nicht mehr der Fall.

Nach dem Ende des 1. Weltkriegs kam es zu Versuchen, den Völkermord juristisch aufzuarbeiten. Auf Initiative des osmanischen Parlaments kam es in der Türkei zu Kriegsgerichtsprozessen, gegen die alte, inzwischen zum Teil in Deutschland im Exil befindliche Regierung unter Talaat und Enver. In diesen Prozessen wegen "Verbrechen gegen die Menschheit" – so die Anklage des Staatsanwaltes in der Eröffnungssitzung des ersten Verfahrens (S. 226) – wurden Talaat, Enver und 15 andere zum Tode verurteilt. Nach dieser ersten Prozesswelle wurden die Prozesse jedoch nach massivem Druck nationalistischer Kräfte 1920 eingestellt. Auch Mustafa Kemal – genannt Atatürk, der Gründer der modernen Türkei – war gegen die Prozesse und hielt den Völkermord an den Armeniern aus nationalen Gründen für erforderlich (S. 228ff.).

Zu einer ganz anderen Form juristischer Aufarbeitung des Völkermordes kam es 1921 vor dem Landgericht Berlin. Die Ermordung des ehemaligen türkischen Innenministers Talaat in seinem Berliner Exil durch den armenischen Studenten Soghomon Tehlirjan war der Auftakt zu einer Reihe solcher Selbstjustizmaßnahmen von Armeniern an den für den Völkermord verantwortlichen türkischen Politikern. Tehlirjan wurde vor dem Berliner Landgericht wegen Mordes angeklagt und freigesprochen. Formal beruhte der Freispruch darauf, das Tehlirjan für schuldunfähig erklärt worden war. Faktisch jedoch war allen Beteiligten klar, dass der Freispruch erfolgte, weil der Mord wegen des Völkermordes als gerechtfertigt erschien. Der Prozess nahm teilweise Züge eines Völkerrechtstribunals an.

An dem Prozess nahm als Zuschauer der Jurastudent Robert M.W. Kempner teil, der später Stellvertreter des amerikanischen Chefanklägers in den Nürnberger Prozessen wurde. Auch Raphael Lemkin, der maßgebliche Autor der UN-Völkermordkonvention von 1948, wurde durch den Berliner Prozess beeinflusst. Lemkin sah eine Lücke im damaligen Recht, weil er Selbstjustiz nicht für die richtige Antwort hielt.

Wer sich über die Details des Völkermordes näher informieren will und sich nicht scheut, seitenlange Berichte über das von Augenzeugen überlieferte bestialische Morden zur Kenntnis zu nehmen, dem sei das Buch sehr empfohlen.


Rolf Hosfeld, Tod in der Wüste. Der Völkermord an den Armeniern, München 2015, C.H. Beck Verlag, ISBN 978 3 406 67451 8, 24,95 Euro