Die theologische Aufrüstung 1933 bis 1945

Die mühsame Abrüstung

bundesarchiv_b_145_bild-f003951-0012_koeln_77._deutscher_katholikentag.jpg

Katholikentag in Köln (1956). Adenauer mit den Kardinälen Joseph Wendel (München-Freising, rechts) und Eugène Tisserant
Katholikentag in Köln (1956). Adenauer mit den Kardinälen Joseph Wendel (München-Freising, rechts) und Eugène Tisserant

GRAZ. (hpd) Die theologische, philosophische und literarische Aufrüstung für die beiden Weltkriege ist keinesfalls zu unterschätzen. Diese Kriege sind in Europa nicht plötzlich vom Himmel gefallen, vielmehr haben die kulturellen Eliten in allen beteiligten Ländern dafür intensive Vorarbeit geleistet.

Nach der intensiven geistigen Hochrüstung war die mentale Abrüstung bei den besiegten Völkern (Deutschland, Österreich, Italien) nach 1945 besonders schwierig. Die liberal und pazifistisch geprägten Gruppen hingen nie an der Kriegsideologie, ihnen fiel die Neuorientierung leicht. Extrem schwierig war das Umdenken für die Anhänger der NS-Ideologie, denn sie konnten lange Zeit gar nicht begreifen, dass ihr politischer Glaube falsch gewesen sein sollte. Die westlichen Siegermächte begannen, die geistige und moralische Umorientierung (reeducation) intensiv zu unterstützen. Die NS-Eliten wurden der "Entnazifizierung" unterzogen. Die Mehrheit der Laienchristen in beiden Kirchen trug nun die moralische und politische Neuorientierung ziemlich schnell mit, die Kleriker und Theologen brauchten zumeist länger. Denn nun wurden die bisherigen "Unwerte" der westlichen Zivilisation (Menschenrechte, Demokratie, Rechtstaat) zu neuen und tragfähigen Lebenswerten. [1]

Es entstanden wieder demokratische Parteien, teils auf christlicher, teils auf sozialdemokratischer und teils auf liberaler Basis. Die katholische Kirchenleitung folgte dieser Neuorientierung nur zögerlich. Alle Bischöfe der NS-Zeit blieben im Amt. Am 23. August 1945 veröffentlichten sie einen Hirtenbrief, in dem sie die Grundrechte jeder menschlichen Person anerkannten. Sie schrieben, die "gottlosen" Lehren der NS-Ideologie seien für die Verbrechen im Krieg verantwortlich. Doch dabei übersahen sie mit Absicht, dass diese Lehren gar nicht "gottlos", sondern immer auf eine "göttliche Vorsehung" bezogen gewesen waren. Sie schrieben weiter, viele gläubige Christen hätten sich von diesen Lehren verführen lassen, andere hätten bei den Verbrechen gleichgültig zugeschaut (wie die Bischöfe selbst). Doch eine kollektive Schuld für alle Deutschen sei abzulehnen, das sehe auch der Papst Pius XII. so. Eine persönliche Schuld treffe nur diejenigen, welche an den Verbrechen aktiv beteiligt gewesen seien oder die diese Verbrechen nicht verhindert hätten. [2]

Im Oktober 1945 traf sich in Stuttgart der Rat der Evangelischen Kirchen in Deutschland und legte ein öffentliches Schuldbekenntnis für das deutsche Volk ab. Die Evangelische Kirche stehe mit dem deutschen Volk in der gemeinsamen Verantwortung für alle Verbrechen der NS-Diktatur. Eine solche Erklärung wurde aber von den katholischen Bischöfen abgelehnt, denn eine Kollektivschuld sei nicht gegeben. Diese Bischöfe kritisierten ebenfalls die "Entnazifizierung" und die politische Umerziehung des Volkes von Seiten der westlichen Sieger.

Auch die "Bekennende Kirche" betonte ihre Solidarität mit dem deutschen Volk im Leiden und in der Schuld. Durch die Deutschen sei unsagbares Leiden über die Völker Europas gekommen, viele Christen hätten sich dem "Ungeist" der NS-Ideologie angeschlossen. Ein protestantischer "Bruderrat" bekannte 1947 in Darmstadt die politische Schuld des deutschen Volkes und den moralischen Irrweg der protestantischen Kirchen. [3]

Für viele katholische Laienchristen sprach der spätere Bundeskanzler Konrad Adenauer, als er 1946 in seinen Briefen schrieb, das deutsche Volk, der Klerus und die Bischöfe trügen große Schuld an den Verbrechen der Konzentrationslager. Viele Katholiken und der Klerus seien mit Begeisterung auf die NS-Propaganda eingegangen, man habe von 1933 an um die Konzentrationslager (Dachau) gewusst. Auch die Maßnahmen gegen Juden schon im Jahr 1933 und die Judenpogrome 1938 seien öffentlich geschehen; die Grausamkeiten der deutschen Truppen in Polen und Russland seien ebenfalls nicht geheim geblieben. Niemand könne sagen, man habe nichts von den Massenmorden gewusst. Die deutschen Bischöfe hätten mit klaren Worten dagegen vieles verhindern können, doch sie hätten es nicht getan. Wenn sie dafür ins Gefängnis gekommen wären, so wäre das durchaus keine Schande gewesen. [4]

Auf alle Fälle haben die meisten Laienchristen in beiden Kirchen den Prozess des politischen Umdenkens viel schneller vollzogen als viele Kleriker, Theologen und Prediger. Es waren vor allem selbständige Laienchristen, die mit Atheisten und Agnostikern den neuen demokratischen Staat aufgebaut und getragen haben, die das neue Grundgesetz (1948) mitformuliert und den Rechtsstaat eingerichtet haben. Die katholischen Bischöfe und nahezu alle Theologieprofessoren sind nach 1945 in ihren Ämtern geblieben; sie haben ihre alten Lehren nun nur mehr verdeckt weitergegeben. Erst auf dem II. Vatikanischen Konzil haben die katholischen Bischöfe weltweit die allgemeinen Menschenrechte und die Regeln der Demokratie anerkannt, aber nur für die Staaten, nicht für die Kirchenleitung selbst. Viele Kritiker sagen heute, die Bischöfe hätten mehrheitlich die Lernprozesse der Laienchristen auf dem Konzil erst nachgeholt. [5]

Erst später erklärten auch die französischen Bischöfe, die Presbyterianische Kirche in den USA und einzelne deutsche protestantische Landeskirchen ihre Mitschuld an der Ausgrenzung und Verfolgung der Juden. Der polnische Papst Johannes Paul II. bekannte am 12. März 2000 im Dom zu St. Peter in Rom zusammen mit den Kardinälen der Kurie öffentlich die Schuld der Kirchenleitung an der Verfolgung der Ketzer, der Hexen, der Häretiker und der Juden. Dieses Schuldbekenntnis sollte vor der ganzen Menschheit erfolgen und wurde über viele TV-Stationen in alle Welt übertragen. Doch der bayerische Kardinal Joseph Ratzinger schränkte dieses Schuldbekenntnis des Papstes sofort ein: es sei nicht vor der Menschheit, sondern nur vor Gott abgelegt worden. Nur Gott kenne die Herzen der Menschen. (So ähnlich hatte auch der mit dem Nationalsozialismus sympathisierende Bischof Alois Hudal argumentiert.) [6]

In der Zeit von 1945 bis 1960 sind wohl die meisten Kirchenchristen und Kulturchristen in Deutschland und Österreich bei den Zielwerten der europäischen Aufklärung angekommen, die sie so lange bekämpft hatten. Erst die jüngeren Theologen haben sich in dieser Zeit mehrheitlich offen zu den allgemeinen Menschenrechten und zur Demokratie bekannt. Sie fanden dieses Bekenntnis ja im Neuen Testament (Gal 3,28) oder in der stoischen Ethik des Paulus von Tarsos (Röm 12 bis 13). Emmanuel Levinas hat geschrieben, die Christen seien im Krieg einem infantilen "Gehorsamsglauben" gefolgt, doch nun seien sie daran, den erwachsenen "Verantwortungsglauben" wieder zu lernen. Viele Laienchristen, Kirchenchristen und Kulturchristen haben sich in diesem kulturellen Lernprozess auch vom alten Herrschaftschristentum bzw. dem Reichschristentum verabschiedet; nur Minderheiten der Bischöfe, der Kleriker und der Laien (Movimenti) halten heute noch daran fest. [7]

[1] E. Gatz, Die katholische Kirche in Deutschland 125–144.

[2] G. Denzler / V. Fabricius, Die Kirchen im Dritten Reich II. Frankfurt 1984, 58–63.

[3] G. Besier/G. Sauter, Wie Christen ihre Schuld bekennen. Stuttgart 1989, 62–65.

[4] R. Morsey/H.P. Schwarz (Hg.), Adenauer-Briefe 1945–1949. Berlin 1983, 170–174.

[5] A. Grabner-Haider, Das Laienchristentum. Geschichte und Gegenwart. Darmstadt 2006, 88–115.

[6] ebenda 101–120.

[7] ebenda 105–118. H.J. Höhn, Fremde Heimat Kirche. Freiburg 2012.