Interview mit Dr. Rolf Gössner von der Internationalen Liga für Menschenrechte

Edward Snowden oder das "Goldene Zeitalter der Überwachung"

Nach meiner Auffassung und der vieler Datenschutz- und Bürgerrechtsorganisationen ist dies ein abermaliger schwerwiegender und unverhältnismäßiger Eingriff in den Datenschutz und die Informationelle Selbstbestimmung, der mit der Bekämpfung schwerer Kriminalität nicht zu rechtfertigen ist. Ich hatte seinerzeit, beim ersten Anlauf, als betroffener Anwalt und Publizist Beschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht eingereicht und wir haben zusammen mit insgesamt 35.000 weiteren BeschwerdeführerInnen das erste Gesetz zu Fall gebracht. Das Gericht erklärte es für weitgehend grundrechtswidrig und nichtig; und sämtliche gigantischen Vorratsdatenspeicherungen bei den Providern, die die Kommunikationsdaten speichern müssen, mussten daraufhin gelöscht werden. Nun sehe ich mich gezwungen, wiederum Verfassungsbeschwerde gegen das neue Gesetz einzureichen – und ich hoffe, dass sich wieder zigtausende Betroffene anschließen werden.
 

Edward Snowden hat in einem Gespräch mit Glenn Greenwald gesagt, dass seine größte Angst die ist, "dass sich in den Vereinigten Staaten nichts ändern wird, dass die Enthüllung umsonst ist". Haben sich seine Befürchtungen bestätigt oder kann man das zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht beurteilen?

Da sieht es bislang leider recht düster aus - abgesehen davon, dass unser Wissen über die Dimensionen und Strukturen globaler geheimdienstlicher Überwachung gewachsen ist, dass unser Bewusstsein sich (hoffentlich) geändert und erweitert hat, und dass sich hieraus etwas Produktives entwickeln möge.

Auch wenn zum jetzigen Zeitpunkt die gesamte Lage und künftige Entwicklung noch nicht beurteilt werden kann, so ist doch bislang abzusehen, dass in den USA sich außer kleineren Reformen an der Substanz und Dimension des Informationskriegs der US-Geheimdienste nicht viel ändern wird; zumindest solange sich an den Gründen der Massenausforschung, an den geostrategischen, ökonomischen und militärischen Interessen der USA als imperialem Hegemon und Immer-noch-Weltpolizist nichts Grundsätzliches ändern wird.
 

Und wie sieht es in der Bundesrepublik aus?

Auch hier gibt es die eine oder andere Reform des Inlandsgeheimdienstes "Verfassungsschutzes" oder des Auslandsgeheimdienstes BND; doch trotz gigantischer Geheimdienst-Skandale im Zusammenhang mit NSU und NSA wagt sich an die Geheimsubstanz keine regierende Koalition (mit Ausnahme des links-grün regierten Thüringen, das zumindest das unkontrollierbare und kriminelle V-Leute-System des "Verfassungsschutzes" weitgehend abschaffen will).

Diese Geheimsubstanz ist schließlich dafür verantwortlich, dass Geheimdienste, die Demokratie und Verfassung schützen sollen, selbst demokratiewidrig sind. Warum? Weil sie, wie die ernüchternde Praxis zeigt, nicht wirklich demokratisch kontrolliert werden können und auch in einer Demokratie zu Verselbständigung und Machtmissbrauch neigen – Skandalbeispiele hierfür gibt es in der bundesdeutschen Geschichte leider mehr als genug und diese Skandale haben System.

Dafür verantwortlich sind Bundesregierungen und Parlamentsmehrheiten, die dieses Geheimsystem aufrechterhalten und wuchern lassen - trotz aller Gefährdungen des demokratischen Rechtsstaats und seiner Bürger, trotz millionenfacher Verletzung ihrer Freiheitsrechte und Privatsphäre.

Darüber hinaus soll der BND künftig sein Image als "Wurmfortsatz" der NSA, wie ihn Ex-NSA-Mitarbeiter Thomas Drake despektierlich nannte, loswerden und sich vom Großen Bruder emanzipieren und so aus der Krise auch noch gestärkt hervorgehen. So soll der Auslandsgeheimdienst, der mit seiner Auslandsaufklärung längst schon verfassungswidrig agiert (so Sachverständige im NSA-Untersuchungsausschuss des Bundestages), technisch, personell und finanziell gehörig aufgerüstet werden und etwa "soziale Netzwerke" wie Facebook und Twitter im Internet künftig in Echtzeit systematisch durchforsten und überwachen können.

Was wir gerade erleben ist also kein Insichgehen, kein Innehalten angesichts des ungeheuerlichen Massenüberwachungsskandals – im Gegenteil: Anstatt endlich die Menschen und Unternehmen vor geheimdienstlicher Ausforschung zu schützen, werden wir Zeugen eines fatalen Wettrüstens der Geheimdienste.
 

Bei der Medaillenverleihung bekräftigte die Präsidentin der Internationalen Liga für Menschenrechte, Prof. Dr. Fanny-Michaela Reisin: "Unsere Solidarität gilt zu aller erst dem Asylsuchenden Edward Snowden, der politischer Verfolgung ausgesetzt ist. (…) Gelebte Demokratie braucht größtmögliche Transparenz, transparente Demokratie braucht Whistleblower und Whistleblower brauchen menschenrechtlichen Schutz." Wie geht es Snowden im Exil? Was können wir tun um sicherzustellen, dass Snowden nicht ein noch schrecklicheres Schicksal widerfährt als der US-amerikanische Whistleblowerin Chelsea Elizabeth Manning die zu 35 Jahre Freiheitsentzug verurteilt wurde.

Derzeit verhandelt Snowdens Juristenteam mit den US-Behörden über eine mögliche Rückkehr in die USA. Was dabei herauskommen wird und wie verlässlich solche vorgerichtlichen Absprachen sind, lässt sich noch längst nicht absehen.

Der asylsuchende Edward Snowden, der durch US-Behörden politisch gnadenlos verfolgt wird, musste die bittere Erfahrung machen, dass die Bundesrepublik und alle anderen EU-Mitgliedsstaaten, die sich als demokratische Rechtsstaaten verstehen, das universell und im Grundgesetz verbriefte Menschenrecht auf politisches Asyl offenbar ihrer Vasallentreue zu den USA unterordnen. Edward Snowden musste sich also mit dem immer wieder befristeten Asyl in Russland zufrieden geben, das ihm bislang tatsächlich Schutz bietet, aber nicht ohne Auflagen gewährt worden ist.
 

Was fordert denn die Internationale Liga für Menschenrechte in dieser Frage?

Die Liga fordert die Gewährung sicheren Asyls für Edward Snowden. Dieser hat die von interessierter Seite lancierten Gerüchte, er wolle gar kein Asyl mehr in Deutschland, klipp und klar dementiert hat. Wir fordern außerdem freies Geleit für eine Vernehmung als sachverständiger Zeuge vor dem NSA-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags und als Belastungszeuge im Rahmen eines einzuleitenden Straf(ermittlungs)verfahrens gegen Bundesregierung und Geheimdienste, das die Liga zusammen mit Chaos Computer Club (CCC) und Digitalcourage mit ihrer Strafanzeige von Anfang 2014 zu initiieren versuchte und nach wie vor anstrebt. Alles selbstverständlich unter der Voraussetzung, dass Edward Snowden ausreichend Schutz vor Auslieferung an die USA oder vor Kidnapping durch US-Spezialkommandos gewährt wird.

Es ist unseres Erachtens höchste Zeit, das Whistlerblowing international und innerstaatlich endlich menschen- und völkerrechtlich wirksam zu verankern und zu schützen – zumal es im digitalen Zeitalter und in einer globalisierten Welt eine geradezu existentielle Bedeutung gewonnen hat. Wer geheime Macht, Machtmissbrauch und Menschenrechtsverletzungen aufdeckt und dabei seinem Gewissen folgt, erfüllt den demokratischen Kollektivanspruch der Bevölkerung auf Transparenz und Kontrolle. Solche Menschen mit Zivilcourage haben Anspruch auf gesellschaftliche Hilfe und rechtlichen Schutz vor politischer und strafrechtlicher Verfolgung – als "Dienstleister" im öffentlichen Interesse, als Verteidiger von Demokratie und Menschenrechten.
 

Das Interview führte Herbert Nebel für den hpd.

Dr. jur. Rolf Gössner ist Vizepräsident der "Internationalen Liga für Menschenrechte". Seit 2007 ist er stellv. Mitglied des Bremischen Staatsgerichtshofs sowie von 2007 bis 2015 Mitglied der staatlichen Deputation für Inneres der Bremischen Bürgerschaft (Landtag). Er ist Sachverständiger in Gesetzgebungsverfahren des Bundestages und diverser Landtage, Berater von Bürgerrechtsgruppen im In- und Ausland sowie Prozessbeobachter in politischen Verfahren.
Rolf Gössner ist seit 2000 Mitglied der Jury zur jährlichen Verleihung des Negativpreises "BigBrotherAward" an Firmen, Behörden und Politiker, die in besonderem Maße gegen den Datenschutz verstoßen und Mitglied im Kuratorium der "Internationalen Liga für Menschenrechte" zur Verleihung der Carl-von-Ossietzky-Medaille.
Er ist Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze zum Themenbereich "Innere Sicherheit" und Bürgerrechte, Mitherausgeber der Zweiwochenschrift "Ossietzky" sowie des "Grundrechte-Reports - Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland" (Fischer Verlag, Frankfurt/M.). Er wurde 2008 zusammen mit den Mitherausgebern des "Grundrechte-Reports" mit der Theodor-Heuss-Medaille für "vorbildliches demokratisches Verhalten, bemerkenswerte Zivilcourage und beispielhaften Einsatz für das Allgemeinwohl" ausgezeichnet. 2012 erhielt er die Auszeichnung mit dem "Kölner Karls-Preis für engagierte Literatur und Publizistik", und 2013 den "Bremer Kultur- und Friedenspreis".