Kolumne

Paris und die ganz normale Angst

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PARIS. (hpd) Fast ein Jahr hat hpd-Gesellschaftskolumnist Carsten Pilger in Paris gelebt, die Stadt der Liebe dabei lieben und hassen gelernt. Eher zufällig kehrte er für ein Wochenende an diesen Ort zurück, einen Monat nach den Anschlägen auf das Bataclan, das Stade de France und mehrere Bars. Ein Spaziergang zwischen Klimagipfel, Hysterie und dem Kaffee auf der Terrasse.

"Bienvenue à ceux qui viennent défendre cette planète"

Es tut mir leid, Paris, gekommen war ich nicht, um den Planeten zu verteidigen. Dass ich die vierzehnstündige, unbequeme Busfahrt für ein Wochenende Paris auf mich nehmen würde, hatte simplere, egoistischere Gründe: Ein Wiedersehen mit Freunden aus der Praktikumszeit. Ein Treffen, das bereits vor dem 13. November geplant war und das wir letztlich doch durchführten, obwohl natürlich nichts mehr so wie zuvor war. Auch wenn sich praktisch nichts für uns änderte, da niemand von uns bei den Anschlägen vor Ort war oder Freunde oder Bekannte verloren hat. Und doch beginnt der Unterschied zu anderen Anschlägen in dem Moment, wo man feststellt: Wäre ich vielleicht ein Jahr später zum Praktikum gekommen, wäre ich an diesem Abend unterwegs gewesen. Und: An den Orten, wo Menschen starben, war ich schon so oft unterwegs.

Terrassen-Rebell

Bin ich nun vielleicht doch unwissentlich nach Paris gekommen, um diesen Planeten zu verteidigen? Immerhin war nach dem 7. Januar "Je suis Charlie" die Losung, mit der sich jeder – wahlweise per Demonstration im echten Leben oder per Profilbildänderung – solidarisieren konnte. Im November dann Frankreich-Flaggen, die dazu geführt haben, dass jeder Facebook-Freund sich noch mehr ähnelte als vorher. In Paris selbst hängen immer noch einige davon an Fenstern und Balkonen, aber je näher es in die Ausgehviertel ging, desto häufiger war der selbstironische Spruch "Je suis en Terrasse" präsent. Ein Zeichen gegen die Angst setzen, indem man sich bewusst vor dem Café niederlässt und frech seinen Kaffee für sechs Euro trinkt – eben das gehört auch zu den Freiheiten, die der Pariser verteidigt. Tatsächlich hatte ich am Abend das Gefühl, dass erst der teure Alkohol und das gute, preiswerte Essen die Stadtbewohner die Schmerzen des Jahres 2015 vergessen lässt.

Liberté? Egalité?

Tagsüber sah das anders aus. An die permanente rote Vigipirate-Pyramide hatte sich mein Auge schon lange gewöhnt, auch auf Soldaten im Stadtbild. Neu waren die in einigen Kaufhäusern und Museen strenger gewordenen Kontrollen, die auf Metalldetektoren und das Öffnen der Mäntel setzte. Insgesamt schienen an einigen Stellen der Stadt, gerade im jüdisch geprägten Marais, weniger Menschen unterwegs als noch vor einigen Monaten. Jüdische Einrichtungen wurden bereits vor dem Januar schärfer bewacht, denn sie waren bereits länger im Fokus islamistischer Anschläge.

Auch der Ausnahmezustand trägt seinen Teil dazu bei, das Stadtbild zu ändern. Aufgrund des Weltklimagipfels hatten sich viele Umweltaktivisten ursprünglich nach Paris aufmachen wollen. Der dreimonatige "Etat d'urgence" machte Demonstrationen in einem legalen Rahmen unmöglich. Nur zwei kurze Male sehe ich, wie spontan in der Nähe des Rathauses mit Plakaten oder auf Fahrrädern im Zusammenhang mit COP21 demonstrieren. Einige Wochen zuvor sorgte die Durchführung einer verbotenen Demo zu einem Polizeieinsatz und Dutzenden Verhaftungen. Die Begründung, dass Menschenansammlungen ein potenzielles Ziel für Terroristen seien, würde auch mir einleuchten, wäre ich nicht auch an diesem Wochenende an mehreren Pariser Weihnachtsmärkten vorbeigekommen. Menschenansammlungen auch, aber eben mit kommerziellen, statt politischem Hintergrund.

Das Frankreich von morgen

Die zweite große Angst der Pariser erkannte ich beim Blick auf die Zeitungskioske oder Regale der Buchhandlungen. Die linke Wochenzeitschrift Marianne zeigte auf dem Titel eine Fotomontage: Marine Le Pen als Staatspräsidenten. Die Unterschrift: Es bleiben nur noch 18 Monate, um das hier zu verhindern. Bei den Comic-Neuerscheinungen liegt "La présidente" von François Durpaire und Farid Boudjellal, der die ersten 100 Tage nach Le Pens Wahl zur Präsidentin 2017 zeigt. Eine Dystopie, noch. Überall in der Stadt hingen Plakate für den zweiten Wahlgang der Regionalwahlen. In fast allen, neu zugeschnittenen, Regionen schnitt der rechtsextreme Front National gut ab. In sechs Regionen landete er auf dem ersten Platz. Kurz nach meiner Abfahrt sollte ich mitbekommen, dass er erneut leer ausging.

Was mir ein kleiner Trost zum Abschied war: Nicht nur die Pariser, die sich gerade vor ihren Haustüren von der Trauer ab und dem Trotz zuwenden. Vor dem "Petit Cambodge" dekorierten am Sonntag Anwohner ihr Viertel mit farbigen Girlanden, um wieder Freude in ihre Heimat zu bringen. Eine lobenswerte Initiative, die ganz sicher dazu beiträgt, dass diesen Planeten zu verteidigen. Auch wenn seine Bewohner manchmal nicht wissen, wozu überhaupt.