Warum eine Debatte über das Verhältnis von Religion und Sexualität überfällig ist

Sexuelle Zwangsneurosen

Die Antwort hierauf mag vielleicht nicht jedem gefallen, ist aber bestens belegt: Es hat sich gezeigt, dass Sex nicht nur der Motor der biologischen Evolution ist, sondern auch eine der entscheidenden Triebkräfte der kulturellen Evolution. Eben deshalb sollte man in der Kontrolle der Sexualität nicht bloß einen Nebenaspekt religiöser Herrschaft sehen, sondern eine ihrer zentralen Stützen.

Dass die Sexualität eine solch entscheidende Rolle in Natur und Kultur spielt, hatten Forscher seit langem schon vermutet – man denke etwa an die wegweisenden Arbeiten von Sigmund Freud oder Wilhelm Reich. Doch handfeste Belege hierfür wurden erst in den letzten Jahren im Rahmen der evolutionsbiologischen Forschung geliefert, wo etwa Mitte der 1970er Jahre ein regelrechter "Paradigmenwechsel” eingeleitet wurde.

Über lange Zeit hinweg hatten Evolutionstheoretiker den "Kampf ums Dasein” vornehmlich im Sinne eines "Überlebens der (an die Umwelt) am besten Angepassten” ("Survival of the Fittest”) interpretiert, obgleich schon Darwin mit seinem zweiten evolutionstheoretischen Hauptwerk Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl eine fruchtbare zweite Perspektive eröffnet hatte. Mit dem Hinweis auf "geschlechtliche Zuchtwahl” (heute würde man sagen: das "Prinzip der sexuellen Selektion”) hatte Darwin klar gemacht, dass das Überleben des Erbmaterials eines Individuums keineswegs allein davon abhängig ist, ob es sich gegen Fressfeinde durchsetzen oder Feinden entfliehen kann. Mindestens ebenso bedeutsam ist es nämlich, ob das paarungsbereite Individuum potentiellen Sexualpartnern attraktiv erscheint.

Damit hatte Darwin den "Kampf ums Dasein” gewissermaßen um den "Kampf der Geschlechter” ergänzt. Er hatte erkannt, dass nur das Prinzip der sexuellen Selektion erklären konnte, warum sich Pfauenmännchen mit prächtigen Federn schmücken, obwohl dies wertvolle Ressourcen verschlingt und auch bei der Flucht vor Feinden überaus hinderlich ist. Der hier aufscheinende Gegensatz zwischen den Prinzipien der sexuellen Selektion (also dem genetischen Überleben der Attraktivsten) und der natürlichen Selektion (dem Überleben der Bestangepassten) bereitete einigen Generationen von Evolutionstheoretikern arge Kopfschmerzen. Erst mithilfe der Soziobiologie, der vierten Stufe in der Entwicklung der modernen Evolutionstheorie1, konnte dieses Rätsel befriedigend gelöst werden.

Unter soziobiologischer Perspektive ist es nämlich völlig einsichtig, warum Pfauenweibchen ausgerechnet auf Männchen mit prächtigem Federkleid stehen. Warum? Weil sich nur besonders gesunde Männchen den "Luxus”, das "sexy Handicap”, eines prächtigen Federkleids leisten können. Um den Fortbestand der eigenen Gene in den nächsten Generationen zu sichern, ist das Weibchen also gut beraten, sich den attraktivsten, stolzesten Pfau vor Ort zu angeln, sodass dessen Gene dem eigenen Nachwuchs zugute kommen können.

Dass das "Handicap-Prinzip”, sprich: die Erhöhung der eigenen sexuellen Attraktivität durch das Signalisieren teurer, d.h. auf den ersten Blick für die eigene Selbsterhaltung unnötiger Merkmale, auch beim Menschen von großer Bedeutung ist, haben u.a. Matthias Uhl und Eckart Voland in ihrem amüsanten Buch Angeber haben mehr vom Leben aufgezeigt2. Tatsächlich hätte sich wohl kein Mensch je mit Religion, Philosophie oder Kunst beschäftigt, wenn dies nicht auch mit sexuellen Selektionsvorteilen verbunden gewesen wäre. Dies bedeutet keineswegs, dass es etwa bei der Entwicklung der Existentialphilosophie, der Sonatenhauptsatzform, der Dreifaltigkeitslehre oder der impressionistischen Malerei "nur um Sex gegangen wäre”, aber: Ohne die Prinzipien der sexuellen Selektion hätte es zu solchen kulturellen Entwicklungen gar nicht erst kommen können. Das Prinzip der sexuellen Selektion bildet also gewissermaßen die biologische Basis, die den kulturellen Überbau überhaupt erst entfalten lässt.

Selbstverständlich waren den diversen Religionsgründern und ihren Anhängern solche Zusammenhänge nicht bekannt, aber sie hatten doch (unbewusst) ein gutes Gespür für die enorme kulturelle Bedeutung der Sexualität, was wiederum den besonderen Stellenwert sexueller Normen innerhalb der religiösen Regelsysteme erklärt. Dass diese sexuellen Normen sowohl in der Bibel/Thora als auch im Koran patriarchalen, polygynen3 Mustern folgten, d.h. dass sie darauf angelegt waren, hinreichend vermögenden Männern das Recht einzuräumen, gleich mehrere Frauen zu "besitzen”, muss uns nicht verwundern. Etwas anderes wäre vor dem Hintergrund unserer biologischen Grundausstattung4 sowie der damals vorherrschenden soziokulturellen Rahmenbedingen auch kaum möglich gewesen. Schließlich entstammten diese Sexualnormen orientalischen Hirtenkulturen, die nicht nur eine starke Diskrepanz zwischen Arm und Reich aufwiesen, sondern auch ein hohes, kriegsbedingtes Defizit an Männern.

Daher ist es keineswegs erstaunlich, dass die Bibel von König Salomon berichtet, er habe über 700 Ehe- und 300 Nebenfrauen verfügt. Jahrhunderte später begrenzte Mohammed die Standardzahl der Ehefrauen pro Mann auf höchstens vier, wobei er sich selbst jedoch einen etwas größeren Harem von zehn Ehefrauen und zwei Konkubinen zugestand. Dass dieser Anspruch des "Propheten” verhältnismäßig bescheiden war, zeigt ein Vergleich mit dem Serail über dem Goldenen Horn. Dort lebten nämlich zeitweise mehr als eintausend Frauen, strengstens bewacht von eigens dazu abgestellten Eunuchen, die garantierten, dass nur ein fortpflanzungsfähiger Mann diese Frauen beehrte: der osmanische Sultan.5

Es ist nicht verwunderlich, dass sich die sexuellen Normen der abrahamitischen Religionen vor dem Hintergrund solcher soziokulturellen Rahmenbedingungen auf "männliche Besitzstandswahrung” konzentrierten. Deshalb wurden "sexuelle Delikte” wie Ehebruch in den entsprechenden religiösen Regelwerken so scharf geahndet. Dies ist auch der Grund, warum wir in den jeweiligen "heiligen Schriften” bzw. in der auf sie aufbauenden theologischen Literatur so viele präventive Mittel finden, die einen möglichen Seitensprung der Frauen von vornherein verhindern sollen. Viele dieser traditionellen Präventionsmittel finden bekanntlich auch heute noch Verwendung, etwa das Kopftuch bzw. die Vollverschleierung, mit deren Hilfe die ach so gefährlichen weiblichen Reize verdeckt werden sollen, die rigide Trennung der Geschlechter oder (besonders drastisch) die bis heute virulente Unsitte der Klitorisverstümmelung.

Als nun diese orientalischen Sexualnormen im Zuge der Ausbreitung des Christentums auf den europäischen Kontinent übertragen wurden, gingen zwar deren polygyne Züge verloren (in den bäuerlichen Kulturen des frühen Mitteleuropas mussten Mann und Frau gemeinsam für den oft kärglichen Lebensunterhalt sorgen, was eher monogame Paarbildungen begünstigte), der patriarchale Charakter der religiösen Sexualmoral blieb jedoch selbstverständlich erhalten. Ja, man muss sogar sagen, dass die bereits im Judentum und Islam kultivierte Angst vor der starken Frau im mittelalterlichen Christentum durch die zwanghafte Assoziation des Weiblichen mit Lust, Schmutz und Teufel noch weiter gesteigert wurde – einer der vielen Gründe für die verheerenden Hexenverfolgungen in Europa.

Doch letztlich war die Emanzipation der Frau, die der Emanzipation des Bürgertums folgte, nicht aufzuhalten. Und so feierte die Frauenbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts ihre ersten großen Erfolge. Immer mehr Frauen begannen, ihre Stellung in Familie und Gesellschaft kritisch zu reflektieren. Zudem wurde es dank der Ende der 1960er Jahre einsetzenden "sexuellen Revolution” auch hierzulande leichter, unbefangen über die eigenen erotischen Vorlieben zu sprechen. So mussten sich auch Schwule, Lesben, Bisexuelle, Transsexuelle, Swinger etc. nicht länger verstecken, sondern traten immer selbstbewusster ans Licht der Öffentlichkeit. Dabei war die Geschwindigkeit dieses gesellschaftlichen Veränderungsprozesses gerade in den letzten Jahrzehnten atemberaubend: Ein Bekenntnis wie das des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Klaus Wowereit, ("Ich bin schwul – und das ist auch gut so!”) wäre nur wenige Jahre zuvor einem politischen Genickbruch gleichgekommen.

Bislang wurde nur wenig reflektiert, welche Rückwirkungen diese – alles in allem – überaus erfolgreiche Geschichte der sexuellen Befreiungsbewegungen auf die Glaubensfestigkeit der Menschen hierzulande hatte. Ich wage zu behaupten, dass die "sexuelle Revolution” den traditionellen Religionen letztlich einen weit empfindlicheren Schlag noch versetzte als alle akademischen religionskritischen Schriften der letzten Jahrhunderte zusammengenommen. Dass die Kirchenaustritte seit Ende der 1960er Jahre so dramatisch zunahmen, ist sicherlich nicht zuletzt auf die gleichzeitig einsetzende und immer weiter voranschreitende "Kritik des Unterleibs” zurückzuführen, die die traditionelle Kritik der Vernunft auf höchst wirkungsvolle Weise unterstützte.

Allerdings wäre es grundverkehrt, würde man sich heute mit dem Erreichten zufrieden geben und die "sexuelle Revolution” für "erfolgreich beendet” erklären. Es gibt viele gute Gründe, die deutlich dagegen sprechen, nun die Hände in die von religiösen Ansprüchen offenbar weitgehend befreiten Schöße zu legen. Ich möchte hier nur drei Punkte nennen:

Erstens: Wir sollten nicht übersehen, dass dem in sexueller Hinsicht verhältnismäßig (!) aufgeklärten Mitteleuropa weite Teile der Welt gegenüberstehen, die immer noch von einer rigiden sexuellen Zwangsmoral beherrscht werden. In einer Welt, in der sog. "Ehebrecherinnen” oder Homosexuelle tagtäglich um ihr Leben fürchten müssen, hat die sexuelle Revolution nicht einmal ihr erstes Etappenziel erreicht.

Zweitens: Auch Mitteleuropa wird zunehmend zum Missionsgebiet religiös inspirierter Initiativen zu einer "sexuellen Gegenrevolution”. Stichwortgeber hierfür sind nicht nur umtriebige islamische Fundamentalisten, die wohl nicht Ruhe geben werden, bevor auch noch die letzte Frau auf Erden ordnungsgemäß verhüllt ist, sondern auch christliche Eiferer, die mit Hetzkampagnen gegen Schwule, gegen Empfängnisverhütung und Schwangerschaftsabbruch, mit Initiativen für "Keuschheit”, "Sittlichkeit” und traditionelle Geschlechtsrollenmodelle das Rad der Geschichte in ihrem Sinne zurückdrehen wollen.

Drittens: Einige der ursprünglich religiös codierten Sexualnormen haben leider auch in vielen säkularen Köpfen überlebt. Und so kann man altbackene Geschlechterrollenstereotype, längst überkommene "Sittlichkeits”-Vorstellungen, mitunter sogar ausgewachsene Formen von Homophobie, auch in der säkularen Szene allzu häufig anzutreffen. "Freie Liebe für freie Geister?” – das mag ein guter Slogan für eine säkulare Aufklärungskampagne sein, aber mit der Realität hat dies leider, wenn man etwas genauer hinschaut, nur relativ wenig zu tun.

Um nicht gleich missverstanden zu werden (und ich weiß, dass einige konservativere Humanismustheoretiker dies gerade bei diesem Thema mit Vorliebe tun): Mit "freier Liebe” meine ich keineswegs jenen "Hegelianismus des Unterleibs”, von dem sich einige 68er die "Weltrevolution per Orgasmusreflex” erhofften. Es geht hier auch nicht um die zwanghafte Vorstellung einer "Promiskuität um jeden Preis” ("Wer zweimal mit der gleichen pennt, gehört schon zum Establishment”).

Wenn die Begriffe "freie Liebe” und "selbstbestimmte Sexualität” Sinn machen sollen, so doch nur, wenn damit gemeint ist, dass jedes Individuum prinzipiell – die Zustimmung der jeweiligen Sexualpartner vorausgesetzt – das Recht hat, seine Vorstellungen von Liebe und Sexualität so zu verwirklichen, wie er oder sie sich dies für sein bzw. ihr Leben vorstellt. "Freie Liebe” kann also selbstverständlich auch bedeuten, dass man sich aus freien Stücken für monogame, heterosexuelle Zweisamkeit entscheidet. Nur: In einer "offenen Gesellschaft” gibt es wahrhaft keinen einzigen vernünftigen Grund dafür, dieses spezielle Partnerschaftsmodell einseitig zu privilegieren oder gar den moralischen oder juristischen Zeigefinger zu erheben, nur weil andere Menschen nun einmal andere Lebensformen (etwa homosexuelle, bisexuelle, polygame, autoerotische, virtuell-erotische oder asexuelle) vorziehen!

Von einer solch toleranten, liberalen Leitidee sind religiöse Fundamentalisten bekanntlich am allerweitesten entfernt. Es wird daher notwendig sein, ihrem Missionseifer mit aller Entschiedenheit entgegenzutreten und die errungenen Freiheiten – gerade auch auf sexuellem Gebiet! – unerschrocken zu verteidigen. Möglicherweise ist es ja kein Zufall, dass die Frage "Bist du schon aufgeklärt?” eine so starke sexuelle Komponente enthält. Jedenfalls sollten wir nicht aus den Augen verlieren, dass der sog. "Kampf der Kulturen” nicht zuletzt auch ein Kampf um sexuelle Selbstbestimmungsrechte ist.

Machen wir uns also stark für eine Welt, in der mutige Menschen wie Mina Ahadi nicht mehr von der Wut gepackt werden, wenn das Stichwort "Sex” fällt. Die aus der Türkei stammende Journalistin Arzu Toker, Ex-Muslimin und Islamkritikerin wie Ahadi, zeigte kurz nach dem Workshop "Let’s talk about sex!” ganz praktisch auf, in welche Richtung es gehen könnte. Nachdem die anwesenden Fotografen einige Bilder geschossen hatten, knüpfte sie sich und ihrer iranischen Mitstreiterin die beiden oberen Knöpfe der Bluse auf und rief den Fotografen frech-unfromm-fröhlich zu: "Und jetzt bitte noch ein Bild für unsere ganz speziellen Freunde – die Mullahs…”

Anmerkungen:

1 vgl. hierzu Schmidt-Salomon, Michael: Auf dem Weg zu einer "Einheit des Wissens”? Anmerkungen zur Geschichte der Evolutionstheorie sowie zur notwendigen Überwindung biologistischer und kulturistischer Denkmodelle. In: Aufklärung und Kritik 2/2006.

2 Uhl, Matthias / Voland, Eckart: Angeber haben mehr vom Leben. Heidelberg 2002.

3 Zur Erläuterung: In polygynen Kulturen lebt ein Mann mit mehreren Frauen zusammen, in polyandrischen Kulturen eine Frau mit mehreren Männern. Es ist sehr auffällig, dass es in der Geschichte der Menschheit weit mehr polygyne als polyandrische Kulturen gab: 16 Prozent aller bekannten Kulturen pflegten die Monogamie, 83 Prozent die Polygynie und weniger als 1 Prozent die Polyandrie.

4 Der biologische Unterschied zwischen typisch männlichen und typisch weiblichen Sexualstrategien lässt sich folgendermaßen formulieren: Da Männchen eine ungeheure Menge von Samenzellen produzieren, sind sie darauf aus, sich mit möglichst vielen Weibchen zu paaren, um ihr Genmaterial weiterzugeben. Weibchen hingegen produzieren relativ wenige fruchtbare Eizellen und müssen daher versuchen, Männchen an sich zu binden, um mit ihnen das Überleben der Nachkommen zu sichern. Entgegen alter Vorurteile bedeutet dies übrigens nicht, dass Weibchen notwendigerweise "treuer” sind als Männchen. Jedoch zielen sie im Unterschied zu den Männchen eher auf eine hohe Qualität, nicht auf eine hohe Quantität ihrer Sexualpartner. Obgleich beim Menschen derartige biologische Sexualstrategien kulturell überformt sind, lassen sie sich auch im Falle unserer Spezies statistisch signifikant als grundlegende Verhaltenstendenzen nachweisen.

5 vgl. Dörrzapf, Reinhold: Eros, Ehe, Hosenteufel. Eine Kulturgeschichte der Geschlechterbeziehungen. Frankfurt/M. 1995, S. 71ff.