Auch die Behandlungswünsche eines einsichtsfähigen Minderjährigen sind zu beachten

Gilt die Patientenverfügung eines Minderjährigen?

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BERLIN. (hpd) Der Bundesgerichtshof hat 1958 entschieden, dass ein Minderjähriger das Recht hat, einem medizinischen Eingriff zuzustimmen oder diesen abzulehnen, "wenn der Minderjährige nach seiner geistigen und sittlichen Reife die Bedeutung und Tragweite des Eingriffs und seiner Gestattung zu ermessen vermag." Diese Erkenntnis hat bei der Regelung der Patientenverfügung keine Berücksichtigung gefunden. Denn nach der Regelung des § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB ist Voraussetzung für die Errichtung einer Patientenverfügung die Volljährigkeit des Betroffenen. In der Gesetzesbegründung sucht man vergeblich nach einer Argumentation für diese Einschränkung des Anwendungsbereichs der Patientenverfügung.

Das deutsche Recht unterscheidet sich damit wesentlich von den Regelungen seiner Nachbarstaaten, in denen auch Minderjährige eine verbindliche Patientenverfügung errichten können. In Österreich wird bei einem normal entwickelten mündigen Minderjährigen ab 14 Jahren die Einsichts- und Urteilsfähigkeit in die Tragweite einer antizipierten Patientenerklärung vermutet, so dass der einsichtsfähige Minderjährige eine Patientenverfügung errichten kann (§ 3 PatVG). Dies gilt auch in der Schweiz, die in Art. 370 ZGB lediglich die Urteilsfähigkeit, aber nicht die Volljährigkeit zur konstitutiven Bedingung einer Patientenverfügung erklärt.

Können demnach in Deutschland einwilligungsfähige Minderjährige keine verbindlichen Entscheidungen über ärztliche Behandlungen am Lebensende treffen? Ist ein antizipiert erklärtes Behandlungsverbot eines einwilligungsfähigen Minderjährigen unbeachtlich? Muss der behandelnde Arzt mit straf- und standesrechtlichen Sanktionen rechnen, wenn er die "Patientenverfügung" eines Minderjährigen als Behandlungsmaßstab heranzieht? Machen sich umgekehrt der Arzt und die Eltern wegen Körperverletzung strafbar, wenn sie sich über die Behandlungsablehnung des Minderjährigen hinwegsetzen? Wie kann dem verfassungsrechtlich garantierten Selbstbestimmungsrecht des Minderjährigen als auch dem Personensorgerecht der Eltern Rechnung getragen werden?

Dass es sich bei diesen Fragen nicht um ein akademisches Problem handelt, zeigen die zahlreichen tragischen Erkrankungen Jugendlicher und die damit erforderlichen Entscheidungsfindungen.

Vorrang des elterlichen Sorgerechts?

Der Betreuer oder Vorsorgebevollmächtigte eines Volljährigen hat die gesetzliche Pflicht, einer Patientenverfügung Geltung zu verschaffen. Für die Eltern eines minderjährigen Kindes besteht eine solche Verpflichtung zunächst nicht. Die Eltern haben kraft Gesetzes für ihre Kinder das Sorgerecht, das sie nicht missbräuchlich ausüben dürfen (§ 1666 BGB). Bei der Ausübung des Sorgerechts sind die wachsenden Fähigkeiten und Bedürfnis des Kindes zu einem selbstständigen und verantwortungsbewussten Handeln zu berücksichtigen (§ 1626 Abs. 2 BGB).

Die Eltern sind nicht einschränkungslos verpflichtet, einen Behandlungswunsch ihres einwilligungsfähigen Kindes zu beachten, wenn dieses Kind später nicht mehr einwilligungsfähig ist. Die Beachtung einer schriftlichen Behandlungsverfügung eines einwilligungsfähigen Minderjährigen verbietet das Gesetz den Sorgeberechtigten aber nicht. Eine antizipierte Behandlungsverfügung des Minderjährigen ist keine Patientenverfügung im Rechtssinne, so dass die entsprechenden gesetzlichen Regelungen keine Anwendung finden.

Wille des Minderjährigen ist beachtlich

Es besteht in der juristischen Literatur Einigkeit, dass Behandlungswünsche einwilligungsfähiger Minderjähriger auch am Lebensende beachtlich sind. Dieses Ergebnis wird auf unterschiedlichen Wegen gewonnen. Es wird eine analoge Anwendung der §§ 1901a ff BGB auf Minderjährige verlangt, eine verfassungskonforme Auslegung der Regelungen über die Patientenverfügung vorgenommen oder es erfolgt eine Herleitung über die Regelungen zum Kindeswohl. Die Rechtsprechung hatte bisher keine Gelegenheit sich hiermit auseinanderzusetzen. Für den Minderjährigen und seine Familie sind diese juristischen Feinheiten nicht ausschlaggebend. Für die Beteiligten ist allein maßgeblich, dass Behandlungsvorgaben von Minderjährigen beachtlich sind und deren Berücksichtigung auch rechtlich durchgesetzt werden kann.

Wenn dem Minderjährigen für die konkrete Behandlungssituation und das spezifische Krankheitsbild Einwilligungsfähigkeit zuzusprechen ist, sind Entscheidungen Dritter nicht maßgeblich; es kommt nach richtiger Ansicht dann allein auf die Einwilligung des Minderjährigen an, hinter die auch das in Art. 6 Abs. 2 des Grundgesetzes garantierte Sorge- und Stellvertretungsrecht der Eltern zurücktritt.

Weitere Voraussetzungen für eine wirksame antizipierte Erklärung des Minderjährigen existieren neben der Einwilligungsfähigkeit nicht. Dem Minderjährigen ist aber zu empfehlen, seine Behandlungswünsche – ggf. nach ärztlicher und juristischer Aufklärung - schriftlich zu verfassen und zu hinterlegen.

Was geschieht, wenn die Eltern nicht bereit sind, die Behandlungserklärung des Minderjährigen zu respektieren und etwa den Arzt anweisen, sich über die Entscheidung des Minderjährigen hinwegzusetzen? In diesem Fall muss das Gericht entscheiden, das von den Eltern, dem Arzt, der Familie oder Dritten angerufen werden kann. Durch eine dem Kindeswohl dienende gerichtliche Ersetzung der notwendigen elterlichen Entscheidung kann dem Willen des Minderjährigen Geltung verschafft werden. Bei dieser Entscheidung sind das Selbstbestimmungsrecht des Minderjährigen, das Recht der Personensorge der Eltern und sonstige Belange miteinander abzuwägen.

Ausblick

Auch Minderjährige können also ihre Behandlungsvorgaben verbindlich festlegen. Um diese Diskussionen künftig zu vermeiden und um Rechtsklarheit und Rechtssicherheit zu gewährleisten, sollte der Gesetzgeber klarstellen, dass auch Minderjährige eine wirksame Patientenverfügung errichten können.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift "Humanes Leben Humanes Sterben" (HLS 2016-3)