Gedanken zur intellektuellen Unredlichkeit von Rosinenpickern

Ist Glaube ohne Kreationismus ehrlich?

Doch warum geht "Gott" dieses Risiko ein? Man bedenke, dass die Erschaffung des Universums, der Erde und des pflanzlichen und tierischen Lebens nur dem Zweck dienen sollte, dem Ebenbild "Gottes" Raum (Universum), Zeit (Sonne und Mond), Lebensraum (Erde) und Nahrung (Pflanzen und Tiere) zu geben. Folglich hätte "Gott" nach Thielicke das Universum für ein unkalkulierbares Risiko namens "Mensch" erschaffen. Doch warum? Der Theologe versuchte eine Antwort, als kenne er die Gedanken "Gottes": "In diesem Wagnis Gottes, durch das er sich an den Menschen bindet und sich der Möglichkeit aussetzt, von ihm geschmäht, missachtet, verleugnet, übersehen zu werden, in diesem Wagnis blitzt zum ersten Male seine Liebe auf." (S. 33) Das also ist es, dafür – so Thielicke weiter – musste Jesus als Vollender dieses Weges sterben: "Gott" baute das gesamte Universum, um sich selbst (wem sonst?) zu beweisen, dass er zur Liebe fähig ist. Dafür hat er den Menschen erschaffen, den er, sofern er "Gottes" Liebe nicht erwidert, genüsslich vernichtet oder vernichten lässt. Sogar am Ende seinen eigenen Sohn! Narzisstischer hätte eine Figur nicht konstruiert werden können.

Das ist der völlig vom Bibeltext abweichende Notausgang, den sich dieser Theologe im Einklang mit vielen anderen seiner Zunft zurechtgezimmert hat, um mit der Brüchigkeit in der Genesis keinen Schiffbruch erleiden zu müssen. Denn diese muss ihm aufgefallen sein: "Ich glaube nicht, dass es nur Einbildung ist, wenn ich meine: An dieser Stelle der Schöpfungsgeschichte, wo das Thema ‘Mensch’ zum ersten Mal auftaucht, gibt es so etwas wie eine Stockung im Fluss der Erzählung." (S. 32) Was er entdeckte, ist die Tatsache, dass die Erschaffung des Menschen (sowie die gesamte Schöpfung) in der Genesis zweimal berichtet wird. Erst Mann und Frau als gleichwertig. Doch 13 Verse später wird der Mann (Adam) erneut (?) geschaffen, dem Eva aus der Rippe geschnitzt wird.

Das ist jedoch keine "Stockung", sondern dem Faktum geschuldet, dass die gesamte Bibel aus vielen unterschiedlichen Quellen zusammengeschustert wurde. Die Kompilierer des Tanach in Babylon hatten keine Ahnung, welche Texte "authentisch" waren und welche nicht. Deshalb haben sie alles zusammengeschoben, nach dem Motto: Es wird schon was Richtiges dabei gewesen sein. Damals kannte niemand einen Schlüssel zur "Wahrheit" – heute kennt man ihn noch viel weniger. Deshalb schwurbeln Theologen heute ohne rechten Plan in der Gegend herum, versuchen zu retten, was nicht mehr zu retten ist, wollen den toten Gaul "Bibel" noch immer reiten, weil doch früher alle so schön daran geglaubt hatten. Doch seit die Wissenschaft uns die Welt erklärt und nicht mehr die Hirten aus dem vorderen Orient, ist es mit der der Bibel angeblich innewohnenden Wahrhaftigkeit vorbei.

So schrieb z.B. der Professor für Zoologie Joachim Illies 1972 in seinem Buch "Die Sache mit dem Apfel" (Freiburg im Breisgau): "Für viele der Bibel fernstehende Zeitgenossen werden diese alten Geschichten zusammen mit den Sagen und den Märchen nur noch den Wert von Kindheitserinnerungen haben: ja, das glaubte man einmal, als Märchen noch Wirklichkeit waren. Aber heute, in wehmütigem Rückblick auf jene Zeiten, belächelt man solche Erzählungen, die doch so wenig in unsere nüchterne, wissenschaftlich-technische Welt passen und die schließlich nur noch als Quelle für allegorische Vergleiche, für Festredner und Witzblattzeichner weiterleben." Man spürt förmlich die Wehmut des Autors, der damals auch Vorstandsmitglied der Paulus-Gesellschaft war, in der sich christliche Theologen und Naturwissenschaftler begegnen. Joachim Illies drückt in seinen Büchern bemerkenswerterweise genau jene Problematik aus Sicht der Religion aus, dass nämlich Wissenschaft deren Allerheiligstes in den Bereich von Kindermärchen verbannte. Tiefer hätte ein kultureller Fall nicht enden können.

So beschwert er sich in "Adams Handwerk" (Hamburg 1967) bitterlich: "Wir leben in einer Zeit, die wie nie eine Epoche vor ihr wissenschaftsgläubig ist. Mediziner und Naturforscher halten die Fäden des Schicksals für das Leben des Einzelnen und für die Existenz der ganzen Menschheit in ihren Händen, und so ist es nur folgerichtig, daß sie das Sozialprestige genießen, welches in klassischer Zeit den Priestern und Königen gezollt wurde. […] Doch mischen sich in die berechtigte Bewunderung, die unsere Zeit den Erfolgen der Wissenschaft und Technik entgegenbringt, auch schrille Töne, die an die Anbetung eines Götzen erinnern. Und dem aufmerksamen Beobachter wird die uneingeschränkte Vorherrschaft, zu welcher der sogenannte Siegeszug der Wissenschaft geführt hat, zum Abbild jenes biblischen Tanzes um das Goldene Kalb, das – dort wie hier – einer entgötterten Welt ein neues, lebenswertes Zentrum zu geben sich unterfängt." (S. 31f.) Es geht also bis heute für weite Teile des Klerus nicht um ein Miteinander von Wissenschaft und Religion, sondern um die Verteufelung neuer Erkenntnis, da sie gottlos sei. Daher der verständliche und fast rührige Versuch tiefgläubiger Menschen, zu retten, was zu retten ist.

Seit diese Verwerfungen die religiöse Welt aufgerüttelt haben, entstanden viele Spielarten und Abstufungen des Glaubens; aufgesplittert in viele Sekten, die alle nur noch ein Nenner verbindet: Sie glauben an den Gott Abrahams, dessen Stimme Hirten der vorderasiatischen Bronzezeit glaubten vernommen zu haben. Bezüglich der Einwirkungen dieses Gottes auf die Entstehung des Universums und des Lebens auf der Erde gibt es jedoch mittlerweile innerreligiös fast so viele Überzeugungen wie Gläubige. In Europa überwiegen dabei die, die angeblich vom Kreationismus abgeschworen haben. In den USA indes gibt es deutlich mehr beinharte Kreationisten, wie z.B. Kenneth Ham in Kentucky im amerikanischen "Bible-Belt" zeigt. In seinem "Creation Museum" will er seinen unbedarften Besuchern mit einem Riesenaufwand den Junge-Erde-Kreationismus nahebringen. Der "Bible-Belt" scheint hier besonders eng um das Gehirn gezogen zu sein.

Doch ist die Negierung oder zumindest Relativierung der Schöpfungslehre durch moderate Christen überhaupt redlich? Darf man sich bestimmte Rosinen aus der „heiligen" Schrift herauspicken, nur weil man andere als mittlerweile verdorben ansieht? Oder inzwischen als schon immer verdorben anerkennt? Falls die Bibel wirklich das Wort Gottes sein sollte – und nur so macht sie als sakrosanktes kanonisiertes Buch einen Sinn – dann ist sie in ihrer Gänze das Wort Gottes; so, wie es die Zeugen Jehovas - und Muslime für ihren Koran - bis heute unverbrüchlich glauben. Aber dann müssten alle, die an Gott und sein Wort glauben, Kreationisten sein. Oder wie wäre es mit dem Selbstverständnis einiger nichtkreationistischer Rosinenpicker zu vereinbaren, wenn deren Vertreter zwar an Gott und sein offenbartes Wort glauben, gleichzeitig aber davon ausgehen, dass ausgerechnet die Bibel mit einer Lüge beginnt?

"Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde." (1. Mose 1,1) "Dann sprach Gott: Das Wasser wimmle von lebendigen Wesen, …" (1. Mose 1,20) "Dann sprach Gott: Das Land bringe alle Arten von lebendigen Wesen hervor, …" (1. Mose 1,24) "Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, …" (1. Mose 1,26) Antwort 1: Die Genesis ist beinhart erstunken und erlogen. Von Gott erlogen! Antwort 2: Alles wurde von Menschen missverstanden oder instrumentalisiert erfunden.

Nach Antwort 1 beinhaltet die Bibel immerhin auch Lügen von Gott. Bei der zweiten Antwort enthält sie zumindest falsch verstandene Passagen. Wer also die Urknalltheorie und die Evolutionstheorie als bessere Erkenntnisse akzeptiert – wie dies in der westlichen Theologie modern ist – der hat ein unlösbares Problem, wenn er weiterhin an Gott (egal ob als Schöpfer oder nicht) glauben will: Wie kann festgestellt werden, welche Passagen Lügen oder Missverständnisse sind und welche Passagen Wahrheiten beinhalten? Die Frage, ob die Bibel überhaupt auf Wahrheit basierende Passagen enthält, kann getrost vernachlässigt werden, da es keinen erkennbaren oder verifizierten Schlüssel gibt, nach dem ein Theologe heute die Spreu vom Weizen trennen oder die guten Rosinen aus dem Haufen verdorbener Rosinen herauspicken könnte. Also ist ein Gläubiger, der der modernen Wissenschaft in puncto Kosmologie und Lebensentstehung eher glaubt, als Gottes Wort, auf dem schnurgeraden Weg in den Atheismus.

Doch genau das wollen diese Gläubigen nicht wahrhaben. Sie transzendieren ihren Gott immer mehr, verbannen ihn aus Raum und Zeit, um ihm eine Nische im Nichts zu erhalten; eine Nische, die sie selbst erst erschaffen haben – oder die ihnen die Wissenschaft (noch) lässt. Ich halte dies für unredlich. Das Buch eines Gottes, der auch nur in Teilen gelogen hätte oder den seine Propheten auch nur in Teilen falsch verstanden hätten, kann keine verlässliche Quelle darstellen. Zumal es die einzige ist, die existiert. Selbst der Koran, in dem dieser identische Gott seine Offenbarung erneuert und mit dem Siegel der Propheten offiziell abgeschlossen hat, basiert auf dem jüdischen Tanach (Altes Testament) und in Teilen auch auf dem Neuen Testament, ohne jedoch die Gottessohnschaft Jesu zu akzeptieren. Auch darin finden sich viele der alten Irrtümer wieder, deren Korrektur im Islam jedoch weit schwerer fällt, als im älteren Christentum.

Für mich bleibt festzuhalten, dass redliche Gläubige, die weiterhin fest an Gott und sein Wort glauben wollen, zugeben müssten, Kreationisten zu sein. Jede andere Behauptung entspringt theologischer Wortakrobatik, die eine scheinbare Modernisierung des Christentums suggerieren soll. Nur Kreationisten können behaupten, in der Bibel stünde das Wort dessen, der als einziger wisse, wie alles entstanden sei – und nur Kreationisten können in Predigten vom Menschen als „Geschöpf Gottes" sprechen oder das katholische Glaubensbekenntnis ernstnehmen: "Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde, …". Wachsweiche "Modernisierungen", um eventuell keine staatliche Alimentierung zu gefährden - da eine offen zutage tretende kreationistische Haltung auch bei Politikern durchaus kritisch gesehen werden mag – sind im Kern, wie ich hoffentlich nachvollziehbar dargelegt habe, unerträglich.

Da lob ich mir die Zeugen Jehovas, die exakt so verfahren. Sie werden ihren Weltuntergang sicher irgendwann erleben. Den Untergang nicht der realen Welt, sondern ihrer irrationalen religiösen Welt. Sollen sie froh sein: Sie müssen dann nicht auf Erlösung durch ihren unberechenbaren Gott hoffen, sondern können am Tag Eins nach ihrem Weltuntergang in einer Welt erwachen, in der es eine überwältigende Natur gibt, die es aus sich heraus geschafft hat, uns einen Ort zu evolvieren, über den wir staunen dürfen und der uns zum Nachdenken anregt. Ein Ort, den wir erforschen und in bescheidenem Maße verstehen dürfen, der Sehnsüchte befriedigt und neue erzeugt.

Nichts davon wurde für uns geschaffen, auf keinen Fall nach einem bewussten Plan. Wir sind nur die Begleiter einer kleinen Etappe in einem kleinen Winkel des Universums. Das mag vielen als sehr wenig und in kosmischen Dimensionen gesehen sogar als unbedeutend erscheinen. Aber es ist – wie die Religionen zeigen – mehr, als ein einzelner Mensch verstehen kann. Also eine lohnende, eine wunderbare Aufgabe bis zum Ende unserer Tage!