Das Computerprogramm AlphaGo hat den Weltmeister Lee Sedong besiegt – und eine neue Epoche eingeleitet

Die Selbstüberwindung des Menschen – ein Nachruf und Kommentar

1997 hat der Schach-Weltmeister Garri Kasparow seinen Wettkampf (sechs Spiele unter Turnierbedingungen) gegen den IBM-Schachcomputer Deep Blue verloren. Bereits das war eine epochale Zäsur, da erstmals eine Maschine den Menschen in seinem ureigenen Terrain schlug und somit die künstliche "Intelligenz" ihren Schöpfer übertraf – auch wenn die Schachcomputer "normalsterbliche" Spieler schon Jahre vorher hinter sich gelassen haben. (Übrigens hätte Kasparow seine Niederlage mit einem Dauerschach abwenden können, sodass die Partie und das gesamte Turnier remis ausgegangen wären. Aber Kasparow gab auf, weil er dachte, Deep Blue hätte diese Möglichkeit sicherlich in Betracht gezogen und wüsste einen Ausweg. Weil er den Computer für weniger fehlbar hielt als sich selbst, hatte er verloren.)

Spiel der Spiele
Spiel der Spiele: Ausschnitt der ältesten bekannten – allerdings unvollständig aufgezeichneten – Partie Go aus dem Jahr 195 n. Chr., Foto: © Rüdiger Vaas

1997 war auch das Jahr, in dem ich das Spiel Go zu lernen begann. Seither sind nicht viele Tage vergangen, an denen ich nicht an das Spiel gedacht oder einige Steinchen auf ein Holz- oder Computerbrett gelegt hätte. Ich bin ein lausiger Spieler geblieben, und das wird sich nicht ändern. Dennoch war ich um die Jahrtausendwende besser als jedes damalige Go-Programm. Was natürlich wenig über mich, doch viel über die damaligen Programme aussagt. Sie waren schlicht zu schwach, um mit der Komplexität des Spiels zurande zu kommen.

Die Verzweigung der algorithmischen Suchbäume – die Zunahme der möglichen weiteren Spielzüge nach jedem Zug – wuchs einfach zu stark, die Zahl der potenziellen Züge ist gigantisch. Ohne Heuristiken waren die Computerprogramme daher rasch verloren; während selbst ein mittelmäßiger Spieler aufgrund von Erfahrung, Bauchgefühl, Intuition und Vorwissen die meisten Züge erst gar nicht in Betracht zu ziehen brauchte – und somit besser zurecht kam, ohne wirklich "weiter" oder "tiefer" zu denken. Es ist dieser holistische Zugang, eine Art von Mustererkennung, zu der biologische Systeme im Allgemeinen viel effektiver fähig sind als die pure digitale Rechenkraft. Daher waren die meisten Experten der Auffassung, dass Computer-Programme noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinter guten Amateurspielern und erst recht Profis zurückbleiben würden. Sie hatten sich alle geirrt.

Und nun?

Natürlich wird das (un)menschliche Hauen und Stechen weltweit weitergehen, als sei nichts geschehen. Menschen schlagen sich im Allgemeinen ja lieber die Köpfe ein oder beuten sich gegenseitig aus oder versuchen sich mit wahnsinnigen Ideologien wechselseitig zu bekehren, als dass sie sich der Kreativität und Erkenntnis widmen oder spielerisch austauschen. Insofern wird Lee Sedols Niederlage nichts ändern. Dennoch hat jetzt eine neue Epoche begonnen. Deren Konturen werden erst künftige Historiker, wenn es sie gibt, klar sehen können. Doch deren Linien zeichnen sich bereits ab. Und man könnte jetzt damit beginnen, einen Nachruf auf die menschliche Intelligenz zu schreiben.

Der Mensch hat ein Programm geschaffen, das ihm in der letzten großen, symbolischen Bastion des Denkens überlegen wurde. Es ist "intelligenter" als selbst der beste Go-Spieler, obwohl es gleichsam blind rechnet und lernt. Die Monte-Carlo-Zufallsalgorithmen haben ihre Schöpfer ausgebootet. Insofern ist das Spiel vorbei. Der Mensch kann abdanken.

Selbstverständlich kann AlphaGo weder Bilder malen noch Tischfußball spielen oder Rockmusik komponieren. Das Programm vermag nicht zu lieben und zu lachen und keine Ehrfurcht empfinden – nicht einmal vor Go. Aber das ist nicht der Punkt. Es geht auch nicht darum, einen Untergang zu beschwören oder deprimiert zu sein angesichts einer weiteren "Kränkung des Menschen" (von denen es bereits viele gab).

Eine neue Epoche

Manche Menschen hätten "das unnachahmliche Talent, die spannendsten Entwicklungen als Untergang zu deuten", kommentierte der Software-Entwickler André Spiegel, Autor des Buchs "Die Befreiung der Information". "Und vorher sind wir besiegt worden, als das erste Mal ein Rad schneller rollte, als ein Mensch laufen konnte, ein Rakete höher flog, als ein Mensch springen konnte, und eine Schriftrolle mehr aufnahm, als in ein Gedächtnis passte."

Das ist vollkommen richtig. Der Mensch ist zwar erneut "besiegt" – besiegt durch seine eigene Schöpfung und damit sich selbst. Aber diese Niederlage ist kein Untergang, auch wenn mancher Vertreter des Homo sapiens sich nun in seiner Eitelkeit, in seinem Dünkel und seinem anthropozentrischen Mittelpunktswahn beleidigt fühlt. Lee Sedols verlorene Partien markieren keinen Untergang, sondern einen Übergang. Und AlphaGos Triumph könnte durchaus auch als eine Art letzter Erfolg des menschlichen Denkens vor seiner Selbstüberwindung interpretiert werden.

"Was groß ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang und ein Untergang ist", schrieb Nietzsche. Wohin der Übergang führt, wenn er weitergeht, bleibt ungewiss. Doch es erscheint gut möglich, dass der Mensch jetzt, im März 2016, die Fackel weitergegeben hat. Das Schilfrohrdenken ist nicht mehr seine prominente Auszeichnung, er sollte sich nicht allzu viel darauf einbilden. Jetzt hat das Zeitalter des Transhumanismus begonnen.