Dem Gehirn beim Sprechen zusehen

Sprache macht den Menschen

Wir können den erhöhten Schwierigkeitsgrad komplexer Sätze also zunehmend auch dadurch wettmachen, dass unser Broca-Areal stärker als bei einfachen Sätzen aktiviert wird. Doch nicht nur dadurch: Auch die Verbindungsbahn zwischen den beiden Hauptakteuren der Sprachverarbeitung, der Wernicke- und der Broca-Region, spielt eine entscheidende Rolle. Dieses Bündel Nervenfasern, der Fasciculus arcuatus, braucht besonders lange, um voll funktionstüchtig zu sein. Der Grund: Es bildet um jede seiner Fasern langsam eine dicke Myelinschicht. Das braucht zwar viele Jahre, ist dann aber umso wirkungsvoller. Denn ähnlich wie der Kunststoff um den Kupferdraht eines Stromkabels, sorgt das Myelin dafür, dass die elektrischen Signale mit möglichst wenigen Verlusten und in hoher Geschwindigkeit übertragen werden. Neueste Untersuchungen haben ergeben, dass schwierige Sätze umso schneller verarbeitet werden, je dicker die Myelinschicht um diese Hochgeschwindigkeitskabel ist. Dadurch können ungefähr erst mit Ende der Pubertät kompliziertere Formulierungen genauso schnell verarbeitet werden wie einfache – egal, ob der Igel als Objekt an erster oder letzter Stelle im Satz steht.

Dem Gehirn beim Sprechen zusehen

Diese Erkenntnisse haben wir in großen Teilen vor allem einem zu verdanken: Den neuen technischen Innovationen der letzten Jahre, insbesondere der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT). Durch sie können wir dem Hirn beinahe beim Sprechen zusehen. Indem sich das Verfahren die unterschiedlichen magnetischen Eigenschaften von sauerstoffarmem und –reichem Blut zunutze macht, zeigt es uns aktivierte sauerstoffdurchflutetet Hirnareale an. Das war ein großer Schritt, denn bis zu diesem Zeitpunkt konnte man Rückschlüsse über die Funktionsweise unseres Denkorgans hauptsächlich am Beispiel von Patienten mit spezifischen Ausfällen ziehen – und der Untersuchung ihres Gehirns nach ihrem Tod.

Und selbst nach Entwicklung dieser neuen Methoden, wurden sie bis vor kurzem fast ausschließlich auf Studien mit Erwachsenen beschränkt. Denn entscheidend für aussagekräftige Aufnahmen ist, dass die Probanden während des Sprachtests im Tomographen ihren Kopf nicht bewegen. Etwas, das Kindern bekanntermaßen besonders schwer fällt. Uns am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften ist es dennoch gelungen, Methoden weiterzuentwickeln, die uns – selbst bei Dreijährigen – einen Blick in das kindliche Gehirn erlauben, während es Sprache verarbeitet. Unsere Idee: Das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Wir üben mit den Kleinen das Stillhalten, indem wir ihnen beispielsweise im Voraus einen Trickfilm zeigen, den sie ohne Unterbrechung sehen können, wenn sie dabei ihren Kopf ruhig halten. Und wenn der Trickfilm spannend ist, funktioniert das.

Sprachentwicklung – ein universelles Programm

Wie universell dieses biologische Programm ist – von der Schreiphase und der Lallphase über den Erwerb erster Wörter und syntaktischer Regeln bis hin zur Verarbeitung von komplexen Satzstrukturen – lässt sich besonders an Kindern bestaunen: Mühelos kann jedes Kind jede Sprache der Welt erlernen, in die es hineingeboren wird. Nach der Geburt ist es zunächst offen für jede Sprache, spezialisiert sich dann aber gemäß dem jeweiligen sprachlichen Umfeld. So erkennen in den ersten Lebensmonaten noch alle Kinder weltweit gleichermaßen lautliche Unterschiede, egal ob sie in der jeweiligen Muttersprache von Bedeutung sind oder nicht. Später können sie dann nur noch diejenigen auseinanderhalten, die in der eigenen Muttersprache relevant sind. Ein berühmtes Beispiel ist der Unterschied zwischen den Sprachlauten "r" und "l", der zwar im Deutschen entscheidend ist, um "Rast" von "Last" zu trennen, nicht aber im Japanischen. Deshalb geht bei Japanern die Fähigkeit verloren, diese Sprachlaute zu unterscheiden. In anderen Sprachen sind wiederum andere Laute ohne Bedeutung, sodass auch diese verloren gehen.

Das Medium, in dem wir also sprechen, lesen und schreiben, denken und dichten, mailen und twittern, ist letztlich ein spezifisch menschliches Natur- und Kulturprodukt komplex verschalteter Neuronenbündel. Ein Bündel, das sich zwar nach einem vorgegeben biologischen Programms entwickelt, dabei aber deutlich unter dem Einfluss unseres kulturellen Umfelds entsteht, in dem wir aufwachsen und leben. Nur wenn wir beides betrachten, den naturwissenschaftlichen und den geisteswissenschaftlichen Aspekt, wird ein tieferes Verständnis von Sprache möglich.

Von Angela Friederici, Michael Skeide und Verena Müller