"Von den Juden und ihren Lügen" in neuer Übersetzung erschienen

"Wir wollten Luther selbst sprechen lassen."

Wie genau haben Sie gearbeitet? Man mag meinen, dass eine Übersetzung aus dem "Luther-Deutsch" in das heutige Deutsch nicht sonderlich schwierig ist. Zumal sich in der deutschen Sprache noch viele Zitate aus der Lutherbibel zu finden sind (häufig, ohne dass sich der Redner dessen bewußt ist). Was war die Schwierigkeit bei der Texterstellung und wie haben sie als Team zusammengearbeitet? 

R.S.: Wenn man mit der Frakturschrift keine Probleme hat, kann man einzelne Passagen des frühneuhochdeutschen Textes durchaus im Original lesen. Allerdings waren Orthografie und Satzbau unterschiedlich zu heutigem Deutsch, so dass man immer wieder auf unverständliche Textpassagen stößt. Dazu kommen Ausdrücke, die es heute nicht mehr gibt oder eine andere Bedeutung haben. Insgesamt ist das Lesen der Originalschrift eine sehr mühsame Angelegenheit, die sich keiner freiwillig antut. Bei der Übersetzung in modernes Deutsch haben wir schon akribisch gearbeitet. Durch den seitenweise gegenüberliegenden Luther‘schen Originaltext von 1543 kann der interessierte Leser die Qualität unserer Übertragung jederzeit überprüfen. Jeder von uns hat ein Viertel des Textes bearbeitet und danach das Viertel eines Kollegen überprüft und korrigiert. Schließlich hatten wir mehrere halbtägige Sitzungen, in denen der Gesamttext Wort für Wort und Satz für Satz nochmals kritisch durchgegangen wurde.

KHB: Die Übertragung aus dem Frühneuhochdeutschen in unser modernes Deutsch stellt den Übersetzer vor allem vor zwei größere Schwierigkeiten. Zum einen gab es im Frühneuhochdeutschen Wörter und Redewendungen, die heute überhaupt nicht mehr existieren. Diese sind relativ leicht zu identifizieren, die Schwierigkeit besteht hier darin, möglichst treffende Pendants im heutigem Deutsch zu finden, was nicht immer leicht, aber doch meistens möglich ist.
Zum anderen kennt das Frühneuhochdeutsche aber auch Wörter, die heute noch existieren, aber unter völlig neuer Bedeutung. Im besten Fall ist die neue Bedeutung so unterschiedlich von der alten, dass die Sätze völlig sinnlos werden, oft aber fragt man sich nur, was der Satz eigentlich bedeuten soll, bzw. in unserem Fall, was Luther mit diesem Satz eigentlich sagen wollte.
Mein Lieblingsbeispiel ist die Redewendung vom "eifrigen Gott". Die Protestanten machen daraus bis heute den eifrigen, bestenfalls den eifernden Gott, gemeint ist aber der eifersüchtige Gott, der sich für Fehlverhalten rächt und nachtragend ist. Aber alle, die evtl. meinen, wir hätten nicht gut übersetzt, haben ja die Gelegenheit, anhand des jeweils auf der gegenüberliegenden Seite abgedruckten Originaltextes unsere Arbeit zu überprüfen.

BK: Als Karl-Heinz Büchner, Reinhold Schlotz, Robert Zwilling und ich Ende 2014 in der GBS-Regionalgruppe Rhein-Neckar mit dem Projekt begannen, haben wir als erstes den Text geviertelt, übersetzt und danach gemeinsam in vielen Sitzungen korrekturgelesen und besprochen, stilistisch angeglichen. Ich habe 200 Begriffserläuterungen verfasst, um Personennamen etc., die Luther verwendete, dem heutigen Leser zu erklären.
Luther schrieb 1543 in Frühneuhochdeutsch, einer Sprache, die er durch seine Druckwerke mitgestaltet hat. Im Rahmen früherer philologischer Studien zur Entwicklung der deutschen Sprache hatte ich mich auch mit diesem Wandel, der letztlich zu unserem Hochdeutsch führte, befasst und habe Zugang zu frühneuhochdeutschen Lexika.
Man darf unsere Arbeit nicht unterschätzen. Die Sprache Luthers hat ihre Tücken, selbst wenn man Orthographie und Grammatik bereinigt. Daher ging es uns in erster Linie darum, zu verstehen, was er meinte. Wir haben ihn also erst mal dekodiert und dann wieder in Sprachbilder in heutigem Deutsch kodiert. So ist der Text flüssig zu lesen und niemand muss – wie bei allen bisherigen Übertragungen – ständig in Fußnoten blättern, was nun z.B. "schlegefaul" oder "pompen" heißt, etc.
Dabei wollten wir seine teilweise sehr vulgäre Ausdrucksweise erhalten, die typisch für Luther ist. Er beleidigt die halbe Welt wo es nur geht. Ein unangenehmer Zeitgenosse.
Damit aber der Leser unseres Buches prüfen kann, ob wir gut gearbeitet haben, ist stets auf der linken Seite der Originaltext Buchstabe für Buchstabe aus dem Faksimile der erweiterten zweiten Auflage von 1543 zu sehen – gesetzt in wunderschöner Schwabacher Fraktur, mit Virgeln anstelle von Kommas, wie im Original. Der Text läuft synchron zu unserer Übertragung und ist auch ästhetisch – so finde ich – eine Augenweide. Das war technisch eine echte Herausforderung, wobei ich dem Alibri-Verlag danken, dass er dieses Wagnis mit uns eingegangen ist. Allein die Optik wäre für mich ein Grund, das Buch zu kaufen.

Im kommenden Jahr wird das "Lutherjahr" gefeiert. Was erhoffen Sie sich in diesem Kontext von dem Buch? Gab oder gibt es bereits erste Reaktionen auf das Buch?

BK: Direkte Reaktionen gab es noch keine, es ist ja erst seit wenigen Tagen lieferbar. Wir werden eine Reihe von Vorträgen halten, bei denen wir den Schwerpunkt auf die Auswirkungen des Buches und dessen historisches Umfeld legen. Mal sehen, was dabei passiert.
Natürlich ist der Zeitpunkt ein Jahr vor dem "Lutherjahr" bewusst gewählt, weil die Öffentlichkeit erfahren sollte, was sich hinter den verschämt versteckten "beschämenden Aussagen" des gefeierten Reformators verbirgt.
Im Grunde müsste es jeder evangelische Pfarrer haben, weil er sich dann eventuell etwas anders zu Luther positioniert. Hier muss speziell die EKD noch mächtig im eigenen Laden aufräumen.

R.S.: Reaktionen kann es bisher noch nicht geben, da das Buch erst am 15.03. erschein. Wir erhoffen uns, dazu beitragen zu können, dass der Luther‘sche Judenhass und dessen Folgen in die öffentliche Diskussion mit einfließen und jedem interessierten Leser die Möglichkeit bietet, den Reformator und seine Dekade im Lichte seiner Gesamterscheinung kritisch zu beurteilen.

KHB: Natürlich erwarten wir uns Aufmerksamkeit für das Thema Luther, wovon im Jahr 2005 z.B. nicht auszugehen war.
Zusätzlich ist aber die Tatsache, dass in diesem Lande einer der größten Antisemiten, die je gelebt haben, 10 Jahre lang gefeiert wird und Galionsfigur einer über 100 Mio. Euro teuren Jubelveranstaltung ist, Ansporn gewesen, das wahre Gesicht dieses Menschen und seine zutiefst inhumane Gesinnung offen darzulegen. Das war auch unser Hauptmotiv, Luther völlig unkommentiert zu präsentieren. Wir wollten Luther selbst sprechen lassen. Und das hat er getan, in jedem Satz.

Planen Sie weitere Übersetzungen und Kommentierungen von Luther-Texten?

R.S.: Wir haben Luthers Texte nicht kommentiert. Wir lassen ihn für sich selbst sprechen. Tatsächlich hat Luther eine ganze Reihe weiterer judenfeindlicher Schriften verfasst. Die Vertreibung der Juden aus deutschen Landen war ihm offensichtlich eine Herzensangelegenheit. Diese Schriften ergeben zusammengenommen einen zweiten Band, der dann in ca. einem Jahr erscheinen wird.

Karl-Heinz Büchner, Foto: © Evelin Frerk

Karl-Heinz Büchner, Foto: © Evelin Frerk

KHB: Es ist nur den wenigsten Menschen in unserem Land bekannt, dass "Von den Juden und ihren Lügen" keineswegs ein einmaliger Ausrutscher des alternden und von gesundheitlichen Beschwerden geplagten Martin Luther war, sondern dieser Mann Zeit seines Lebens ein Rassist war.

Es gibt sechs weitere Machwerke, die sich alleine mit den Juden beschäftigen, das früheste von 1526, das letzte drei Tage vor seinem Tod verfasst. Diese Schriften werden wir in einem zweiten Band veröffentlichen, zusammen mit den Kommentaren von Zeitgenossen, die sich vehement gegen Luthers menschenverachtenden Kreuzzug gegen Andersgläubige gewandt hatten.

BK: Wir werden alle antisemitischen Schriften von ihm veröffentlichen. Diese sind kürzer und können in einem Sammelband verlegt werden. Kommentieren werden wir übrigens auch diese nicht, wie schon bei "Von den Juden und ihren Lügen". Denn ein Kommentar hat immer einen fahlen Beigeschmack und reizt Theologen zu Retourkutschen. Auf dieses Glatteis mussten wir uns aber auch nicht begeben, denn Luther spricht bestürzenden Klartext, wenn er sein "Sieben-Punkte-Programm" der Obrigkeit und seinen Pfarrerkollegen zur Umsetzung nahelegt.
Darin macht er unmissverständlich klar, dass alle Synagogen abgebrannt, alle Juden kaserniert, enteignet und zur Zwangsarbeit herangezogen werden sollen. Außerdem sollen sie ihre Bücher und das Wegerecht verlieren – und ihr Leben, falls sie weiterhin ihr Judentum praktizieren.
Luther ging es um eine theologisch und rassistisch begründete Ausrottung des Judentums in Deutschland. Wie bemerkte der Philosoph Karl Jaspers so treffend: "Was Hitler tat, hat Luther geraten, mit Ausnahme der direkten Tötung durch Gaskammern."

Die Interviews führte Frank Nicolai für den hpd.