Kommentar

"Woran liegt es, dass wir noch immer Barbaren sind?"

Zweifellos hätten Adorno und Horkheimer weitere historische Beispiele jüngerer Zeit als Bestätigung ihrer – häufig einseitig rezipierten – These gefunden. Man erinnere sich an den Völkermord in Ruanda, bei dem innerhalb von 100 Tagen mindestens 800.000 Menschen, meist mit Macheten, abgeschlachtet wurden. Die blutigen Massaker wurden maßgeblich durch den Radiosender "Radio RTLM" koordiniert. Dieser verbreitete mehrmals täglich den Aufruf "Tod! Tod! Die Gräben sind erst zur Hälfte mit den Leichen der Tutsi gefüllt. Beeilt euch, sie ganz aufzufüllen!". Eine Radiostation, also das Resultat des wissenschaftlichen Fortschrittes, mutierte zum Mordinstrument.

Doch ist damit der diagnostizierte "Doppelcharakter der Aufklärung" eine hinreichende Erklärung für das Zustandekommen der Barbarei?

Nein. Bei genauerer Betrachtung ist diese nämlich vielmehr auf das Problem einer "halbierten Aufklärung" zurückzuführen. Gerade weil die Aufklärung – mitsamt ihrer emanzipatorischen, humanisierenden Kraft – nie konsequent vollzogen wurde, war es möglich, dass sich menschenverachtende Einstellungen etablieren konnten. Denn gesellschaftlich wirkmächtig war über lange Zeit fast ausschließlich jener Aspekt der Aufklärung, den man mit dem Begriff der "instrumentellen Vernunft" umschreiben könnte. Die ethischen, humanistischen Impulse der radikalen Aufklärungsbewegung wurden hingegen weitgehend vergessen oder ignoriert und konnten sich erst weitaus später gegen erbitterten Widerstand durchsetzen. 

Eine Allianz der Gegenaufklärung

Die Ablehnung der kulturellen Errungenschaften der Aufklärung bei gleichzeitiger Inanspruchnahme ihrer technologischen Fortschritte  war – und ist auch heute noch – ein explosives Gemisch von Rationalität und Irrationalität.

Auf drastische Weise manifestiert sich diese Kombination bei terroristischen Gruppierungen. Sie verbinden hohes strategisches und taktisches Know-how mit den unzeitgemäßen und irrationalen Glaubensinhalten einer jenseitig ausgerichteten Religion oder politischen Ideologie. Terroristen machen sich demnach die Erfindungen der Moderne zunutze, verachten aber die Prinzipien der Aufklärung, die diese Erfindungen erst ermöglicht haben. 

Für den Historiker und Philosophen Philipp Blom ist die dahinter stehende Geisteshaltung ein globales, umfassenderes Problem. Scheinbar völlig unterschiedliche politische Akteure träumen gemeinsam einen "autoritären Traum": PEGIDA und AfD, Putin, Orban, Kaczinsky, Anders Breivik, Hindunationalisten, Donald Trump, die Tea Party, radikale US-Evangelikale, der Front National, Erdogan sowie das islamistische Regime in Saudi Arabien und die Massenmörder des IS. Sie alle betrachten ihre Kultur, die gegen das Fremde und den Wandel abgeschottet werden muss, als essenziell und überlegen. Sie alle verbindet, so Blom, die gemeinsame Verachtung für den "liberalen Traum" von Individualismus, Pluralismus, Menschenrechten und Freiheit. 

Aufgeklärte Gegenwart?

Von einem wirklich "aufgeklärten Zeitalter" ist die Menschheit noch meilenweit entfernt. Denn unsere Weltbilder sind von überwunden geglaubten Irrtümern geprägt und unsere Gehirne werden weiterhin von Legenden und Mythen vergangener Jahrhunderte konditioniert. Auch heute noch denken wir in religiösen Kategorien, ohne uns dessen bewusst zu sein.   

Gegenwärtig wird dies besonders bei einer populären Idee deutlich, die sich im Lichte der Aufklärung als destruktiver Anachronismus entblößt – nämlich die Vorstellung einer "nationalen Identität". Tragischerweise ist sie eine religiöse Konstruktion mit enormer Wirkmacht.