Ein Leitfaden zum Kopftuch-Verbot

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Foto: ep.yimg.com

(hpd) Etienne Vermeersch, emeritierter Professor für Philosophie der Universität Gent (Belgien) und Autor vieler kulturphilosophischer und -ethischer Veröffentlichungen analysiert die Pro- und Kontra-Argumente zu einem Verbot des Kopftuches in einem in Belgien sehr beachteten Artikel. Die Analyse kann mit ihren prinzipiellen Aussagen auch eine Grundlage für die Diskussion in Deutschland liefern.

 

Er bezieht sich, veranlasst durch die auch in den internationalen Medien bekannte Diskussion über Maßnahmen von Schulen und Schulorganisationen sowie Gesetzesinitiativen zum Verbot des islamischen Kopftuchs in Belgien und besonders in Flandern, besonders auf das Problem des Kopftuches in den Schulen und den öffentlichen Ämtern.

Nachstehend eine leicht gekürzte Übersetzung des Artikels: „Der Islam und das Kopftuch in Belgien. Ein erweiterte Betrachtung.“ 

In der Debatte darüber (das Kopftuchverbot, N.d.Ü) ist Genauigkeit und Klarheit manchmal schwer zu finden. Einige argumentieren, dass die Absicht besteht "jede religiöse Äußerung aus dem öffentlichen Raum zu beseitigen". Doch mit Ausnahme einer einzigen rechtsextremen Person hat das hier niemand jemals vorgeschlagen. Man befürchtet ein Zurückdrängen des "Grundsatzes der Religionsfreiheit", obwohl die Diskussion sich nur auf drei spezifische Anwendungen bezieht: (a) Das Tragen der "Hijab" (Kopftuch) von Beamten während ihrer Amtszeit (b) von minderjährigen Schülern in den Räumen von Schulen, und (c) das Tragen des Gesichtsschleiers (Niqab oder Burka) in einigen oder allen öffentlichen Räumen.
 
Den Mangel an Klarheit zeigt auch die Tatsache, dass in den verschiedenen Beiträgen immer und immer wieder nur ein paar, meist die gleichen, Aspekte dieses Problems betont werden. Sie haben keinen Blick für den breiten Kontext, in dem wir den Konflikt setzen müssen.

Im Folgenden wollen wir den Gesichtspunkt dadurch erweitern, dass soweit wie möglich alle diese damit verwandten Probleme beleuchtet und sowohl die Argumente für und als auch gegen das beabsichtigte "Kopftuchverbot" gründlich analysiert werden.

1. Religionsfreiheit und Islam

a. Religionsfreiheit und die Freiheit des Denkens und der Meinungsäußerung werden durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte " (1948), den "Internationalen Vertrag über bürgerliche und politische Rechte "(1976), die "Europäische Menschenrechtskonvention“ (EGMK, 1950) und die belgische Verfassung garantiert. Diese Freiheit der Religion oder Weltanschauung beinhaltet auch die Freiheit diese Überzeugung "in Gottesdiensten, Unterricht, in der praktischen Anwendung und im Erhalt von Geboten und Vorschriften” zum Ausdruck zu bringen." (Artikel 9 EGMK).
Für die Religionen, die in Europa eine lange Tradition haben, wie die verschiedenen christlichen Religionen, scheinen diese Freiheiten kaum ein Problem zu sein. Deren Regeln betreffen in erster Linie religiöse Inhalte, die man akzeptieren muss und Übungen und Ritualen, die, ob im privaten Leben oder in öffentlichen Bereich, wie Kirchen, praktiziert werden und Verhaltensnormen die in erster Linie das Privatleben betreffen, oder die voll im Einklang mit den vorherrschenden traditionellen Normen stehen.
 
b. Der Islam hingegen stellt uns in Bezug auf diese Rechte vor ein völlig neues Problem. Seine Regeln ordnen die gesamte Gesellschaft. Dadurch entstand in den islamischen Ländern eine besondere Form von Recht und Gesetz: die Scharia. Der "Ausdruck" des Muslim- / Muslimaseins hat viel größere soziale Auswirkungen, als es im Christentum der Fall ist. Zwangsläufig muss die Ausbreitung des Islam in den europäischen Gesellschaften Spannungen verursachen, weil die Regeln des Islam im Widerspruch stehen zu dem, was hier mittlerweile als allgemeingültig angenommen wird.

Dies führt zu der unvermeidlichen Frage, ob die praktische Ausübung der Religion, wie garantiert durch die Freiheit der Religion, uneingeschränkt für diese breite Palette von Regeln, Gewohnheiten und Gebräuche gilt, die den Islam charakterisieren.
 
c.  Auch in der islamischen Welt sind die Menschen auf dieses Problem aufmerksam geworden. Angeregt durch die iranische islamische Republik wurde am 05.08.1990 innerhalb der Organisation der Islamischen Konferenz durch die Außenminister von 45 islamischen Staaten, die Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam angenommen. Die OIC hat derzeit 56 Mitgliedstaaten, bei denen man davon ausgehen kann, dass sie alle diese Erklärung unterstützen. (…)

Dieser Text nimmt weitgehend die Reihenfolge der Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte auf, fügt jedoch eine Reihe von Einschränkungen ein: "innerhalb der Grenzen der Scharia." Aber vor allem präzisiert Artikel 24: "Alle Rechte und Freiheiten unterliegen der islamischen Scharia“ und Artikel 25: "Die islamische Scharia ist die einzig zuständige Quelle für die Auslegung oder Erläuterung einer der Artikel dieser Erklärung. "

Diese extreme Verzerrung und sogar Einschränkung des ursprünglichen Textes der Allgemeinen Erklärung und damit der EMRK veranschaulicht auf beeindruckende Weise, dass Werte und Normen des Islam und ihre praktische Anwendung erheblich von denen der übrigen Welt und sicherlich von denen Europas abweichen. Konsequente religiöse Praktiken der Muslime können somit manchmal zu einem Verstoß gegen unsere Menschenrechte führen.

d. Die daraus resultierenden Schwierigkeiten äußern sich stark in Bezug auf Normen, die radikal mit den europäischen Gesetzen in Konflikt treten.

(1) Ausdrücklich heißt der Koran die Polygamie für gut (Sure 23, Vers 1-6, S 4, 4): Ein Mann kann sexuelle Beziehungen mit vier Ehefrauen und einer unbestimmten Zahl von Sklavinnen haben. Ein Mann kann ein sexuell unreifes Mädchen heiraten (S. 65, 4). Ein Mann kann seine Frau verstoßen, während der umgekehrte Fall nicht möglich ist (S. 65, 1). Das Zeugnis eines Mannes ist das zweier Frauen wert (S 3, 282). Die Erbschaft einer Frau ist die Hälfte von der eines Mannes (S. 4, 176). Der Mann hat das Recht, seine Frau bei Ungehorsamkeit zu schlagen (S. 4, 34). Apostasie wird mit dem Tode bestraft (S. 9, 11-12, und in Hadiths bei Bukhari und Abu Dawud), Ehebruch wird nach der Scharia in vielen Orten mit Steinigung bestraft.
 
Es ist offensichtlich, dass das in Artikel 9 der EMRK genannte Recht auf "Ausübung von Geboten und Vorschriften" einer Religion hier unmöglich in vollem Umfang anzuwenden ist.
 
(2) Ein ähnliches Problem wird in einer subtileren Form deutlich, wenn es um Verhalten oder Haltungen handelt, die viele glauben aus dem Koran oder der Sunna (den Regeln abgeleitet aus den Worten und Taten des Propheten) ableiten zu müssen und die, wenn auch nicht immer in manifestem Konflikt mit unseren Gesetzen, doch im Gegensatz zu unseren allgemein anerkannten Verhaltensregeln stehen.
 
Der Gehorsamkeitspflicht der Frau gegenüber ihres Mannes; das Recht des Vaters über die Ehewahl seiner Tochter zu entscheiden oder sie zu verweigern; der Brauch, Mädchen früh zu verheiraten; das Sorgerecht des Mannes nach dem Verstoßen der Frau für Jungen ab 7 Jahre und Mädchen ab 12 Jahre; die Autorität der Brüder über ihre Schwestern; die Zurückhaltung von Männern, um unter der Aufsicht von Frauen zu arbeiten; die Weigerung des Mannes, seine Frau von einem männlichen Arzt behandeln zu lassen; die Weigerung, einer Frau die Hand zu geben; die Ablehnung des gemischten Schwimmens; die Ablehnung männlicher Bademeister beim exklusiven weiblichen Schwimmen; die Ablehnung eines muslimischen Fußballvereins, ein ordnungsgemäßes Fußballspiel gegen einen "homosexuellen" Verein zu spielen; der von Eltern ausgeübte Zwang auf ihre Kinder, ein Kopftuch zu tragen; die Forderung von einigen muslimischen Frauen, ungeachtet der Kleiderordnung ein Kopftuch überall tragen zu können; die Forderung einiger, überall einen Niqab (voller Gesichtsschleier), ein Jilbab (langes verhüllendes Kleid) oder eine Burka tragen zu können; die Forderung, ihren eigenen Gebetsraum in Schulen und anderen Institutionen zu haben; die Verpflichtung, in gemeinsamen Kantinen immer Halal-Fleisch zu bekommen; die Forderung, keine Lehrstunden über die Evolutionstheorie, Sexualkunde und den Holocaust zu bekommen; die Vorstellung der Homosexualität als störendes Fehlverhalten usw.
 
(3) Selbstverständlich gibt es viele Muslime, die sich dessen bewusst sind, dass unsere Gesellschaft eine Reihe dieser Verhalten schwer oder gar nicht akzeptieren kann; aber einige von ihnen würden sie alle bewahren wollen und viele wollen sicher auf einige nicht verzichten. In einem solchen Fall ist es weit hergeholt, sich immer wieder auf die "Religionsfreiheit" zu berufen, während es sich hier eigentlich um Konfliktsituationen handelt, bei denen mindestens ein Abwägen der Argumente, die für und gegen die Annahme eines besonderen Verhaltens sprechen, erforderlich ist.
 
Bei diesem Abwägen können verschiedene Aspekte berücksichtigt werden. (i) Der Umfang, in dem eine Bestimmung zu den wesentlichen Merkmalen einer Religion gehört. (ii) Der Umfang, in dem über sekundäre Regel Einstimmigkeit unter den Muslimen herrscht. (iii) Der Umfang, in dem eine bestimmte Art von Verhalten auf mehr oder weniger starken Widerstand bei der einheimischen Gesellschaft stößt. (iv) Der Umfang, in dem eine Forderung die individuelle Freiheit und Entwicklung des Einzelnen reduzieren kann. (V) Das Ausmaß, in dem eine Forderung zu Einschüchterung und Gruppenzwang führen kann. (vi) In welchem Maße die Anwendung einer Regel zu finanzieller oder organisatorischer Belastung führen kann.

Einige Beispiele. (i) Die "fünf Säulen des Islam" sind sicherlich wichtiger als Kleiderordnungen. (ii) Sowohl die historische als auch die anthropologische Forschung zeigt, dass die Kleiderordnung unterschiedlich interpretiert wurde und wird. (iii) Für ein Verbot von religiösen Symbolen während der Ausübung öffentlicher Ämter gelten stärkere Argumente als für eins auf öffentlichen Straßen. (iv) Bescheidenheit in Verbindung mit Kleidung und Make-up hemmt die individuelle Entwicklung nicht, das betrifft wohl diejenigen, die Kontakten mit Menschen anderer Kulturen und Meinungen vermeiden. (v) Regeln für Äußerlichkeiten wie Kleidung sind anfälliger für Einschüchterung als solche, welche die persönliche Beziehung zum Leben, die Weltanschauung betreffen, wie das Gebet in intimem Kreis. (vi) Das Angebot von sowohl halal und nicht-halal Fleisch in einem öffentlichen Speisesaal, um Muslime als auch Tierschützer (Gegnern der Halal-Schlachtung) zu berücksichtigen, bildet eine organisatorische Belastung. Abstinenz von Alkohol hat diesen Nachteil nicht.
 
Kurzum.  Es ist nicht evident, dass die Grundrechte der Religionsfreiheit ohne Probleme für alle Handlungen gelten, denen einige im Namen des Islam glauben folgen zu müssen. Kritische Bemerkungen zur Akzeptanz einiger dieser Regeln und Praktiken können ernsthaft begründet sein. Es ist eine unverantwortliche Weise der Argumentation, diese Bedenken systematisch als Intoleranz, Machismo, Islamophobie, oder Rassismus zu bezeichnen.

(4) Was das normale Kopftuch betrifft, so können wir zeigen (siehe unten): (a) dass eine religiöse Pflicht in dieser Hinsicht, auch wo sie vorgehalten wird, nur eine untergeordnete Anforderung ist; (b) dass hierüber weder in der Tradition der Sunna, noch in der gegenwärtigen Praxis, Einstimmigkeit herrscht; (c), dass es stichhaltige Argumente gibt gegen das Tragen bei der Amtsausübung im öffentlichen Dienst; (d), dass auch gegen ihre Verwendung durch Minderjährige in den Schulen schwerwiegende Einwände erhoben wurden.
 
Die obigen Bewertungskriterien, '1. D. (3) I - VI ", haben keinen Alles oder Nichts Charakter: Jedes kann mehr oder weniger überwiegen. Man kann also nicht ohne ernsthafte Überlegungen beschließen, dass die Rechte lt. Art. 9 EMRK (und verwandte Texte) durch ein Kopftuchverbot angetastet werden.
 
Es ist bis heute (…) nicht klar, wie die Gerichte (in Belgien, N. d. Ü.) über diese Frage entscheiden. Würden sie allerdings entscheiden, dass diese Rechte bei privaten Entscheidungen zur Diskussion stehen (…), dann kann nur eine allgemeine Maßnahme, vorzugsweise durch ein Gesetz oder Dekret unterstützt, eine solide Grundlage für Entscheidungsprozesse bilden. Übrigens zeigen die verschiedenen Positionen in der öffentlichen Diskussion, dass diese Angelegenheit sehr komplex ist.
 
Die Regierung begeht hier eine inakzeptable Fahnenflucht, wenn sie in einer so schwierigen Problemsituation einzelnen Schulbehörden jedes Mal allein die Entscheidung überlässt, mit dem Risiko, dass sie Opfer von Hasskampagnen, oder durch das Gericht zurückgepfiffen werden.

Die Abgeordneten müssen daher dringend den Rahmen skizzieren, innerhalb dessen ein Kopftuchverbot zulässig ist und dies mit der Empfehlung, so umfassend wie möglich eine einheitliche Lösung in den verschiedenen Schulen anzustreben. Etwas Ähnliches ist auch sicher im Zusammenhang mit bestimmten Ämtern in der öffentlichen Verwaltung wünschenswert.

2. Der Schleier: historische und kulturell-anthropologische Daten

a. Der Koran sagt über die Kleidung folgendes:
S 7,26: „Wir gaben euch Kleidung, eure Scham zu bedecken, und zum Schmuck; doch das Kleid der Frömmigkeit - (oder "Gewand der Gerechtigkeit") das ist das Beste. „
S 24,31, „Und sprich zu den gläubigen Frauen, (…) dass sie ihre Reize nicht zur Schau tragen sollen, bis auf das, was davon sichtbar sein muss, und dass sie ihre Tücher (Khimar) über ihre Busen ziehen sollen …“
S 33,59: " sie sollen ihre Tücher (jalabib) tief über sich ziehen. Das ist besser, damit sie erkannt und nicht belästigt werden.“

Diese Koranverse haben im Lauf der Geschichte zu unterschiedlichen Auffassungen und Praktiken geführt. (Im Internet finden Sie Tausende von Seiten darüber). Man kann auf jeden Fall daraus Folgendes entnehmen. (i) Die speziellen Arten von Bekleidung sind von sekundärer Bedeutung: Die Frömmigkeit ist das Beste. (Das Kleid der Frommigkeit hat hier eine figürliche Bedeutung.) (ii) Es besteht kein Gebot zum Tragen eines Kopftuches, der Text bezieht sich auf einen „Khimar”  der bereits existierte. (Der Khimar war wahrscheinlich ein Kleidungsstück, das vom Kopf oder vom Hals über den Körper hing, aber teilweise die Brüste sichtbar ließ.) Dass man den Kopf bedeckt, war in vielen Kulturen der Fall und war in einem Wüstenklima normal.) (iii ) Der Genitalbereich und die Brüste müssen bedeckt sein. (iv) „Das, was sichtbar sein darf" wird nicht klar definiert und kann von Kultur zu Kultur variieren. (v) Dass der Hals und die Haare bedeckt sein sollten, steht nicht im Koran. (vi) Aussagen des Propheten (Hadith) über diese Angelegenheit sind mindest ein paar Jahrhunderte später niedergeschrieben und sind oft widersprüchlich. Ihre Echtheit ist fraglich.
Die Koranvorschriften selbst dürften in unserer Kultur kein Problem darstellen, auch wenn man sie streng befolgt (Brust-und Schambereich bedeckt).

b. Der progressive muslimische Gelehrte Malek Chebel (Manifeste pour un islam des Lumières,  27 propositions pour réformer l'islam) behauptet, dass man während der ersten drei Jahrhunderte des Islams der weiblichen Kleidung wenig Bedeutung zumaß. Danach versuchten frauenfeindliche islamische Gelehrte, strenge Regeln einzuführen. Dabei gab es eine dominante Strömung (die chafeitischen, die malekitischen und hanbalitischen Rechtsschulen): Sie behaupteten, dass die Frau in der Regel zu Hause zu bleiben hätte und außer Haus alles bedecken müsste (mit einer kleinen Öffnung um sehen zu können). Nur die hanefitische Schule (u. a. in der Türkei) und die sjiïtischen Jafarieten (u. a. in dem Iran) schlugen vor, dass Gesicht und Hände sichtbar bleiben dürften.

Die Befürworter des Niqabs (Gesichtsschleier) oder der Burka haben daher die Mehrzahl der traditionellen islamischen Gelehrten hinter sich und vom 12. bis zum Ende der 19. Jahrhunderts war diese Art von Kleidung in Nordafrika, insbesondere in städtischen Gebieten, eine eher allgemeine Regel.

Laut einer Erklärung der Vereinten Ulema's (islamischen Gelehrten) in Saudi-Arabien in 1974 (sic) (Comptes rendus des Colloquies de Riad...) war der Gesichtsschleier (Niqab) reserviert für freie Frauen, die dadurch deutlich von Sklavinnen zu unterscheiden waren, "und daher nicht belästigt wurden." Der Schleier diente in erster Linie dazu, eine empörende Diskriminierung aufrechtzuerhalten und die Sklavinnen zu sexuellem Freiwild zu erklären.
 
c. Wer die tatsächliche Situation der Kleidung historisch und anthropologisch vergleichend erforscht, stellt eine breite Diversität fest. Auf den persischen Miniaturen und indischen Moghul-Gemälden tragen die Frauen zierliche Kopfbedeckungen (die Männer auch), in der Regel sind ihre Zöpfe und Hals sichtbar, oft mit einem Ausschnitt. Seit dem 19. Jahrhundert zeigen Reiseberichte und andere Dokumente, dass in vielen muslimischen Kulturen der Schleier, als er existierte, nur ein Teil der Haare bedeckte und der Hals, mit Juwelen, gut sichtbar war. So war schon allein für die palästinensischen muslimischen Frauen eine Differenz der Menge der sichtbaren Haare und der Tiefe des Ausschnittes zwischen Jaffa, Bethlehem und Ramallah zu bemerken.

d. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts begann man die verschleiernde Kleidung als typisch für den Ausschluss von Frauen aus dem öffentlichen Leben zu betrachten. Der Vorreiter dieser Interpretation, Qasim Amin, schrieb im Jahre 1899 "Die Emanzipation der Frau", worin er argumentierte, dass die Kleiderordnung nichts mit dem wahren Islam zu schaffen hat. Auch Mustafa Kemal Atatürk äußerte sich im Jahre 1923 sehr negativ zu diesem Thema.

Seit dem frühen 20. Jahrhundert haben viele progressive muslimische Frauen das Ablegen des Schleiers als Symbol des Widerstands gegen die Unterdrückung der Frauen gesehen (1923, Huda Shaarawi, Kairo, dann Ibtihaj Kadura im Libanon, Adila Al-Zarairi in Syrien Habiba's Hari in Tunesien, etc.). Diese Tendenz, wodurch erst der Niqab und später auch der Schleier verschwand, setzte sich fort bis in die siebziger Jahre. In Dokumentationen über die Feierlichkeiten zur Unabhängigkeit Algeriens (1962) sieht man große Gruppen von jungen Frauen ohne Kopftuch. In Kairo war um 1980 das Kopftuch fast verschwunden.
 
e. Seit den Ereignissen im Iran (1979), wo Frauen zuerst den Tschador als Zeichen der Opposition gegen den Schah trugen, später aber unter Androhung von 80 Peitschenhieben gezwungen waren, das zu tun, ist eine fundamentalistische Gegenreaktion in Gang gekommen. Obwohl der Iran schiitisch ist, war die gesamte islamische Welt davon fasziniert, dass unter Rückgriff auf die Islamtradition ein wahrer islamischer Staat errichtet werden konnte. Desillusioniert von den sozialistisch getönten Reformen von Nasser und der Baath-Partei, haben die ägyptische Muslimbruderschaft und die saudischen Salafisten sich dieser Bewegung angeschlossen.

 

f.  In Kairo hat das Kopftuch (Hijab), sich wieder durchgesetzt, aber noch ist diese Bewegung nicht sehr weit vorgedrungen. Viele fortschrittliche, besonders intellektuelle Frauen tragen keine Kopftücher (einschließlich der jordanischen Königin Rania). Selbst auf einer internationalen Website für Hochzeitskontakte gläubiger Muslime tragen unter Hunderten von Fotografien der Muslima nur rund 32% ein Kopftuch (www.moslima.com 'women's gallery"). Die Lufthostessen der Emirates Airlines und Qatar Airlines, aus muslimischen Länder also, tragen kein Kopftuch, Haar und Hals sind sichtbar. Sind sie dort rassistisch, intolerant oder islamophob?

Soheib Bencheickh, Großmufti von Marseille schrieb: "Si le voile empêche les femmes d'étudier et de travailler, qu'elles l'ôtent et qu'elles restent pudiques. L'islam n'est pas là pour pousser nos filles à l'ignorance ou au chômage". (Wenn der Schleier die Frauen daran hindert zu studieren und zu arbeiten, sollen sie ihn ablegen und keusch bleiben. Der Islam ist nicht da, um unsere Mädchen in die Dummheit oder die Arbeitslosigkeit zu treiben. N.d.Ü) Und schließlich erklärt der Botschafter von Marokko am 29. 09. 2009 in LeVif / L'Express : "Le voile n'est pas nécessairement islamique. Il est surtout l'expression d'une affirmation identitaire, conséquence d'un réel mal-être au sein de la société, en l'occurrence, au sein de la société belge. Les contenus qu'il véhicule s'avèrent très nombreux. Il faut donc relativiser cette notion de 'voile islamique'". (Der Schleier ist nicht notwendigerweise islamisch. Er ist vor allem der Ausdruck einer Identitätsbejahung, Konsequenz einer reellen Diskriminierung in der Gesellschaft, d. h. im Herzen der belgischen Gesellschaft. Die Formen, die sie hervorbringt, sind zahlreich. Man muss daher die Bedeutung dieses Begriffes „islamischer Schleier“ relativieren. N.d.Ü)

g. Schlussfolgerung.  
 
(1) Die Aussagen über Kleidung im Koran haben, sowohl bei den Islamgelehrten als auch in dem tatsächlichen Verhalten der Frauen, zu einer solchen großen Vielfalt der Interpretationen geführt, dass von einer klaren Regelung keine Rede sein kann. So ist es sehr schwierig auf sie zu verweisen um von einer Verletzung der Religionsfreiheit  sprechen zu können (siehe auch oben, "1. d. (3) (ii)).
 
(2) Obwohl der Gesichtsschleier (Niqab) und später das Kopftuch (Hijab) unbestreitbar von progressiven muslimischen Frauen viele Jahre lang als Symbol der Unterdrückung gesehen wurden, ist dass jetzt, vor allem im Westen, anscheinend weniger der Fall. Die meisten Muslima kennen ja die Geschichte der Frauen im Islam nicht, oder besser, durch irreführende Ausbildung haben sie darüber eine völlig falsche Vorstellung. Doch kann es ihnen nicht unbekannt sein, dass heute noch in vielen islamischen Ländern eine bestimmte Kleidung brutal erzwungen wird: Peitschenhiebe in Iran und Sudan, Schwefelsäure ins Gesicht in Algerien, Gewehrschüsse in Kaschmir, Brutalisierung in Afghanistan, Pakistan, etc. Diese Länder zeigen, dass der "Herr über das eigene Haupt" sicherlich keine islamische Tradition ist. Es ist überraschend, sogar schmerzhaft, dass Solidarität mit den Frauen, die wegen ihrer Kleidung misshandelt wurden und werden, unsere Muslima wenig berührt. Fragwürdige Textinterpretationen scheinen über die Sympathie mit dem Leiden ihrer muslimischen Schwester zu gehen.
 
(3) Unter Berücksichtigung der oben erwähnten Vielfalt, ist das Tragen des Hijabs vom al Amira Typ, mit dem Schwerpunkt auf das Bedecken von Hals und Haaren, ohne Zweifel ein Ausdruck und damit ein Symbol für eine fundamentalistische Auslegung des Korans und der Sunna: Man verweist wiederholt auf die gleichen Verse, mit der Auslegung, die frauenfeindliche islamische Gelehrten seit Jahrhunderten gegeben haben. Viele junge Muslima bei uns sind sich dieses Aspektes nicht bewusst: Man hat ihnen von Kindheit an diese Interpretation als normal dargestellt. Das Gleiche gilt übrigens auch für den Kreationismus, den viele als einen wesentlichen Bestandteil des Islams sehen. Die Hauptschuldigen sind so die Lehrer und Imame. Aber unser Verständnis und sogar Scheu vor dieser irregeleiteten Jugend sollte uns nicht daran hindern, sie mit der Wahrheit zu konfrontieren.
 
(4) Jeder hat das Recht fundamentalistisch zu sein – d. h. in einer traditionellen Lesart streng nach dem Buchstaben des Korans zu leben - aber wenn dieses offen gezeigt wird, entsteht der wachsende Verdacht, dass man auch die anderen Koranverse fundamentalistisch interpretiert. Diese Art von Textinterpretation führt dann zu der Annahme der Gehorsamspflicht der Frau gegenüber ihrem Mann, dem Recht des Mannes sie zu schlagen, dem Recht des Vaters über die Eheschließung der Tochter zu entscheiden, die Autorität des Bruders über seine Schwestern, die Akzeptanz von Kinderehen, die Abscheu vor der Homosexualität, die Negation der Shoah und die Ablehnung der Evolutionstheorie.
 
(5) Aus dieser Perspektive ist es offensichtlich, dass in Umgebungen, wo entschieden ein unaufdringlicher Umgang mit Andersdenkenden erwartet wird - wie in einem schulischen Umfeld oder bei Menschen, die Autoritätsfunktionen ausüben - solches radikale Verhalten unzulässig ist.

3. Der Islam und das Kopftuch in der belgischen Gesellschaft
 
a.  Bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts war der Stempel der Religion (in diesem Fall Katholizismus), nicht aus dem gesellschaftlichen Leben wegzudenken. Nicht nur existierte die weltanschauliche Erstarrung, mit einem Übergewicht (in Flandern) der katholischen Säule, auch die Behörden, die neutral zu sein hätten, waren es nicht. (…)

b.  In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts hat dann ein Säkularisierungsprozess  begonnen, durch den die religiös-säkularen Gegensätze allmählich aus dem öffentlichen Leben verschwanden.
Die Entkirchlichung hat sich schnell durchgesetzt und die Autorität der katholischen Hierarchie verblasste. (…) Auch die Priester und Mönche haben ihre stark auffallende Bekleidung aufgegeben.

Diese Form der Befriedung durch Säkularisierung ist ein wertvolles Gut. Sie greift in keiner Weise die Freiheit der Meinung und Meinungsäußerung an, da es genug Medien gibt, um die eigene Meinung zu verteidigen, ohne sie unerwünscht anderen aufzuzwingen. Die erste Generation der muslimischen Einwanderer hat die Säkularisierung nicht infrage gestellt: Sie blieben ihrer Religion treu, ohne das auf eine übertriebene Weise zu manifestieren. Frauen, die arbeiteten trugen, oft ein leichtes Kopftuch, wie sie es in ihrer eigenen Region gewohnt waren. Niemand hatte ein Problem damit. Die meisten Mädchen, die studierten, trugen gar kein Kopftuch.
 
c.  Unter dem Druck der fundamentalistischen Bewegung (Iran, Muslimbruderschaft, Salafisten ...), ist seit den 80er Jahren, teils angeregt durch die Ereignisse auf internationaler Ebene (z. B. 11.09) eine stärkere Bejahung des Muslimseins entstanden, wodurch der Konfliktstoff (diskutiert unter 1. b.c.d) nun wirklich in den Vordergrund trat.
 
Diese globale Bewegung ist bei uns durch den Religionsunterricht und unter Einfluss einiger Imame in die Moscheen und Schulen eingedrungen. Das hat sich als erstes im Aufstieg der al Amira Hijab deutlich manifestiert. Die autochthone Bevölkerung ist sich dessen erst bewusst geworden durch seine Ausbreitung bei immer mehr Beamten und bei einer zunehmenden Anzahl von (meist) minderjährigen Schülern.
Diejenigen, welche das Problem bei einer anti-islamischen Reaktion der Autochthonen suchen, stellen, wahrscheinlich gedankenlos, die Sache auf den Kopf. Der Prozess der Säkularisierung, welcher die religiösen Gegensätze dadurch befriedete, dass er deren ungefragten öffentlichen Äußerungen aus dem öffentlichen Leben abfließen ließ, war ein sehr positives Geschehen, das ohne Zwang auskam.
 
Ausgerechnet dieser Prozess wurde unterbrochen durch die salafistischen religiösen Einflüsse von Religionslehrern, die Kinder ermutigen, veraltete islamische Interpretationen in Form der Hijab auszudrücken. Kleidungsvorschriften, wie das allgemeine Verbot einer Kopfbedeckung im Unterricht, die jeder früher ohne Probleme akzeptierte, führen jetzt zu heftigem Widerstand. Die Leute realisieren nicht, dass die langsame Entwicklung in Richtung einer friedlichen Gesellschaft, welche die Religion als Konfliktstoff hinter sich gelassen hat, durch diese provokatorischen Äußerungen in umgekehrter Richtung getrieben wird. Man realisiert nicht, dass, wenn wir Hijab, mit Hinweis auf die Religionsfreiheit in Schulen und bei Beamten zulassen, die unter '1. b. c. d.' angesprochenen Verhaltensweisen und Praktiken sich mit den gleichen Argumenten etablieren werden - etwas, das wir jetzt bereits feststellen können.
Insbesondere wird dabei vergessen, dass es dann jedem frei steht, durch die Kleidung die eigenen Sichtweisen zu artikulieren. Ein T-Shirt mit den Worten "Allah gibt es nicht" in der Schule oder bei Beamten (und viele weniger saubere Varianten) würde dann eine rechtmäßige Meinungsäußerung sein. Eine friedliche Gesellschaft können wir dann wohl vergessen.
 
Kurz gesagt, das öffentliche Aufzwingen von markanten religiösen Symbolen in einer Gesellschaft, die sich davon bereits verabschiedet hatte, ist die eigentliche Quelle des Konflikts, und nicht eine plötzliche Reaktion der Intoleranz oder Islamophobie.
 
Viele Gegner des Kopftuchverbots starren verblendet auf die belgische Situation und sind sich nicht der globalen Natur dieser Bewegung bewusst. Sie denken, dass die Muslime noch keine Zeit hatten, sich an unsere Kultur anzupassen, während sich de facto eine Gegenbewegung gegen diese Art der Anpassung entwickelt hat.

Sieht man wirklich nicht, was in Algerien, Sudan, Ägypten, Kaschmir, der Türkei, Pakistan, Afghanistan, Malaysia, Nigeria und vielen anderen Ländern los ist? Im Vereinigten Königreich, das einigen als Beispiel dient, muss man jetzt ein Zugeständnis nach dem anderen machen: Da haben sich der Niqab und die Burka in Marsch gesetzt, Demonstrationen für den Mord an Salman Rushdie konnten frei stattfinden und Sharia-Gerichte arbeiten bereits in vielen Stadtteilen.

4.  Der Schleier, Argumente pro und contra
 
a.  Argumente pro.

Wer muslimische Frauen fragt, warum sie den Hijab tragen, bekommt immer die folgenden Antworten. (i) "Gott verlangt dies von mir: Das Kopftuch ist ein Fundament und eine Verpflichtung für alle Muslima." Hierbei nehmen sie Bezug auf die oben zitierten Verse (2. a.). "Mein Kopftuch ist ein objektives Symbol für eine bestimmte Haltung gegenüber dem Koran." (ii) "Ich trage diese für mich selbst, um zu verhindern, dass Männer mich mit Hintergedanken anschauen: Die meisten Männer sehen ja Frauen als Sexobjekte." (iii) "Ich trage den Hijab völlig freiwillig, aber nach Sure 103, 3, muss man andere ermutigen, Gutes zu tun und so gilt das auch für das Tragen des Kopftuchs." (iv) Das Ablegen des Hijabs würde bedeuten, dass ich Abstand von meiner Identität nehme, es ist, als ob ich mein Herz abgeben würde. "(oder "meine Hose ausziehen"). (Diese Aussagen sind Briefen von Muslima entnommen).
 
b. Einwände gegen diese Argumente.

Es gibt keinen Grund, an der Aufrichtigkeit dieser Mädchen zu zweifeln. Sie sind repräsentativ für mindestens einen Teil der Träger eines Kopftuches. Wie repräsentativ, das ist ohne Überprüfung schwer zu schätzen. Auf jeden Fall geht es um tugendhafte, fromme und tapfere Mädchen, die unsere volle Achtung verdienen. Ihre Briefe geben oft Zeichen von Höflichkeit und Freundlichkeit, wovon einige Kolumnisten und "Mainstreamautoren“ immer noch viel lernen können.
Es ist daher schmerzhaft ihnen erklären zu müssen, dass sie seit der Kindheit, wahrscheinlich durch ihre Eltern, vor allem aber durch Imame und Religionslehrer indoktriniert worden sind. Es ist ihnen Folgendes nicht weiter erklärt:
 
(1) Kleidungsvorschriften, die für die Kultur einer Wüste im siebenten Jahrhundert adäquat waren, sind zwangsläufig zeit- und ortsgebunden und können daher keine allgemeine Tragweite haben.

(2) Die islamischen Gelehrten und die verschiedenen islamischen Kulturen, haben diese Texte unterschiedlich interpretiert und es ist daher normal, dass auch unsere muslimischen Frauen, sich an die hier gängigen Gebräuche anpassen. Niemand wird es ihnen verdenken, wenn sie hierbei, in Treue zu ihrem Glauben, etwas Bescheidenheit und Schlichtheit, zum Beispiel beim Make-up und Parfüm, anwenden.

(3) Wer, dem Geist des Koran und Sunna folgend, nicht zu stark die Aufmerksamkeit erregen will, dann geschieht dies am besten dadurch den Hijab nicht zu tragen, denn nichts ist auffallender als das Kopftuch.

(4) Der Verweis auf die "Fitna", nachdem der Reiz vom unbedeckten Kopf der Frau ausgehen würde und die Sinne der Männer durcheinanderbringt, impliziert - abgesehen von der Lächerlichkeit dieses Argument - dass wieder einmal die Frau  für möglich unanständiges Verhalten der Männer verantwortlich gemacht wird. Übrigens verändert das, was „Reiz“ ist, sich von Kultur zu Kultur.

(5) In Übereinstimmung damit: Nach der traditionellen Sunna, muss der Körper des Mannes vom Nabel bis zum Knie bedeckt sein. Merkt man davon viel in Schwimmbädern und auf Sportplätzen? Oder sind wieder mal nur die Frauen an Regeln gebunden?

(6) "Fitna" hat auch die Bedeutung der Störung, Unordnung, Zwietracht. Der aktuelle Zank, der das hartnäckige Festhalten am Schleier verursacht, ist eine Form von "Fitna", die nicht das gegenseitige Verständnis zwischen Muslimen und anderen fordert.

(7) Es ist wahr, dass einige muslimische Frauen das Kopftuch freiwillig tragen, aber das ist nur ein Aspekt der ganzen Angelegenheit. Eine Umfrage der flämischen Wochenzeitschrift Humo (2007) ergab, dass 35% der islamischen Männer dafür sind, das Tragen des Hijabs verpflichtend zu machen. Diese Männer als Vater, Ehemann oder Bruder, können einen mehr oder weniger subtilen Druck auf mindestens dreimal so viele Frauen auszuüben. Es gibt Frauen, die das nach einiger Zeit demütig akzeptieren. Aber man ist ratlos, wenn einige Feministinnen dieses Spiel der ungleichen Machtverhältnisse als Modell für die Emanzipation der Frauen darstellen. (Siehe auch oben: '2 g (2) und '1 d (3) (IV-V)).

(8) Dass der Verzicht auf ein bestimmtes Kleidungsstück für einige Zeit ein Gefühl der Entfremdung verursachen kann, ist wahr, aber das dauert höchstens einen Monat. Übrigens gilt dies insbesondere, wenn das Tragen des Hijabs seit der Kindheit geschah, aber so etwas kann per Definition nicht eine freie Wahl gewesen sein.

(9) Schließlich, für diejenigen, die glauben, sie würden einem göttlichen Gebot untreu, wenn sie den Schleier abnehmen, können wir daran erinnern, dass die allgemeinste Eigenschaft Gottes im Koran die Barmherzigkeit ist: Bismillahi rahmani rahim (im Namen Gottes, der Barmherzige, der sich Erbarmende). Wenn der Koran eine Verpflichtung erwähnt, die, wegen der Umstände oder aufgrund von Druck von außen nicht befriedigt werden kann, dann gibt es die tröstliche Zugabe "Gott ist barmherzig." Der Respekt für den Islam würde sich deutlich erhöhen, wenn diese Grundaussage des Koran mehr berücksichtigt würde.

c. Argumente für ein begrenztes Kopftuchverbot.
 
Um Missverständnissen vorzubeugen, ist es sinnvoll, die Allgemeingültigkeit unserer Ansichten dazu zu präzisieren. 

(1) Die muslimische Gemeinschaft könnte positiv zum friedlichen Zusammenleben in einer säkularen Gesellschaft beitragen, wenn sie - wie die marokkanische Regierung - auf die Auffassung verzichtet, dass das Kopftuch, insbesondere der Hijab, eine göttliche Pflicht sei. Auch Imame und Religionslehrer sollten Minderjährige nicht lebenslang den Fluch eines solchen Gebots aufhalsen. Wenn erwachsene Frauen später, ohne jegliche Beeinflussung aus ihrer Kindheit, nach reiflicher Überlegung sich für eine gewisse Kleidung entscheiden, sollte das jeder respektieren, ohne daraus zu folgern, dass diese Wahl besser ist als eine von Anderen. Wenn sie dabei so weit gehen, eine Arbeit zu verweigern, wo eine Kleiderordnung gilt, dann ist das ihre eigene Entscheidung, einschließlich der damit verbundenen Konsequenzen.

Es wäre ein Nutzen für eine friedliche Gesellschaft, wenn jeder so viel wie möglich vermeidet, kontinuierlich die eigene Weltanschauung an die große Glocke zu hängen. Das schließt nicht aus, dass die Menschen ihren Glauben gemeinsam in Kirchen, Moscheen usw. erleben, und kein vernünftiger Mensch hat etwas gegen gelegentliche Treffen im öffentlichen Raum, wie eine religiöse Beerdigung, einen Papstbesuch und die Feier des Zuckerfestes (nach dem Ramadan).

Wir befürworten daher ein "low profile " für das kontinuierliche, öffentliche Äußern der eigenen Meinung.  Das ist ausdrücklich kein Plädoyer für ein generelles Verbot des Hijabs. Der Grundsatz der Meinungs-und Religionsfreiheit wäre gefährdet und es ist viel besser, dass eine solche Entwicklung sich durch eigene Einsicht in Ruhe und schrittweise durchsetzt. Jede Kritik eines generellen Kopftuchverbots ist deshalb in dieser Hinsicht sinnlos.
 
(2) Ein generelles Verbot des Tragens eines Gesichtsschleiers (Niqab oder Burka) im öffentlichen Raum ist jedoch eine Notwendigkeit. 

(a) Dies ist ein Grundsatz der öffentlichen Ordnung: Das Verstecken des Gesichts stellt eine gesellschaftliche Gefahr dar: Die Identifizierung der Täter rechtswidriger oder unmoralischer Handlungen und feindseliger Äußerungen (Beleidigungen) wird dadurch unmöglich oder sehr schwierig. (Während der traditionellen Karnevalfeier sind in einigen Städten Masken erlaubt, aber innerhalb eines klar begrenzten Zeitraumes.)

(b) Aus der traditionellen islamischen Interpretation heraus symbolisiert diese Art von Schleier unzweifelhaft, dass die Frau ausschließlich ihrem Mann gehört, nicht nur im Hinblick auf die intimen Beziehungen sondern auch im Hinblick auf ihre ganze Persönlichkeit. Von einem modernen menschlichen Gesichtspunkt auf die menschlichen Beziehungen heraus ist das eine unzulässige Diskriminierung. Eine eventuelle Zustimmung der Frau ändert das nicht: Man hat kein Recht, auf die grundlegenden Menschenrechte zu verzichten.

(c) Im Islam werden die Burka oder der Niqab durch die hanefitischen und schiitischen Rechtsschulen nicht obligatorisch auferlegt und seit den Reformbewegungen der 1900er Jahre wird dieser Schleier von der großen Mehrheit der Muslime von fast allen Rechtsschulen nicht mehr als religiöse Pflicht betrachtet. Die Anrufung der Religionsfreiheit ist sicherlich in diesem Fall völlig ausgeschlossen.

(d) Die Bemerkung, dass das Problem sich kaum stellt, und somit nicht dringend ist, ähnelt stark eine Vogel-Strauß-Politik. (i) Die Situation in England und Frankreich zeigt, dass das Problem sich bald auch bei uns deutlicher manifestieren wird. (ii) Jetzt, da das Problem noch nicht akut ist, kann es auch ohne viel Widerstand gelöst werden.
 
(3) Im Zusammenhang mit dem gewöhnlichen Hijab verteidigen wir die Auffassung, dass in bestimmten definierten Situationen das klare Zurschaustellen einer bestimmten Religion oder Weltanschauung verboten werden kann.

Das Recht auf freie Meinungsäußerung bedeutet nicht, dass man seine Meinung unter allen Umständen darstellen darf. Eine katholische Schule hat das Recht, einen Lehrer im Klassenzimmer das Halten eines atheistischen Plädoyers zu verbieten und auch in einer öffentlichen Schule ist eine Lehrerin an die Neutralitätsverpflichtung gebunden.
So kann eine Art von Kleidung oder andere Merkmale, die eindeutig auf die Weltanschauung der Person hinweisen, verboten worden, sei es für Lehrer und Schüler in der geschlossenen Umgebung einer Schule, die vor allem Minderjährige besuchen, oder für Beamte bei der Erfüllung ihrer Aufgaben. Darüber hinaus können Unternehmen (wie die Bahn oder Emirates Airlines) aus verschiedenen Gründen eine Kleiderordnung für ihre Mitarbeiter anordnen.

(4) Die Frage der Beamten wird hier nicht weiter diskutiert: es genügt der Hinweis (zusätzlich zu '3. b "und" '4. b. (1) - (9)), dass alle Personen, die entweder intern oder extern Einfluss oder Macht ausüben, nach dem berühmten Urteil eines britischen Richters, sogar die Vermutung einer eventuellen Parteilichkeit unmöglich machen müssen (Gordon Hewart (1924): "not only must Justice be done, it must also be seen to be done").
 
(5) Eine Verordnung für die Primar- und Sekundarschulen sollte selbstverständlich für die ganze Schule gelten. Der Vorschlag, ab dem Erreichen eines bestimmten Alters  (z. B. 16 Jahre) etwas zu verbieten oder zu erlauben, würde zur Diskriminierung von Schülern in derselben Klasse führen, und würde die Kontrolle der Anwendung dieser Regeln unausführbar machen.
 
(6) In den Grundschulen ist ein Verbot des Hijabs eine offensichtliche Notwendigkeit. Auch in vielen muslimischen Ländern ist es üblich, Kleidungsordnungen nur ab dem Beginn der Pubertät anzuordnen. Der Islam kennt keine Kopftuchverpflichtung für sexuell unreife Mädchen (auch nicht für Frauen nach der Menopause: S. 24, 60).
Ein Appell an die religiöse Freiheit ist in diesem Zusammenhang daher nicht möglich.
Aus unserer Sicht begeht man auch einen Verstoß gegen die Rechte des Kindes, wenn es während dieser Zeit der Unmündigkeit in eine Zwangsjacke gezwungen wird, aus dem es schwierig ist, sich später zu befreien. Als "Herr über das eigene Haupt" kann man so ein Kind natürlich nicht bezeichnen.

Grundsätzlich ist es in diesem Alter wichtig, dass die Kinder in den Schulen sich ausrichten auf das, was sie verbindet: Wir müssen jeden Anlass zur Isolation oder Diskriminierung in jeder Richtung vermeiden.
 
(7) Das Problem ist vor allem eins auf dem Niveau der Sekundarstufe. Obwohl die Rechte aus Art. 9 EMRK nicht in vollem Umfang gelten, weil diese Schüler in der Regel noch unter Vormundschaft stehen, erkennt man diesen aber ein gewisses Recht auf Mitsprache bei den sie betreffenden Angelegenheiten zu. Ein Verbot des Kopftuchs verlangt deshalb eine detaillierte Argumentation.
 
(a) Die Schule, insbesondere die Klassen in der Sekundarstufe, führt zu intensiven Kontakten zwischen jungen Menschen, die so stark sein können, dass sie sich ein Leben lang daran erinnern (davon zeugen die vielen Klassentreffen noch Jahrzehnte später). Dieser interne Zusammenhang ist eine Quelle von positiven Erfahrungen: die Interaktionen und Freundschaften, unabhängig von Muttersprache, ethnischer Zugehörigkeit oder Ideologie, können einen starken Einfluss in Richtung Toleranz und Gemeinsamkeit ausüben. Um sicherzustellen, dass alle Meinungen und Befindlichkeiten im gleichen Umfang berücksichtigt werden, ist es wünschenswert, dass keine Meinung in einer bestimmten Weise in den Vordergrund gesetzt wird.

Jahrzehnte lang waren Probleme in dieser Hinsicht nicht vorhanden. Das Aufkommen des Hijabs, und dies allein, hat diesen Konsens nun in mehreren Schulen durchbrochen.
Wie oben erläutert ('2, g, (3) - (5)) beschränkt das Kopftuch sich nicht in einer bloßen Bezugnahme auf eine bestimmte Herkunft  - wie das mit einem Kreuzchen, einem Sternchen, einem Händchen der Fatima oder einem (Freidenker-) Fackelchen an einer Kette, vielleicht der Fall sein könnte -: Es geht im Gegenteil hierbei um den Ausdruck einer fundamentalistischen Auslegung des Korans und der Sunna, die auch von vielen Muslimen nicht geteilt wird (siehe 2 b.-f.).

Das bedeutet, dass in Bezug auf verschiedene Überzeugungen und Einstellungen (auf die Mann-Frau-Beziehungen, die Evolution, die Homosexualität, etc.) Cliquen entstehen können, während im Unterricht jeder einzelne Schüler in Interaktion mit den Lehrkräften und allen Mitschülern zu einer autonomen, eigenen Meinung kommen sollte. Solche Gruppenbildung führt zu dem, was in Frankreich "Kommunitarismus" genannt wird und ist verhängnisvoll für eine offene, individuelle, persönliche Entwicklung junger Menschen.
 
(b) Die enge Beziehung innerhalb einer Schule oder Klasse oder einer Teilgruppe davon, kann auch negative Aspekte verzeichnen, wobei die gegenseitige Kontrolle zu Beeinflussung und Einschüchterung führen kann. So kann die Freiheit, z.B. kein Kopftuch zu tragen, die Evolutionstheorie zu verteidigen oder einen regen Kontakt mit Jungs zu haben, etc., in Gefahr kommen. Wer das Bestehen solcher Mechanismen bestreitet, hat keine Kenntnis von Gruppendynamik und hat keine Kontakte in der muslimischen Gemeinde (oder handelt einfach in böser Absicht). Solche Zustände werden durch die Betroffene als schmerzhaft wahrgenommen und bremsen die Entwicklung zu einem freien und solidarischen Erwachsenenwerden. Die Geschlossenheit der Gruppe und die Angst als "Verräter" zu gelten, verbunden mit der inneren Unsicherheit, verhindern oft dem Eingeschüchterten das Problem nach außen zu tragen.

(c) Das starre Festhalten einiger jungen muslimischen Frauen an das Erfordernis des unbeschränkten Tragens des Hijabs, kann zu solch einem hohen persönlichen Engagement für diesen Lebensstil führen, dass die Versuchung groß wird, den fundamentalistischen Weg weiterzugehen. Mit dem Ergebnis, dass es später immer schwieriger wird, ihn zu verlassen (siehe hierzu die "Dissonanztheorie“ von Leon Festinger). Die Chancen im Erwerbsleben werden damit erheblich reduziert, um von schlimmeren Entgleisungen in extreme Richtungen zu schweigen.
 (…)
 
(d) Akzeptieren, dass jeder seine Weltanschauung äußerlich zum Ausdruck bringen darf, hat zum Ergebnis, dass man auch andere Ausdrücke gestatten, muss („eigenes Volk zuerst“) was die gegenseitige Toleranz und Frieden gefährden kann (siehe oben " 3.c.).
 
(e) Fazit. Diese vier Erkenntnisse, verbunden mit den oben erwähnten allgemeinen Sorgen ('3. c.) gegen das ständig Profilieren als Anhänger einer bestimmten religiösen Strömung, reichen voll um ein generelles Verbot des Hijabs in der Sekundarstufe zu verwirklichen.
 
Die Vorstellung, dass private Regeln nur für bestimmte Schulen akzeptabel sind, berücksichtigt nicht, dass die obigen Einwände grundsätzlich und somit allgemein anwendbar sind. Außerdem sind die derzeitigen negativen Auswüchse hier und da die Folge einer Eigendynamik: Sobald eine ausreichende Anzahl von Schülern den Hijab tragen, werden diese Probleme generell entstehen. Es ist sinnlos zu warten, bis in anderen Schulen Zwischenfälle entstehen, um dann wieder mit dem nötigen Lärm konfrontiert zu werden. Und wir müssen es wiederholen, sollten die Gerichte doch entscheiden, dass die Religionsfreiheit auf dem Spiel steht, würde nur die Unterstützung durch ein allgemeines Gesetz oder eine Verordnung eine endgültige Entscheidung ermöglichen.
 
d.  Argumente gegen ein Verbot von Kopftüchern in Schulen.
 
Die meisten Argumente die man in den verschiedenen „Meinungsbeiträgen“ und Leserbriefen findet, werden durch die obige Argumentation ungültig. Sie enthalten meist Allgemeinheiten und scheinen mehr auf ein vollständiges Verbot von Kopftüchern im öffentlichen Raum gerichtet zu sein, etwas, was hier nicht die Frage ist. Wir betrachten nur die, welche eine besondere Aufmerksamkeit erhalten haben.
 
(1) Die Verletzung des Rechts auf Religionsfreiheit und freie Meinungsäußerung. Diejenige, welche dieses Argument anführen, sogar einige "Experten", scheinen die Probleme unter, '1. a. b. c. d.'. nicht zu kennen. Sie erkennen nicht, dass die allgemeine Anwendung von Praktiken, die in islamischen Ländern gängig sind, bei uns zerstörend wirken würden. Das Ausmaß, in dem die durch Art. 9 EMRK geschützten Rechte hier anwendbar sind, kann nur nach nuancierter Evaluation bestimmt werden. Diese Evaluation haben wir nirgends gesehen.
Es wird insbesondere davon ausgegangen, dass das Tragen des Hijabs eine religiöse Pflicht ist. Diese grundlose Behauptung haben wir unter '2 a.g. verrissen. Welche Art von Kleidung nach wem eine Verpflichtung ist, findet auch innerhalb der islamischen Welt keine Übereinstimmung. (…) Ihr Plädoyer berücksichtigt nicht die positiven Argumente für ein Verbot für Schulen, wie in Abschnitt '4. c. (4)-(5)'.diskutiert.
 
(2) Argumente zur Trennung von Staat und Kirche. Das Problem steht hier nicht. Die stattdessen angebrachte Frage ist, wie Normen und Gebräuche einer Religion in Konflikt mit denen der europäischen Gesellschaften kommen. Schulen können bei uns, abhängig vom Schulnetz, einzeln oder gemeinsam ihre Regeln bestimmen. Bei Streitigkeiten kann das Gericht eventuell beschließen, dass bestimmte Menschenrechte bedroht sind. Die Parlamentsabgeordneten können dann entscheiden, ob wegen des öffentlichen Interesses, eine gewisse Einschränkung eines Grundrechts gerechtfertigt ist. Weiter hat das mit dem Konfliktbereich Kirche und Staat nichts zu tun.
(…)

(c) Der Aufruf um die allgemeine Entscheidung (zum Verbot des Kopftuches. N.d.Ü) in einem flämischen Schulnetz zu überprüfen, muss deshalb gegen jede solide Argumentation den Kürzeren ziehen. Es gibt viele Gründe nicht zu akzeptieren, dass eine einzige fundamentalistische Auslegung einer Religion sich konstant in der Klasse profilieren darf. Oder wollen wir auch alle anti-religiösen oder anti-sozialen Meinungen ähnliche Rechte verschaffen?
Empfindet man außerdem keine Empathie für Lehrer, die die Evolutionstheorie erklären müssen und den Eindruck bekommen, gegen eine Mauer zu reden, eine Mauer von ablehnenden Hijabs?
 
Man fordert zu Recht einen aktiven Pluralismus. Aber bedeutet das, dass nur eine und einzige Gruppe offensiv eine bestimmte Auslegung einer Religion bezeugen darf? Sollte das Ziel nicht eher sein, dass Schüler unterschiedlicher Herkunft objektiv über die religiösen Inhalte und Gebräuche ihrer Mitschüler informiert werden? Dass sie eine gegenseitige Sympathie entwickeln durch das Miterleben der Chanukka, der Weihnachtsfeier, des Zuckerfestes (Ende des Ramadan), etc., wovon man den Hintergrund erklären kann? Man kann auch, in genehmigten Stunden, moderierte Diskussionen um die verschiedenen Weltbilder organisieren. Man kann Ausarbeitungen über die "Barmherzigkeit" im Islam, die "Liebe deine Feinde" des Christentums, die Geschichte von "Nathan der Weise" über die Toleranz von Freisinnigen, etc stimulieren. Dies kann zu gegenseitigem Respekt führen. Andere ständig unaufgefordert konfrontieren mit den eigenen, oft engstirnigen Einstellungen, trägt nicht dazu bei. Lassen Sie ja den echten Respekt zurückkehren!
 
(4) In anderen Beiträgen findet man oft das Argument, dass muslimische Frauen ihre eigene Identität  zum Ausdruck bringen dürfen. Warum müssen muslimische Jungen das nicht tun? Ist das keine Diskriminierung?

Pater Damiaan (Ein flämischer Missionar, bekannt durch seinen Einsatz für die Leprakranken. N.d.Ü) ) trug ein Priesterkleid, weil dies die Praxis war, aber er drückte seine wahre Identität durch die Leprakrankheit aus: das Ergebnis seiner völligen Hingabe im Dienst der Anderen. Jeder Mensch hat mehrere Identitäten: Wir sind Männer, Frauen, künstlerisch begabt oder nicht, intelligent oder mittelmäßig, aufbrausend oder geduldig, Arbeiter oder Beamter, Mutter oder kinderlose Frau, etc.
Wer aber das Erleben von Religion oder Weltanschauung zentral als Identität stellt, drückt dies am besten nicht durch äußere Zeichen aus, denn es geht dabei viel um Heuchelei. Lass der gute Muslim oder Christen oder Humanisten, durch seine Lebensweise und seinen Dienst für andere, von seiner Identität zeugen.
 
Es ist auch eine eher seltsame Gewohnheit persönliche Identität durch das Tragen einer Uniform auszudrucken. Man nennt das dann paradoxerweise ein Streben nach Diversität! Das Jugendliche in der Pubertät ein Bedürfnis nach Vorbildern und ihre Identität in einer Zugehörigkeit zu einer Gruppe suchen, ist verständlich. Doch das Hineinwachsen in das Erwachsensein bedeutet die Entwicklung einer echten, persönlichen Identität, und Uniformen - außer in beruflichen Kontext - reduzieren das Individuum zu Komponente eines Gesamtsystems, ein ungenannter Mitläufer in einer alles bestimmenden Bewegung.

Schließlich hat der Schleier als Symbol der muslimischen Identität keine Grundlage in der muslimischen Tradition. Er konnte es nicht, da fast alle Frauen in islamischen Ländern, "Dar-al-Islam“,  Muslima waren. Es gibt wohl einen Identitätsaspekt, über den die Tradition keinen Zweifel lässt: Sie trugen die Kopfbedeckung, um zu zeigen, dass sie keine Sklavin waren. Wäre das nicht eher ein Grund, um den Schleier endgültig mit dem Mantel der Scham zu bedecken?

(5) Aber wenn man immer noch glaubt, dass jeder in einer Schule seine "Identität" extern zeigen kann, muss dies auch für eine "Punk-", eine "Gothic-" und vielleicht auch für eine extrem rechte "Skinheads"-Identität gelten. Ist das der richtige Weg? Sollte eine Schulordnung alle Arten von Tattoos oder Piercings im Gesicht erlauben - auch Ausdruck einer Identität - oder soll man erst aufbegehren bei 56 Sternchen oder einem Gesicht wie eine Eisenhandlung? Kurz, gegenüber einer einfachen Regel über das Aussehen, steht so ein unübersichtliches Sammelsurium von möglichen Entgleisungen.
 
 (6) “Nicht was man auf den Kopf trägt ist wichtig, sondern was drin ist“. Dem steht ein anderes Motto gegenüber: „Der Glaube sitzt im Kopf, nicht auf dem Kopf als ein Label“. Die Wahrheit ist, dass Kleidung und Kopfbedeckungen wohl oder nicht Symbol sein können für das, was im Kopf ist. Der nackte Schädel von Yul Brunner hatte keine weltanschauliche Bedeutung, die eines rechten Skinheads wohl. Etwas Ähnliches gilt für Kopftücher. Die Kopfbedeckungen unserer Mütter und Großmütter bedeuteten, außer in der Kirche, nichts. Wer sie mit dem Hijab - Exponent eines weltweiten Fundamentalismus - vergleicht, hat vom Problem  nichts verstanden.

(7) Einige Leute führen die derzeitigen Schwierigkeiten zurück auf ein schikanöses Benehmen einiger Individuen: Es genügt, gegen diese Praxis einzutreten. Sie sind sich nicht bewusst, dass die Indoktrination des Hijabs als göttliche Verpflichtung im Religionsunterricht beginnt und manchmal durch die Eltern ergänzt wird. Ist das ein schikanöses Benehmen, wogegen Schuldirektoren eintreten können? Man muss auch kein großer Psychologe sein, um zu wissen, dass Einschüchterung auf Angst beruht, nicht nur die Angst, etwas zu tun oder zu lassen, sondern vor allem die Angst vor der Bekanntgabe des Zwanges. 

(8)  Es geht auch um die Gefahr der Gründung von Islamschulen. Es wird eintönig: Erneut setzt man die Dinge auf den Kopf. Wenn Schüler oder ihre Eltern eine solide Lehranstalt verlassen wegen Hijabverbot, dann beweist das noch einmal, welche extremistische Gründe sich hinter dieser Idee verstecken. (Siehe das Urteil des Großmufti: ' 2. f. '). Wir sind überzeugt, dass eine große Mehrheit unserer Muslime diesen Fanatismus ablehnen. Diejenige, die es nicht tun, gehen ruhig ihren Weg: Die negativen Auswirkungen haben sie in vollem Umfang selbst verschuldet.

(9) Einige Politiker und Leitartikler scheinen in einer anderen Welt zu leben. Sie halten den Hijab (und sogar den Niqab) für die Manifestation einer ethnischen Vielfalt; die Reaktionen dagegen wären dann fremdenfeindlich oder gar rassistisch. Das steht völlig im Gegensatz zu dem, was die überwältigende Mehrheit der Verteidiger dieses Schleiers selbst sagt: Sie finden, dass sie einer religiösen Verpflichtung nachkommen und berufen sich daher auf den Grundsatz der Religionsfreiheit. Insbesondere die Tatsache, dass sie sich hartnäckig weigern, in bestimmten Zusammenhängen (Schule, Amtsausübung) auf die Kleidung zu verzichten, widerspricht einer rein ethnischen Dimension.
Niemand hat etwas einzuwenden gegen die Schotten, wenn sie bei bestimmten Anlässen ihren Kilt tragen. Kein vernünftiger Mensch würde protestieren, wenn Berbermädchen dann und wann sich mit der Kleidung ihrer Urgroßmutter schmücken, auch wenn ein Schleier dazugehören würde. Viele schwarze Frauen in Brüssel kleiden sich in einer Weise, die gegenwärtig wohl typisch für Zentralafrika ist. Niemand bekommt davon schlaflose Nächte. Nicht die ethnische Vielfalt ist hier das Problem, sondern das Aufbrechen einer durch Laizität befriedeten  Gesellschaft.

(10)   Die Argumente für ein allgemeines Verbot in öffentlichen Schulen sind stark genug um darin keine negative Haltung gegen den Islam zu sehen: Der wird behandelt wie alle anderen Religionen; er erhält nur, im Zusammenhang mit der Bekleidung keine Vorzugsbehandlung. 

 

Allgemeine Schlussfolgerung
 
a. Dies recht detailliertes Plädoyer war notwendig um die verschiedenen Aspekte dieser Frage aus verschiedenen Gesichtspunkten zu beleuchten. Es war auch erwünscht eine Antwort auf Argumente aller Art in den Medien zu finden.
(…)

b. Dieser Text ist von jemandem geschrieben, der seit Jahren den Islam untersucht und der die Hoffnung auf einen friedlichen Islam hat, der die Menschenrechte in ihrer Gesamtheit achtet und dass dies vor allem in Europa möglich ist. Solange salafistische und andere fundamentalistische Bewegungen im Religionsunterricht und bei einigen Imamen vorherrschen, ist das aber nur eitle Hoffnung.

Jedoch gab es in der Vergangenheit Strömungen, die als Auftakt zu einem modernen Islam gelten können. Zentral steht da die Mu’tazila Bewegung, die den geschöpften Charakter des Korans betont (insbesondere 8. und 9. Jahrhundert). Diese Vision bietet die Möglichkeit zu einer modernen, wissenschaftlichen Herangehensweise an die heiligen Texte. Auch die Studie der großen arabischen Philosophen, und insbesondere Ibn Rusd (Averroës) kann zur Erneuerung beitragen. Z. Zt. wird an diesem Weg auch gebaut durch Menschen wie Mohammed Arkoun, Malek Chebel, Faslur Rahman, Nasr Hamid Abû Zayd, Abdelmajid Charfi, Farid Esack, Rachid Benzine, etc. Das Bestreben dieser mutigen Denker (denken Sie an das Schicksal von Abû Zaid, 1995 zum Apostaten erklärt und seither vogelfrei) wird durchkreuzt durch den fundamentalistischen Kampf für die Verbreitung des Hijabs und die ihm entsprechenden traditionellen Fragen. Dennoch, nur in der progressiven Annäherung an den Koran und die Sunna liegt die Chance, ein friedliches Zusammenleben von Christen, Muslime und Atheisten möglich zu machen.

Wird ein aufgeklärter Islam gewinnen, oder gehört die Zukunft dem Fundamentalismus? Es wird für einen Teil abhängen von der Frage, auf welche Seite die europäischen Intellektuelle und Politiker sich einreihen werden. 

(Übersetzung: Rudolf Mondelaers)