Was gibt uns ein Recht auf Leben?

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Edgar Dahl © Evelin Frerk

(hpd) Anlässlich der Verleihung des Ethik-Preises besonders an Peter Singer kam Kritik am philosophischen Ansatz des Australiers auf. Was ist denn überhaupt Utilitarismus? Der hpd hat den Philosophen Edgar Dahl gebeten, einige Punkte in Singers Theorie allgemeinverständlich klarzustellen.

Am 3. Juni 2011 hat die Giordano-Bruno-Stiftung den Philosophen Paola Cavalieri und Peter Singer ihren mit € 10.000 dotierten Ethik-Preis verliehen. Diese Auszeichnung galt ihrem "Great Ape Project", das sie 1993 gemeinsam aus der Taufe gehoben haben. Dieses Projekt hat es sich zum Ziel gesetzt, den großen Menschenaffen einige grundlegende Menschenrechte, wie etwa das Recht auf Leben, das Recht auf Freiheit und das Recht auf körperliche Unversehrtheit, zu garantieren.

Obgleich das Great Ape Project, das von so namhaften Forschern wie Jane Goodall, Jared Diamond und Richard Dawkins unterstützt wird, vielerorts Beifall findet, stößt es doch bei einigen auch auf Kritik. Insbesondere die Behindertenbewegungen haben mit diesem Projekt ihre Mühe. Der Bundesbeauftragte für Behindertenfragen, Hubert Hüppe, hatte denn auch die Deutsche Nationalbibliothek wenige Tage zuvor in einem offenen Brief dazu aufgefordert, die Preisverleihung in ihren Räumlichkeiten zu verhindern. Nach seiner Auffassung gehen die Rechte der Affen zu Lasten der Rechte der Behinderten.

Wie kommen die Behindertenbewegungen auf diese Idee? Nun, Peter Singer hat ihren Befürchtungen in seinem 1984 erschienenen Buch "Praktische Ethik" durchaus Nahrung gegeben. An verschiedenen Stellen des Buches erklärt er, dass die Tötung eines Schimpansen, eines Elefanten, ja sogar eines Schweins ein größeres Unrecht darstelle als die Tötung eines schwerst geschädigten Neugeborenen.

Um zu verstehen, weshalb Singer den Tod eines Menschenaffen als eine größere Tragödie betrachtet als den Tod eines Menschenbabys, muss man seine Ethik etwas näher betrachten. In seinem Buch "Praktische Ethik" wirft er die Frage auf, weshalb wir zwar allen Menschen, nicht aber auch allen Tieren ein Recht auf Leben zuerkennen. Die übliche Antwort auf diese Frage lautet bekanntlich: "Weil wir Menschen und sie nur Tiere sind!"

Ein einfaches Gedankenexperiment

Wie Peter Singer zeigt, ist diese Antwort philosophisch unhaltbar. Wie sich mit Hilfe eines ganz einfachen Gedankenexperiments zeigen lässt, hat die bloße Tatsache, dass wir der Spezies Homo sapiens angehören, keine Bedeutung. Stellen Sie sich für einen Moment vor, dass die Anthropologen morgen entdeckten, dass alle Menschen mit grünen Augen gar nicht der Spezies Homo sapiens, sondern in Wirklichkeit einer ganz anderen Spezies angehörten. Würde dies bedeuten, dass wir sie ab morgen genauso behandeln dürften wie Rinder, Schafe oder Schweine? Wer „Nein!“ sagt, gibt zu, dass es nicht die bloße Zugehörigkeit zur Spezies Homo sapiens sein kann, die uns ein Recht auf Leben verleiht.

Wenn es aber nicht die Artzugehörigkeit ist, was ist es dann, das uns ein Recht auf Leben gibt? Die Antwort darauf ist gar nicht so schwer. Denken wir für einen Augenblick nur daran, was wir etwa zur Verteidigung derer vorbringen würden, die grüne Augen haben. Wir würden wahrscheinlich sagen: „Gut, vielleicht gehören sie biologisch nicht der Spezies Homo sapiens an, dennoch sind sie moralisch Wesen wie wir. Wie wir, so haben auch sie Hoffnungen, Wünsche und Träume. Wie wir, kennen auch sie Gefühle wie Liebe, Schmerz und Trauer. Und wie wir, wollen auch sie leben und nicht sterben.“

Wenn dies aber die Eigenschaften sind, über die ein Wesen verfügen muss, um ein Recht auf Leben beanspruchen zu können, dann müssen wir das Recht auf Leben konsequenter Weise auch auf Schimpansen, Gorillas, Orang-Utans, Wale und Elefanten ausdehnen. Denn nach allem, was wir wissen, verfügen auch sie über die genannten Eigenschaften.

Moral: Auch die Interessen anderer berücksichtigen

Nicht nur nach Singers Auffassung, sondern auch nach allgemeiner Auffassung, kommt der Tatsache, dass wir Mitglieder der Spezies Homo sapiens sind, also keinerlei moralische Bedeutung zu. Nun, „nach allgemeiner Auffassung“ klingt vielleicht etwas übertrieben. Glauben nicht zumindest Christen, dass unsere Artzugehörigkeit zählt, ja sogar ganz entscheidend ist? Nein! Auch Christen machen das Recht auf Leben keineswegs von der Spezieszugehörigkeit abhängig. Wenn sie darauf bestünden, dass ausschließlich Menschen ein Recht auf Leben haben könnten, was würde dann beispielsweise aus den vielen Engeln, dem heiligen Geist oder dem lieben Gott? Nach christlicher Auffassung haben auch diese himmlischen Wesen ganz unbestreitbar ein Recht auf Leben, obwohl sie keine Menschen sind.

Peter Singer hat den Grundgedanken seiner Ethik, das so genannte „Prinzip der gleichen Berücksichtigung von Interessen“, oft auf folgende Weise zusammen gefasst: Wenn wir moralisch handeln wollen, müssen wir bereit sein, nicht nur unsere eigenen Interessen, sondern auch die Interessen anderer zu berücksichtigen, und zwar unabhängig davon, ob es sich nun um die Interessen von Schwarzen oder Weißen, von Männern oder Frauen, von Menschen oder Tieren handelt. Wenn wir unsere Bereitschaft, die Interessen anderer zu berücksichtigen, von ihrer Hautfarbe abhängig machen, machen wir uns des Rassismus schuldig; wenn wir sie vom Geschlecht abhängig machen, machen wir uns des Sexismus schuldig; und wenn wir sie von der Artzugehörigkeit abhängig machen, machen wir uns des „Speziesismus“ schuldig.

Um zu veranschaulichen, wie sich das Prinzip der gleichen Berücksichtigung von Interessen im Alltag auswirkt, können wir auf ein Thema zurück greifen, das Peter Singer besonders am Herzen liegt: Unsere Pflicht, auf den Verzehr von tierischem Fleisch zu verzichten und uns vegetarisch zu ernähren. Dank unserer Vorliebe für ein saftiges Steak müssen alljährlich Millionen von Tiere unter oft unerträglichen Bedingungen gezüchtet, gehalten und getötet werden. Wenn wir unser Interesse an einem billigen Stück Fleisch mit dem Interesse der Tiere an einem möglichst angst- und leidfreien Leben vergleichen, wird deutlich, dass unsere Gaumenfreuden das Leid der Tiere unmöglich aufwiegen können. Folglich sollten wir uns - sofern wir die Möglichkeit dazu haben! - nicht karnivorisch, sondern vegetarisch ernähren.

Beispielbild
Fotos: Jutta Hof/editionpanorama
Wozu sind Rechte da: Korrespondenztheorie

Nichts von dem bisher Gesagten könnte Behindertengruppen einen Anlass dazu geben, Peter Singer zu kritisieren. Warum tun sie es dann aber? Dies hat mit seiner „Korrespondenztheorie“ zu tun. Diese Theorie ergibt sich aus der Frage, wozu Rechte eigentlich da sind. Rechte, würde Singer sagen, sind dazu da, besonders elementare Interessen zu schützen. Da wir beispielsweise ein großes Interesse an der freien Äußerung unserer Meinung haben, ist es sinnvoll, allen Menschen ein „Recht auf Meinungsfreiheit“ einzuräumen, das nicht nur von unserer Moral, sondern auch von unseren Gesetzen geschützt wird.

Wie das Beispiel der Meinungsfreiheit deutlich macht, ist es aber nur sinnvoll, solchen Wesen ein Recht auf Meinungsfreiheit zu geben, die auch ein elementares Interesse daran haben. Insofern etwa Ziegen, Schafe und Rinder kein solches Interesse haben können, wäre es abwegig, ihnen ein solches Recht einräumen zu wollen. Mit anderen Worten: Um ein bestimmtes Recht beanspruchen zu können, muss ein Wesen zumindest über dasjenige Interesse verfügen, das durch dieses Recht überhaupt erst geschützt werden soll. So wie es keinen Sinn macht, Tieren ein Recht auf Meinungsfreiheit zu gewähren, so macht es selbstverständlich auch keinen Sinn, ihnen ein Recht auf Religionsfreiheit einzuräumen - einfach, weil Tiere gar nicht über die hierzu erforderlichen Interessen verfügen.

Was für Tiere gilt, gilt aber auch für Menschen. Ein menschlicher Embryo beispielsweise ist lediglich eine kleine Ansammlung von Zellen. Da er noch kein ausgebildetes Nervensystem hat, verfügt er weder über Bewusstsein noch über Schmerzempfinden. Ohne ein Bewusstsein kann ein Wesen aber keine Interessen haben. Und wenn ein Wesen keine Interessen hat, gibt es auch keine zu berücksichtigen. Folglich hat Singer kein Problem damit, im Rahmen der künstlichen Befruchtung erzeugte Embryonen zu verwerfen oder sie für die Stammzellforschung zur Verfügung zu stellen.

Gleiches gilt für Feten. Zumindest während des ersten Trimesters verfügen auch Feten noch über keinerlei Bewusstsein. Folglich können sie auch keine Interessen haben. Und wenn sie keine Interessen haben, können sie selbstverständlich auch abgetrieben werden. Mit anderen Worten: Eine Abtreibung kann kein Interesse des Fetus verletzen, weil ein Fetus einfach noch keine Interessen hat.

Obgleich wir es nach wie vor nicht mit Bestimmtheit wissen, scheinen Feten doch zumindest im Laufe des zweiten Trimesters die neuronalen Grundlagen zu entwickeln, die für ein Bewusstsein unerlässlich sind. Ab dem Zeitpunkt, an dem sie Bewusstsein erlangen, dürften sie auch schmerzempfindlich sein. Und mit der Empfindungsfähigkeit dürften sie auch ein Interesse daran entwickeln, dass man ihnen nicht willkürlich Schmerzen zufügt.

Bewusstsein und Selbstbewusstsein

Schließlich und endlich gilt das Gesagte aber auch von Neonaten oder Neugeborenen. Ein neugeborenes Baby verfügt sicher über ein Bewusstsein und kann Schmerzen empfinden. Angesichts seiner Empfindungsfähigkeit sollten wir es deshalb selbstverständlich auch nicht unnötigen Leiden aussetzen. Doch - und das ist jetzt der springende Punkt in Singers Ethik! - ein Interesse, nicht gequält zu werden, ist nicht gleichbedeutend mit einem Interesse, nicht getötet zu werden. Um ein Recht darauf zu haben, nicht getötet zu werden, bedarf es mehr als eines Interesses nicht gequält zu werden - es bedarf eines Interesses an seinem eigenen Überleben! Ein Interesse an seinem eigenen Überleben kann jedoch nur ein solches Wesen haben, das nicht nur über eine Vorstellung von sich selbst, sondern auch über eine Vorstellung von der Zukunft verfügt. Was meiner Tötung entgegensteht, ist schließlich die Tatsache, dass ich über ein Bewusstsein meiner selbst verfüge und ein Interesse daran habe, auch morgen, übermorgen, ja sogar in Jahren noch leben und nicht getötet werden zu wollen. All dies aber setzt voraus, dass man ein "Ich" hat, eine Vorstellung von sich selbst als einer Person mit einer eigenen Vergangenheit und einer eigenen Zukunft.

Nach Singer haben also nur Wesen mit einem Selbstbewusstsein einen Anspruch auf ein Recht auf Leben. Wesen, die lediglich über Bewusstsein verfügen, haben dagegen nur ein Recht darauf, nicht willkürlich gequält zu werden.

Scheinbar kontraintuitive Schlüsse

Sobald man dies in Rechnung stellt, wird auch die eine oder andere scheinbar kontraintuitive Schlussfolgerung Singers verständlich. Weshalb spricht er sich für den Vegetarismus aus? Nicht, weil Rinder, Schafe oder Schweine ein Recht auf Leben hätten, sondern weil sie ein Recht darauf haben, nicht unnötig gequält zu werden. Da sich die allermeisten Menschen statt karnivor auch vegetarisch ernähren können, sollten wir Tiere nicht den unnötigen Qualen der industriellen Massentierhaltung aussetzen.

Weshalb wäre es Singer lieber, wir würden mit menschlichen Embryonen als mit ausgewachsenen Tieren experimentieren? Weil ausgewachsene Tiere sowohl über Bewusstsein als auch über Schmerzempfinden verfügen. Sie haben ein Interesse daran, nicht willkürlich gequält zu werden. Menschliche Embryonen hingegen sind noch außerstande, irgendwelche Interessen zu haben.

Und schließlich: Weshalb betrachtet Singer die Tötung eines erwachsenen Schimpansen als ein größeres Unrecht als die Tötung eines schwerstgeschädigten Säuglings? Weil ein ausgewachsener Schimpanse über ein Bewusstsein seiner selbst und damit auch über ein Recht auf Leben verfügt. Ein Säugling dagegen verfügt noch über keinerlei Selbstbewusstsein. Das Ich-Bewusstsein entwickelt sich nachweislich erst im Laufe der ersten Lebensmonate.

Mit alledem im Hinterkopf können wir jetzt auch die Missverständnisse ausräumen, denen die Behindertenbewegungen aufsitzen. Da Singer die Tötung eines Schimpansen als ein größeres Unrecht betrachtet als die Tötung eines schwerstgeschädigten Neugeborenen, meinen sie, dass er Tiere gegenüber Behinderten vorziehe. Doch dies ist falsch! Was den entscheidenden Unterschied ausmacht, ist, dass ein erwachsener Schimpanse bereits über ein Ichbewusstsein verfügt, ein neugeborenes Baby dagegen noch nicht. Es hat nichts mit der Behinderung zu tun.

Ein Recht auf Leben und auf Freiheit

Genauso falsch wie die Behauptung, dass Singer Tiere Behinderten vorziehe, ist die Behauptung, dass er Behinderten nicht die gleichen Rechte einräume wie Nicht-Behinderten. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Sobald ein Mensch über ein eigenes Ich-Bewusstsein verfügt, hat er dieselben Rechte wie jeder andere, ganz gleich, ob er nun von einer Trisomie 21, von Spina bifida oder vom Tay-Sachs-Syndrom betroffen ist. Genau wie Nicht-Behinderte haben auch Behinderte ein gesetzlich verbrieftes Recht auf Leben, auf Freiheit, auf körperliche Unversehrtheit, auf Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Versammlungsfreiheit usw.

Aus dem gerade Gesagten dürfte deutlich werden, dass auch Hubert Hüppe einem fatalen Missverständnis aufsitzt, wenn er behauptet, dass Singer den Wert eines Menschen von dessen Nützlichkeit abhängig mache. Ein von Trisomie 21 betroffener Mensch mag eine geringere „wirtschaftliche Nützlichkeit“ für die Gesellschaft besitzen als, sagen wir, Angela Merkel. Dennoch haben beide dieselben Rechte. Dass der eine in einer betreuten Wohngruppe leben mag, die andere dagegen im Bundestag tätig ist, ändert nichts an der Tatsache, dass beide über ein Interesse an ihrem eigenen Überleben verfügen. Beider Leben steht daher prinzipiell auch unter dem gleichen Schutz.

Pränataldiagnostik und PID

Das vierte und letzte Missverständnis, auf das hier noch kurz eingegangen werden soll, besteht in der Behauptung, dass Singer den Wert des Lebens von Menschen mit Behinderungen geringer schätzt als den Wert des Lebens vom Menschen ohne Behinderungen. Dies wird im Allgemeinen aus der Tatsache abgeleitet, dass Singer ein Verteidiger der Pränataldiagnostik und der Präimplantationsdiagnostik ist. Seiner Meinung nach sollten Eltern das Recht haben, selbst darüber zu entscheiden, ob sie ein Kind, das von Behinderungen betroffen ist, austragen und aufziehen wollen. Die Entscheidung eines Paares, ein Kind mit Down-Syndrom abzutreiben, muss jedoch keineswegs auch ein Urteil über den Wert eines solchen Lebens enthalten. Die betroffenen Paare wissen in aller Regel sehr genau, dass das Leben eines Menschen mit Trisomie 21 genauso lebenswert ist wie das Leben eines jeden anderen Menschen.

Wenn sie sich dennoch zu einer Abtreibung entschließen, liegt dies nicht an einem moralischen Werturteil, sondern an einer persönlichen Vorliebe. Sie bezweifeln nicht, dass Down-Kinder glücklich, wenn nicht gar weit glücklicher sein mögen, doch sie denken auch an die Konsequenzen, die die Geburt eines solchen Kindes für ihr Leben hat. Ein Kind mit Down-Syndrom aufzuziehen, geht mit vielen persönlichen Einschränkungen einher - Einschränkungen, die sie nicht auf sich nehmen wollen. Man mag dies als egoistisch verurteilen, doch da weder Embryonen noch Feten ein Recht auf Leben haben, ist es durchaus zulässig.

Edgar Dahl war einige Zeit Assistent von Peter Singer an dessen Institut in Melbourne