„Über das Mittelalter senkte sich die Finsternis“

(hpd) Warum ist die antike Kultur untergegangen? Wer war ihr Totengräber? Das Christentum, meint der Althistoriker Rolf Bergmeier, und bezichtigt damit eine Institution, die von vielen als Grundlage der abendländischen Kultur angesehen wird.

Seine These, dass das Christentum für den zivilisatorischen Rückschritt verantwortlich ist, der in Westeuropa seit dem fünften Jahrhundert überall festzustellen ist, hat er in seinen soeben erschienenen Buch „Schatten über Europa“ ausführlich dargelegt. hpd sprach mit ihm über christlichen Fundamentalismus, Bildung im Imperium Romanum und verpasste Entwicklungschancen Europas.

Herr Bergmeier, was dürfen wir uns unter „antiker Kultur“ vorstellen? Wie sah das Leben im Römischen Reich im vierten Jahrhundert aus?

Rolf Bergmeier: Im Vergleich mit nicht-imperialen Ländern lebte das Römische Reich auf beachtlich hohem Niveau. In nahezu allen Städten gab es öffentliche Schulen, Bibliotheken, Gymnasien und Theater. Wo immer sich die Legionen niederließen, bauten sie Straßen, beheizte Bäder und erschlossen das Umland. Aquädukte und Tunnel führten Wasser über Fernleitungen an die Städte heran; überall in den großen Städten sprudelten Brunnen und lieferten der Bevölkerung das kostbare Nass. Das Rechtswesen war organisiert, herrliche Plastiken zierten öffentliche Plätze, Fußbodenheizungen wärmten die Thermen, das Reich war durch Fernstraßen erschlossen, eine Staatspost, cursus publicus, verband die Städte. Auf allen Seiten des Mittelmeeres waren römisches Recht und römische Kultur eingezogen und die Wirtschaft blühte, weil alle vom freien Handel profitierten.

Das Mittelmeer war Verbindungszone zwischen Nordafrika und „Europa“, zwischen Persien und Spanien, es war ein Binnenmeer, mare nostrum nannten es die Römer. Im Rückblick verneigen wir uns tief vor den zivilisatorischen und kulturellen Leistungen der griechisch-römischen Gesellschaft, vor der höchster Entwicklung menschlichen Geistes.

Ausgangspunkt war ein flächendeckendes, dreigeteiltes Schulwesen, das mit dem Elementarunterricht beim magister ludi begann, der den meisten Kindern ab dem siebten Lebensjahr die Fertigkeiten des Lesens, Schreibens und Rechnens vermittelte. Es folgte die Unterrichtung durch den grammaticus in lateinischer und griechischer Lektüre. Für die Elite schloss sich ab dem 15. Lebensjahr ein ebenfalls mehrjähriges Studium der „großen“ Rhetorik an, das die Studenten auf die Aufgaben im öffentlichen Dienst und vor Gericht vorbereitete. Rom verfügte damit über eine gebildete Elite, die das Herz einer auch in den Provinzen hoch angesehenen Kultur und das Blut in den Adern des Imperiums bildete.

Aber wurde diese Bildung überhaupt Kindern jenseits der Oberschicht zuteil?

Rolf Bergmeier: Das Schulsystem erfasste – ohne Zwang – die meisten Kinder. Es war öffentlich und wurde durch die Kommunen getragen. Zwar waren die Schulräume meist einfach bis primitiv, zwar fand der Schulunterricht häufig open air statt, zwar hielt die Paukmethode keinem modernen pädagogischen Konzept stand, aber die Mehrheit der Kinder – Jungen wie Mädchen – lernte Rechnen, Schreiben und Lesen. Es ist also keineswegs so, wie die Professorin für Kirchengeschichte, Barbara Aland, meint, dass Lesen und Schreiben ein Privileg gebildeter Schichten gewesen und das Schul- und Bildungssystem, „selbstverständlich nur von der Oberschicht genutzt“ worden sei. Das riesige Reich brauchte Verwaltungsfachleute, Ingenieure und Militärs, musste über weite Strecken kommunizieren können und dazu waren Schulen in Stadt und Land erforderlich. Rund 10.000 Inschriften alleine in Pompeji, teils durchaus vulgären Inhaltes, und zahlreiche Texte antiker Autoren belegen die weite Verbreitung der Lese- und Schreibkenntnisse.

Ab wann stellen Sie einen kulturellen Verfall fest und wie äußert sich dieser?

Rolf Bergmeier: Der Einbruch erfolgt ab dem 5. Jahrhundert. Die Schulen schließen, Bibliotheken veröden, Tempel werden zu Steinbrüchen, Theater zu Lagerräumen und die Bürger verlernen das Lesen und Schreiben. Erst sterben die weiterführenden Grammatik- und Rhetorenschulen und schließlich die Elementarschulen. Ende des sechsten Jahrhunderts sind die öffentlichen Schulen überall im Imperium geschlossen und rund 95 Prozent der mittelalterlichen Bevölkerung Analphabeten. Selbst die Angehörigen der mittleren und oberen Führungsschicht verlernen im frühen Mittelalter die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben. Karl der Große, im Jahre 800 zum Kaiser gekrönt, soll wie ein römischer Schulbube von acht Jahren mit den Buchstaben gekämpft haben. Parallel werden die Philosophieschulen geschlossen, Theater und Sport (Olympiade) verboten, wird die Kunstausübung beschränkt und die wissenschaftliche und medizinische Forschung beendet. Über das lateinisch sprechende Mittelalter senkt sich die Finsternis herab.


Wenn es um den Untergang der antiken Welt geht, werden als Ursachen häufig die „Völkerwanderung“ und die „spätrömische Dekadenz“ genannt. Was spricht dagegen?

Rolf Bergmeier: Ich kann hier nicht die Motive und Bewegungen der Goten, Burgunder und Vandalen nachzeichnen. Die weithin als „Völkerwanderung“ illustrierten Stammeszüge multi-ethnischer Scharen durch das Imperium Romanum sind in meinem Buch ausführlich analysiert und bewertet. Zusammenfassend lässt sich sagen: Es ist eine Mär, dass die Germanen ihre Wildschweine auf den Büchern römischer Bibliotheken gegrillt haben. Die germanischen Stämme, anfänglich vermutlich selten mehr als 10.000 kampffähige Männer und rund 20.000 bis 30.000 Angehörige (Frauen, Greise, Kinder), die in der Silvesternacht 406 über den Rhein setzten, suchten nicht die Zerstörung, sondern Raum, um sich anzusiedeln. Durch lange Nachbarschaft mit der römischen Kultur und Zivilisation vertraut, wollten sie am römischen Leben teilnehmen. Dort, wo sie sich mit Zustimmung der römischen Zentralgewalt ansiedeln konnten, integrierten sie sich rasch in Armee und Hofstaat, übernahmen römisches Recht und anerkannten den römischen Kaiser als Staatsoberhaupt. Die Germanen mögen zur politischen Destabilisierung des Reiches beigetragen haben, haben aber ganz gewiss nicht die vorsätzliche Zerstörung der antiken Kultur und Zivilisation im Sinn gehabt.

Ebenso wenig ist im vierten Jahrhundert eine kulturelle „Dekadenz“ zu beobachten. Im Gegenteil: Kaiser Julian, von der christlichen Kirche als „Abtrünniger“ (Apostata) geschmäht, und der hoch gebildete Symmachuskreis versuchten in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts an die „goldenen“ augustinischen Jahre anzuschließen. Manche Historiker und Philologen sprechen daher von einem zweiten „Silbernen Zeitalter“ und meinen damit die Spätantike. Auch das wird in meinem Buch ausführlich untersucht und belegt.