Anthroposophie und Faschismus

Wie spezifisch anthroposophisch war diese Reaktion? Die Anthroposophie war zu Beginn der Naziära eine von vielen theosophisch-esoterischen Splittergruppen mit wenigen tausend Anhängern. Gab es dort Parallelen oder gravierende Unterschiede?

Diese wenigen tausend Anhänger waren im Vergleich zu anderen esoterischen Gruppierungen eine beträchtliche Zahl. Parallelen zu theosophischen Strömungen gab es durchaus; sowohl die „Theosophische Verbrüderung“ Hermann Rudolphs als auch die Leipziger „Theosophische Gesellschaft“ Hugo Vollraths versuchten beharrlich, ihre eigenen Rassenvorstellungen als die ideale geistige Ergänzung des Nationalsozialismus aufzuführen, übrigens ohne Erfolg. Es ging ja aber nicht nur um die Rassentheorie; viele der Begegnungen – ob freundliche oder feindliche – zwischen Anthroposophen und Nationalsozialisten hatten mit diesem Thema relativ wenig zu tun. Die Gemeinsamkeiten und Konflikte wurden vor einem breiten ideologischen Feld ausgetragen, wobei die Topoi ‚Rasse’ und ‚Volk’ keinesfalls immer im Vordergrund standen, sondern z.B. Natur oder Leben oder Gemeinschaft oder Schicksal oder Erlösung oder geistige Wiedergeburt oder kulturelle Erneuerung usw. Wenn man diesen verwickelten Hintergrund in Betracht zieht, lassen sich die berüchtigten Skandalfälle (Otto Ohlendorf, Sigmund Rascher, Franz Lippert, Friedrich Benesch, Werner Georg Haverbeck, Andreas Molau, usw.) einigermaßen historisch kontextualisieren.

Umgekehrt – wie verhielten sich nationalsozialistische Organisationen zur Anthroposophie? Und gab es Resonanzen von zentralen Figuren wie Hitler, Himmler, Heydrich oder Goebbels?

Die Reaktionen aus dem nationalsozialistischen Lager reichten von ausgesprochener Sympathie bis zur unerbittlichen und zwanghaften Gegnerschaft. Dabei waren die anthroposophischen Belange nicht in erster Linie ein Anliegen der zentralen Figuren, mit Ausnahme von Heß, sondern eher der mittleren Ebenen des weitverzweigten und zerstrittenen NS-Apparates. Während der SD die Anthroposophie als „weltanschaulichen Gegner“ einstufte und entsprechend bekämpfte, erhielten Waldorfbewegung, biologisch-dynamische Landwirtschaft, anthroposophische Medizin, Christengemeinschaft, und andere anthroposophischen Projekte wiederholt Schutz und Förderung von nationalsozialistischer Seite. In einem Brief an Erziehungsminister Rust vom 9.5.1934 zum Beispiel, lobte der Stab des Stellvertreters des Führers die Waldorfschulen als „ein Instrument von nicht zu unterschätzender pädagogischer Bedeutung“; fünf Tage später resümierte ein Mitarbeiter, „die in den Waldorf-Schulen aus deutschem Wesen erwachsene, planmäßig gegen materialistisches Denken und blossen Intellektualismus gerichtete Erziehungsart“ sei bestens geeignet, „bei der Neugestaltung des Erziehungswesens für die Sicherung des geistigen und seelischen Gehalts im Nationalsozialismus“ mitzuhelfen (Ernst Schulte-Strathaus, „Bericht an den Stellvertreter des Führers über die Waldorf-Schulen“ vom 14.5.1934).

Gerade Steiners „Deutschtums“-Bekenntnis stellt offenbar eine ideologische Parallele zum Nazidiskurs dar. Völkische Gegner der Anthroposophie (etwa Dietrich Eckart) echauffierten sich aber mitunter gerade darüber. Und auch die (teilweise führenden) Anthroposophen, die den Nationalsozialismus dezidiert ablehnten oder (in wenigen Fällen) zum Widerstand Kontakt suchten, sahen sich in aller Regel nicht als antinational: Sie verstanden ihr ‚idealistisches‘ Deutschlandbild als Gegenpol zu dem der Nazis. Wie lässt sich diese Bandbreite und Konkurrenz von Nationalismen verstehen?

In geschichtlicher Perspektive sind solche konkurrierenden und widersprüchlichen Spielarten des Nationalismus vollkommen normal, selbst in nationalsozialistischen Zusammenhängen. (Das Gleiche gilt übrigens für unterschiedliche Varianten der Rassentheorie, des Antisemitismus, usw.) Ein „idealistisches Deutschlandbild“ stellte für manche Anthroposophen in der Tat einen Gegenpol zum Nationalsozialismus dar; sie hielten an der Überzeugung fest, das gehobene und geistige deutsche Wesen im Gegensatz zur Hitlerschen Verzerrung zu vertreten. Gleichzeitig aber bot gerade dieses idealistische Deutschlandbild wesentliche Ansatzpunkte für weltanschauliche Annäherung. So schrieb ein führender NS-Publizist 1935 in einem Buch über den zeitweiligen Anthroposophen und Vertreter eines „idealistischen Antisemitismus“ Friedrich Lienhard: „Der Nationalsozialismus ist die heutige Form des deutschen Idealismus.“ (Hellmuth Langenbucher, Friedrich Lienhard und sein Anteil am Kampf um die deutsche Erneuerung, Hamburg 1935, S. 151)

Ein Parallelbeispiel aus dem faschistischen Italien, wo Anthroposophen sich weit stärker in der faschistischen Politik engagierten. Auch hier gab es Verwicklungen, die in der Außenperspektive überraschen: Der Anthroposoph Colonna di Cesaro beispielsweise war politisch im Faschismus aktiv und gehörte zu Julius Evolas Ur-Kreis, wo er den üblen Rassisten Massimo Scaligero für Steiner begeisterte. Noch in der faschistischen Ära artikulierte er aber regimekritische Überzeugungen und soll sogar die ‚verwirrte‘ Violet Gibson bei der Planung ihres Mussolini-Attentats bestärkt haben. Spielte die Anthroposophie für ihn bei alledem eine Rolle?

Aufgrund der vorhandenen Quellen ist das schwer festzustellen. Colonna war ein kulturell und politisch vielseitiger Mensch, dessen Verhalten gegenüber dem Faschismus auffallend inkonsequent war. Bei einem Anthroposophen ist das nicht unbedingt überraschend, angesichts der vorwiegend „unpolitischen“ Haltung unter Steiners Schülern, und auch deutsche Anthroposophen wie Emil Leinhas oder Johannes Hemleben haben Mussolini und den Faschismus begrüßt. Die Gerüchte über eine mögliche Beteiligung Colonnas an Gibsons Attentatsversuch wurden schon damals sowohl von der faschistischen Polizei als auch von den britischen Behörden zurückgewiesen. Ins Gesamtbild der italienischen Anthroposophie in der Zeit des Faschismus passt eine zwielichtige Figur wie Colonna eigentlich recht gut hinein. Im Rückblick wird er verständlicherweise überschattet von einem Scaligero, mit seinem eifrigen Engagement für den faschistischen Rassismus und Antisemitismus, oder einem Ettore Martinoli, Mitbegründer und Sekretär der italienischen Anthroposophischen Gesellschaft, der als hochrangiger Funktionär der faschistischen Rassenbürokratie an der Judenverfolgung aktiv teilnahm.

All das sind für die ‘anthroposophische Bewegung’ höchst unbequeme Verbindungen. Wie haben Anthroposophen auf Ihre Forschungsergebnisse reagiert? Welche Kritik und welche positive Anknüpfung gab es?

Das Spektrum der anthroposophischen Reaktionen auf meine Forschungen ist so breit und bunt wie bei meinem deutschen Kollegen Helmut Zander, von ernsthaften Auseinandersetzungen bis hin zu dunklen Andeutungen einer anti-anthroposophischen Verschwörung. Vor allem im englischsprachigen Raum fällt es vielen Anthroposophen schwer, sich dem Thema zu stellen, sei es Steiners Rassenlehren oder seine Ausführungen zum wahren Deutschtum, sei es die Geschichte der Anthroposophie im nationalsozialistischen Deutschland oder die Frühgeschichte der Waldorferziehung oder die Verbindungen der biologisch-dynamischen Bewegung zur SS. Dies liegt teilweise in der tradierten esoterischen Abneigung gegen akademisch-wissenschaftliche Erkenntnis begründet. Steiner selbst wetterte gegen die, wie er sie nannte, „materialistische Geschichtswissenschaft“ und hielt die „professorale Geschichtsbetrachtung“ für „unsinnig“ und der „Welt der Maja“ verhaftet, ja „die äußere Geschichte und ihre Kenntnis ist geradezu eine Störung für den Seher.“ (GA 112, 30). Noch heute erschweren solche Vorbehalte den anthroposophischen Umgang mit der eigenen Geschichte. Trotzdem gibt es Anzeichen einer anderen Einstellung zu den bisher unterbelichteten Seiten dieser Vergangenheit, und auch wenn ich nicht in erster Linie für eine esoterische Leserschaft schreibe, würde ich mich freuen, wenn meine Recherchen der inneranthroposophischen Forschung und Diskussion einen Stoß gibt.

In den letzten Jahren verstärkt haben sich auch einige AnthroposophInnen für eine kritische Historisierung des Steinerschen Rassismus ausgesprochen. Viele Versuche waren reine Apologie, andere blieben zaghaft oder inkonsequent, manche zeugen von ehrlicher Bereitschaft zur Auseinandersetzung. Einige Kritiker gehen dagegen davon aus, dass die Anthroposophie im Kern und unrevidierbar rassistisch sei. Wie schätzen Sie die Chancen für eine ‚ent-rassisierte‘ Anthroposophie ein?

Keine Weltanschauung ist unrevidierbar. Auch keine Geheimwissenschaft oder Geisteswissenschaft oder Erkenntnisweg oder Initiationsweisheit. Wie alle Formen menschlichen Wissens und Glaubens sind sie der historischen Entwicklung unterworfen, so sehr sich das esoterische Selbstverständnis dagegen sträuben mag.  Wie die Anthroposophie zu ändern sei, müssen allerdings Anthroposophen selber entscheiden; da habe ich als Nicht-Anthroposoph an sich kein Mitspracherecht. Aus historischer Sicht gibt es durchaus Grund zum Optimismus: die Anthroposophie ist erst vor etwa einem Jahrhundert entstanden, ist also noch eine vergleichsweise junge Erscheinung, und die Religionsgeschichte wie auch die Wissenschaftsgeschichte zeigen, dass überholte Rassenvorstellungen nicht beibehalten werden müssen und nicht zwingend sind. Das Hinauswachsen über solche Entwürfe bedeutet nicht notwendigerweise die Preisgabe der anthroposophischen Identität. Eine grundsätzliche Bereitwilligkeit zur Aufarbeitung der anthroposophischen Vergangenheit könnte in dieser Hinsicht zu einer wesentlichen Erneuerung beitragen.

Danke für Ihre präzisen Stellungnahmen! Ich freue mich, von Ihren weiteren Forschungen zu hören.

Erstveröffentlichung auf waldorfblog.

Hitler, Steiner, Mussolini (28.2.2012)