„Dann hätte ich einen Präzedenzfall“

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Fotos: F. Lorenz

TRIER. (hpd) Was hat die Sicherungsverwahrung für Schwerstkriminelle mit Heimkindern zu tun? Wieso ist ein juristisch schwieriger Weg relativ und könnte die Situation verändern, gar einen Präzedenzfall schaffen? Der Ansatz geht nicht vom Individuum, sondern von der Verantwortung des Staates aus. Der hpd sprach mit dem Rechtsanwalt Robert Nieporte.

Eine von zwei Klientinnen des Trierer Rechtsanwalts Robert Nieporte waren in der ZDF-Sendung Mona Lisa vom 2. Juni 2012 zu sehen. Ihre Verhandlung fand einige Tage später statt und der Ansatz, den sie wählten, um zu ihrem Recht zu kommen, ist neu. Grundsätzlich wünscht sich der Anwalt, ähnlich wie in Österreich, eine positive Sicht auf die Fortschritte und Erfolge, die erzielt werden können sowie gegenseitige Unterstützung – auch seitens der Heimkinder.

hpd: Am 5. Juni war die Verhandlung. Wie ist diese gelaufen?

Robert Nieporte: Die Verhandlung ist nicht wirklich spektakulär verlaufen. Es war von vornherein klar, wie der Verfahrensablauf stattfinden wird. Gleichzeitig war klar, wie das Gericht sich dazu verhalten wird. Gleichwohl meine ich, hätte sich der Richter die Problematik der Verjährung betreffend mehr mit dem auseinandersetzen müssen, was wir vorgetragen haben.

Wenn man sich einfach mal den Hintergrund vor Augen führt, nämlich dass es Kinder sind, um die wir uns hier Gedanken machen müssen, deren Verhalten wir einfließen lassen müssen in die Bewertung, die wir heute vorzunehmen haben. Dies hatte entscheidenden Einfluss auf die ganze Biografie dieses Menschen, der sein Leben lang gezeichnet war in einer Art und Weise, dass er nie in der Lage war, seine rechtlichen Interessen durchzusetzen. Das ist, in einem Satz gesagt, das gewesen, was ich vorgetragen habe. Das ist das Tragische, weswegen ich der Auffassung bin, dass die Ansprüche dieser Personen nicht verjährt sein können. Das Gericht hat sich einfach auf den Standpunkt gestellt, und darüber bin ich enttäuscht, dass hier die Verjährung eingetreten sei, dass es eine entsprechende Hemmung nicht geben könne. Es wurde gleichwohl nicht angesprochen, inwieweit die geschädigten Personen krankheitsbedingt und sogar aufgrund der fehlenden Geschäftsfähigkeit in diesem Bereich nicht in der Lage waren. Insoweit hat uns das Gericht erwartungsgemäß eine Frist zur Stellungnahme eingeräumt: zur Frage der Verjährung sowie zur Verantwortlichkeit der Beklagten, die als Aufsichtsbehörde tätig war und in dem Moment ein so genanntes Organisationsverschulden trägt.

hpd: Die Beklagten sind wer? Die Kirche? Die Gemeinde, das Land?

Nieporte: Das hängt immer vom entsprechenden Fall ab. Hier ist es der Landschaftsverband Rheinland. Das hängt von den einzelnen Bundesländern ab, aber es ist die Aufsichtsbehörde der Kinderheime. Diese Aufsichtsbehörde haben wir verklagt.

hpd: Und die hat eine Verjährung vorgetragen?

Nieporte: Ja, wie dies regelmäßig geschieht, wurde auch hier die Einrede einer Verjährung erhoben. Der Richter ist verpflichtet, das zu prüfen. Ein Argument, was gegen die Verjährung spricht und welches ich gerade in einem Satz gesagt habe, gern aber noch juristischer ausführen möchte, ist, dass die Hemmung eingetreten ist. Einem Menschen, der nicht in der Lage ist, seine Rechte innerhalb dieses Zeitraums durchzusetzen, kann ich doch schlecht – auch nicht unter dem Vorhalt des so genannten Rechtsfriedens, der hier nach dreißig Jahren eintreten soll – vorhalten, dass er seine Rechte nicht geltend gemacht hat! Es wäre auch zynisch, das zu tun. Der Staat kann doch nicht zunächst derartige Misshandlungen aufgrund seines Systems verursachen, so dass dieser Mensch, der im weiteren Leben als Erwachsener ohne Betreuung bleibt, für die danach folgende Zeit nicht in der Lage ist, die ihm zugefügten Schäden geltend zu machen, und im Anschluss daran, obwohl von vornherein feststand, dass diese Menschen nur außerhalb dieser Zeit ihre Rechte geltend machen, als Staat die Einrede der Verjährung erheben. Das ist eine Farce, das ist ein Zynismus. Rein rechtlich ist es doch so, dass eine Person, die unter bestimmten Voraussetzungen hierzu außerstande war, einen Betreuer hätte haben müssen, der die Rechte geltend macht. Wenn es einen solchen nicht gab, hemmt das den Ablauf der Verjährung.

Die Schwierigkeit, die wir noch haben, ist die Frage der Anwendbarkeit welchen Rechts. Die Beklagte hat hierzu ausgeführt, dass das heute geltende Recht nicht anwendbar sei. Auch hierauf werden wir noch eingehen müssen, tatsächlich gab es zwischenzeitlich mehrfach Gesetzesänderungen.

hpd: Über welchen Zeitraum sprechen wir?

Nieporte: Na ja, wir sprechen von dem Zeitraum ab Volljährigkeit bis heute, also von mehr als 30 Jahren. Gleichzeitig haben wir seit 2002 Übergangsregelungen für das BGB, die ebenfalls noch angewendet werden müssen. Das heißt, die Frage der Verjährung ist grundsätzlich gar nicht so einfach. Wie das Gericht von vornherein sagen kann, nach den vielen Einwendungen sowohl von der einen als auch von der anderen Seite, dass es eine entsprechende Verjährung ohne Hemmungstatbestand gebe, ohne das im Näheren zu erklären, ist für mich nicht wirklich nachvollziehbar, da reicht auch nicht der lapidare Hinweis, das sei ständige Rechtsprechung. Denn für genau diese Fälle, die wir hier ja verhandeln, gibt es überhaupt keine Urteile. Ich habe noch kein einziges Urteil höchstrichterlicher Rechtsprechung gefunden, in dem ein entsprechender Sachverhalt und damit die Frage der Verjährung geprüft wurde. Nach meiner Auffassung hätte sich das Gericht ein bisschen mehr Mühe machen dürfen, das entsprechend vorzutragen. Das werden wir jetzt noch tun müssen, denn wenn dieses Gericht, das nehme ich schon einmal vorweg, sich nicht zu einer entsprechenden Entscheidung durchringen kann, dann werden wir die nächste Instanz beschreiten müssen, dann wird ein anderes Gericht genau darüber entscheiden müssen.

hpd: Vor welchem Gericht findet die Verhandlung statt?

Nieporte: Vor dem Landgericht Köln.

hpd: Ihre Klientinnen fordern nach dem Opferentschädigungsgesetz jeweils 54.000 Euro plus Zinsen.

Nieporte: Ja, aber nicht nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG), sondern in Höhe des Betrages, den man nach dem OEG verlangen würde. Das ist ein Unterschied. Wir machen hier keine Ansprüche nach dem OEG geltend – dafür wäre das Landgericht im Übrigen auch gar nicht zuständig, sondern das Sozialgericht. Die Ansprüche unterscheiden sich, weil die reinen Ansprüche nach dem OEG von der Zielrichtung her aufgrund einer Schädigung, die anerkannt wird, letzten Endes dazu führen, dass der Staat diese Personen entschädigt. Die Klage hier ist anders gerichtet, weil wir uns genau gegen die Aufsichtsbehörde richten und dieser ein Versagen vorwerfen, das Ganze also im Rahmen eines so genannten Staatshaftungsanspruchs geltend machen...

hpd: Das ist ein neuer Ansatz!

Nieporte: Ja. Das heißt, wir sind der Auffassung, dass der Staat sich hier im Rahmen dieser Behörde falsch verhalten hat. Darin wird auch der Unterschied zum OEG-Antrag deutlich. Denn in einem OEG-Verfahren geht es um die Anerkennung der Entschädigung für eine Person, wir als guter Staat stehen dafür ein. Im anderen Fall wird dem Staat ein Vorwurf gemacht, sich nicht korrekt verhalten zu haben. Die Summe, welche wir hier geltend gemacht haben, resultiert der Höhe nach aus dem OEG, das ist im Übrigen auch die Summe, die vom Verband ehemaliger Heimkinder (VeH) gefordert worden ist, als damals die Entscheidung des runden Tisches erwartet wurde. Sie setzt sich zusammen aus einer kleinen monatlichen Rente, etwa 300 € monatlich, welche für einen bestimmten Zeitraum hochgerechnet worden ist.

hpd: Weshalb haben Sie sich für diesen neuen Ansatz entschieden? Ist der nicht schwieriger, als nach dem Opferentschädigungsgesetz zu klagen?

Nieporte: Ja, der ist schon schwieriger, wobei schwierig immer relativ ist. Es sind eben völlig unterschiedliche Ansätze. Denn nach dem OEG-Verfahren habe ich die Möglichkeit geltend zu machen, dass jemand einen Schaden erlitten hat. Da geht es aber nicht um das eigentliche Versagen des Staates im Bereich Heimerziehung. Es ist kein Zugeständnis, sondern es heißt nur, dass diese einzelne natürliche Person, das gilt dann als nachgewiesen, aufgrund der Behandlung als Heimkind geschädigt wurde. In der hier in Rede stehenden Klage steht aber die pflichtverletzende Behörde im Vordergrund, und wenn es gerade um die Frage des Organisationsverschuldens geht, haben wir sicherlich mehr Möglichkeiten, den Nachweis zu führen – wobei wir uns hier über das Prinzip Beweislastumkehr noch unterhalten müssen –, dass hier ein Unrecht nicht nur an einem Individuum stattgefunden hat, sondern diese Art von Heimerziehung systematisch war. Einen solchen Ansatz kriegt man in einem OEG-Verfahren nie unter.

hpd: Weil man dort nur jedes einzelne Opfer vertreten kann und hier eine Systematik nachgewiesen werden kann.

Nieporte: Obwohl wir hier in Deutschland keine Sammelklage führen können, könnte ich in dem Bereich darauf verweisen, dass auch in einem anderen Fall deutlich wurde, worin das Versagen exakt dieser Behörde lag, dass eine gewisse Systematik enthalten war und dass diese Systematik nicht nur im Verhältnis zu diesem Kinderheim, sondern auch im Verhältnis zu anderen Kinderheimen bestanden hat.

hpd: Wäre das ein Präzedenzfall?

Nieporte: Das wäre ein Präzedenzfall. Wobei ich dazu sagen muss, dass weitere Fälle schon jetzt anhängig sind.

hpd: Die Sie auch vertreten?

Nieporte: Ja. Wir haben einige Fälle, in denen es zu Gerichtsverhandlungen kommen wird, parallel zu den jetzt stattgehabten Fällen in Köln.

hpd: Das heißt, sobald ein Gericht Ihrer Argumentation folgt, haben Sie einen Präzedenzfall?

Nieporte: Dann hätte ich einen Präzedenzfall. Was natürlich nicht bedeutet, dass dann automatisch in allen Fällen die Gerichte genauso entscheiden, es geht immerhin um die individuelle Betrachtung. Aber es wäre in bestimmten Punkten wegweisend für weitere Fälle. Und das möchte ich erreichen. In Oberösterreich haben wir bereits einen Präzedenzfall, nämlich den Fall Molnar, hier hat das Gericht die grundsätzliche Möglichkeit der Verjährungshemmung bestätigt, indem es dem Kläger Verfahrenskostenhilfe zugebilligt hat.

hpd: Andererseits sind dort viel höhere Schadensersatzforderungen geltend gemacht worden: 1,6 Millionen €.

Nieporte: Das hängt mit der persönlichen Situation des Mandanten zusammen, bei dem wir sogar geltend machen, dass er niemals in das Heim gemusst hätte. Wir klagen in Österreich also außerdem Schadensersatz und Schmerzensgeld für den Zeitraum der Heimunterbringung sowie die nachfolgende Zeit ein, nicht lediglich, wie bisher in Deutschland, Schadensersatz für die aufgrund der Retraumatisierung eingetretenen Schäden. Eine solche Klage habe ich hier in Deutschland noch nicht geführt, was nicht heißen muss, dass ich sie hier in Deutschland nicht auch führen würde.

hpd: Es ist also denkbar, wenn in Oberösterreich ein entsprechendes Urteil gefällt würde, dass Sie hier in Deutschland darauf Bezug nehmen könnten?

Nieporte: Es lässt sich nicht eins zu eins umsetzen, aber genau den Weg könnte man hier in Deutschland auch gehen, indem man darauf verweisen müsste, wenn eine Person unter ähnlichen Umständen rechtswidrigerweise in einem Heim untergebracht wurde, beispielsweise obwohl beide Eltern das Kind zu sich genommen hätten und dazu in der Lage gewesen wären. Das ist ja der Hintergrund, den wir hier haben. Dann hätte man hier eventuell einen ganz anderen Ansatz als in Oberösterreich – insbesondere vor dem Hintergrund, das wäre dann sehr spannend, dass die Personen, die sich rechtswidriger Weise in Sicherungsverwahrung befunden haben, zwischenzeitlich einen Schadensersatzanspruch geltend machen können für jeden Tag, an dem sie sich zu Unrecht in Sicherungsverwahrung befunden haben. Und dort reden wir über die Entschädigung von wegen Schwerstkriminalität Inhaftierten, nicht von Heimkindern.

hpd: Das war in Deutschland.

Nieporte: Das war in Deutschland. Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung wäre es schon interessant, wie sich die Justiz dazu verhalten würde, wenn es um ehemalige Heimkinder geht, die eingewiesen wurden.

hpd: Sie wollen eine Parallele ziehen zwischen den Schwerstkriminellen in der Sicherungsverwahrung und Heimkindern?

Nieporte: Im Grunde ist es das, was wir in Österreich gemacht haben, sonst würde es zu diesen geforderten Summen nicht kommen können. Wenn jemand sich für die Dauer von ein, zwei, drei Jahren in Sicherungsverwahrung befunden hat, ist das nicht vergleichbar mit dem Zeitraum bis zur Volljährigkeit, also damals 21 Jahren. Das ist schon viel. Eine Freiheitsberaubung für den Zeitraum von bis zu 21 Jahren. Die Höchststrafe in Deutschland liegt bei 15 Jahren, da auch die lebenslängliche Freiheitsstrafe nach 15 Jahren neu überprüft werden muss. Das ist zum Beispiel im Fall Molnar nicht passiert. Da gab es keine Überprüfung, er hat 21 Jahre gesessen. Und dass so etwas traumatisierend wirkt, das leuchtet ein.

hpd: Das heißt, da Sie in Deutschland und Österreich ehemalige Heimkinder vertreten, können Sie als Person sehr schnell Bezug nehmen und versuchen, Ergebnisse im einen Land auf das andere Land zu übertragen.

Nieporte: Spannend ist, dass die Fälle parallel laufen und wir in dem Moment die Strategie besprechen können und durchaus Fälle vergleichen können. In Österreich haben wir zum Beispiel einen ganz anderen Stand, was die Presse, was die Öffentlichkeitsarbeit anbelangt. Das Thema wird dort wirklich sehr gut aufgegriffen, um Missstände von damals aufzuarbeiten und zu erreichen, dass nicht nur eine sprachliche Rehabilitation stattfindet, sondern auch eine angemessene Entschädigung.

hpd: Jetzt habe ich noch eine Frage: Welche Bedingungen muss denn jemand erfüllen, um von Ihnen vertreten zu werden?

Nieporte: Die Frage ist mir zu allgemein...

hpd: Mir wurde zugetragen, dass Sie 100 € verlangen würden, bevor sie überhaupt Akteneinsicht nähmen. Stimmt das?

Nieporte: Es geht nicht nur um eine Akteneinsicht. Es geht darum, dass ich anbiete, grundsätzlich für die Betroffenen tätig zu werden, darunter fallen unter anderem die Akteneinsicht, die Untersuchung der einzelnen Umstände und dann die Erörterung der weiteren Vorgehensweise, die Rechtsberatung. Die betroffenen Personen erhalten von mir z.B. einen umfangreichen Fragenkatalog, der wichtig ist zur Auswertung und sodann weitere Antragsunterlagen, in Abhängigkeit vom Einzelfall. Und gerade weil es viele Personen sind, die dies in Anspruch nehmen wollen, kann ich es nicht kostenfrei anbieten. Es ist in Wahrheit ja auch nicht kostenfrei, sondern es kostet mich viel Zeit, Zeit meiner Mitarbeiter, Ausgaben für Papier, für Briefmarken, etc., also schlicht Geld. Da ich ein Wirtschaftsunternehmen betreibe und meine Kanzlei und auch mich finanzieren muss, kann ich ein solches Projekt kostenfrei gar nicht leisten. Das heißt, ich kann meine Arbeitskraft, ich kann meine entsprechenden Gedanken einbringen, aber zumindest die Kosten, die anfallen, die müssen auch bezahlt werden. Um gleichzeitig eine gewisse Fairness im Verhältnis der Personen untereinander zu gewährleisten – es gibt Betroffene, die haben nicht einmal Hartz IV, weil sie den Antrag nicht stellen, es gibt andere, die durchaus ein ordentliches Einkommen haben – hatte ich seinerzeit gesagt, dass die Voraussetzungen erfüllt sein müssen für einen so genannten Beratungshilfeschein.

Selbst wenn jemand also nichts hat und in einer Angelegenheit beraten werden möchte, dann sollte die Person einen sogenannten Beratungshilfeschein beim Amtsgericht beantragen und wird ihn in den einzelnen Rechtsbereichen auch bekommen. Dabei ist immer zu unterscheiden, in welchem Bereich die Beratung stattfindet. Es ist keine Pauschalberatung, sondern die Beratung findet immer in Bezug auf etwaige Ansprüche statt. Und bei der Beratung, die die Person dann bekommt, stellt sich der weitere Vorgang heraus, das heißt, was bei dieser Person zu unternehmen ist. Hierfür möchte ich einen Beratungshilfeschein haben, bevor die Beratung anfängt, plus zehn Euro, das ist der gesetzlich vorgesehene eigene Beitrag. Die Personen, die aufgrund ihres höheren Einkommens keinen Beratungshilfeschein bekommen, von denen verlange ich genau den Betrag, den ich über einen Beratungshilfeschein mit dem entsprechenden Schriftverkehr, der regelmäßig stattfindet, ebenfalls habe. Und das sind insgesamt 109,96 Euro. Die Betroffenen wissen das aber auch, es steht im Internet. Der Betrag ist, das möchte ich noch anmerken, sehr gering, es ist darin die Umsatzsteuer enthalten, das Porto, die Personalkosten, das Papier etc. Sie können sich ausrechnen, dass ein Gewinn nicht übrig bleibt, weshalb auch kein Anwalt mit Beratungshilfefällen wirklich froh ist.

Die Betroffenen werden außerdem mit umfangreichem Informationsmaterial ausgestattet, bis hin zum OEG-Antrag, die Fragebögen alleine, die wir dann den Leuten zuschicken müssen, die richtig ausgefüllt und unterschrieben zurückkommen – ja, das ist viel Arbeit. Bis es so weit ist, müssen wir 20, 30, 40 Blätter Papier verschicken. Anders geht es aber nicht, weil wir wirklich sehr detaillierte Fragestellungen benötigen und die entsprechende Antworten. Darüber erfahren wir, in welchem Heim die betroffene Person war, möglicherweise gibt es auch genauere Informationen zu den Schädigern. Anders kann man keinen einzigen Antrag stellen, keine Klage einreichen. Und nur selten bekommen wir im ersten Anlauf die kompletten Informationen, sehr häufig müssen wir erneut nachfragen und die Informationen mühsam bei den Mandanten erfragen.

hpd: Gibt es etwas, das Sie noch sagen möchten?

Nieporte: Da ich weiß, wie schwer es für die einzelnen Betroffenen jedes Mal ist, sich mit der Situation erneut auseinanderzusetzen, wünsche ich ihnen, dass sie durchhalten und den Mut nicht verlieren. Dies geschieht häufig, auch weil, wie ich mitunter feststellen muss, viele Betroffene durch die neu eingerichteten Anlaufstellen entmutigt werden sollen. Diese Anlaufstellen gehen sogar regelmäßig auf die Betroffenen zu und raten ihnen, einen eingereichten OEG-Antrag zurückzunehmen, da anderenfalls keine Leistungen erbracht werden würden.

hpd: Welche Anlaufstellen sind das?

Nieporte: Das sind die Anlaufstellen, die nach der Beschlussfassung des Bundestages über die Entscheidung des Runden Tisches eingerichtet worden sind. Im Grunde zur Beratung der einzelnen betroffenen Personen.

hpd: Die Betroffenen sollen nach dem Beschluss doch eigentlich nur Sachleistungen erhalten...

Nieporte: Das ist korrekt. Die Aufklärung hierüber ist natürlich sehr schwierig für die einzelnen Betroffenen. Mich haben schon häufig Personen angerufen und gesagt: Ich soll mich mit 250 Euro abspeisen lassen. Und nach einer Klarstellung habe ich dann festgestellt, dass es sich bei diesem Betrag offensichtlich nur um die Pauschale für Wegegeld handelt, nicht um eine Leistung im Sinne der Fondsregelung. Was ich schade und auch bedenklich finde, ist, dass mit diesen Anlaufstellen im Grunde die eigentlichen Ansprüche wieder konterkariert werden. Wenn nämlich jemand einen Anspruch nach dem Opferentschädigungsgesetz hat, dann soll er diesen Anspruch auf Eis legen, möglicherweise – so war es vorher – Verzichtserklärungen unterschreiben. Das heißt, auf sämtliche Ansprüche soll verzichtet werden. Wenn man dann diese Ansprüche von den Anlaufstellen, von denen man im Übrigen noch gar nicht weiß, was diese denn im Einzelfall gewähren, gegenüberstellt, ist das wie ein Überraschungspaket...

hpd: Eine Black Box...

Nieporte: Eine Black Box, man weiß nicht, was drin sein wird. Oder dass Therapiekosten drin sind, die möglicherweise sogar eine Krankenkasse übernehmen würde. Es ist nämlich nicht so, dass diese grundsätzlich nichts zahlen. Man muss das schon besonders begründen, das ist richtig. Aber über die Anlaufstellen werden nur diese sogenannten Sachleistungen gewährt, oftmals habe ich den Eindruck, dass die Anlaufstellen gezielt möglichst viel als zusätzliche Leistung „versprechen“, damit die Betroffenen von vornherein andere Ansprüche, insbesondere solche nach dem OEG,  aufgeben. Dabei widersprechen sich die Ansprüche überhaupt nicht zwingend.

hpd: Was mich in der Sendung Mona Lisa erschreckte, war, dass gesagt wurde, 120 Millionen Euro seien gezahlt worden, die zuerst einmal in diese Anlaufstellen fließen. Das heißt, diese Anlaufstellen werden von den 120 Millionen Euro finanziert und die Opfer erhalten davon somit nicht so viel.

Nieporte: Das ist eben die Frage. Die Einrichtung der Stellen kostet natürlich auch Geld und die muss von irgendetwas bezahlt werden. Das wird eben aus dem Fonds genährt.

hpd: Das heißt, Sie raten den Betroffenen davon ab, sich von den Anlaufstellen entmutigen zu lassen, sondern sie sollen ihre Anträge nach dem Opferentschädigungsgesetz stellen?

Nieporte: Sie sollen vor allen Dingen zunächst die Anlaufstellen aufsuchen, dazu ermutige ich durchaus, aber im Einzelfall, der auch von den Anlaufstellen berücksichtigt werden sollte, sollten auch die Betroffenen gleichzeitig immer noch im Kopf haben, dass und welche weiteren Ansprüche noch geltend gemacht werden. Wer beispielsweise überhaupt keine Ansprüche nach dem OEG geltend machen kann, der braucht auch keinen solchen Antrag stellen. Wenn jemand also einwendet, in seiner Kindheit gearbeitet und dafür keine Anrechnung von Beitragszeiten erhalten, wird über die Anlaufstellen informiert, dass eine pauschale Geltendmachung möglich ist. In einem solchen Fall ist die Anlaufstelle also eine – wenn auch geringe – Hilfe.

Andererseits ist bei einer Person, die grundsätzlich die Voraussetzungen für einen OEG-Anspruch erfüllt, nicht einsichtig, dass sie diese Ansprüche aufgeben soll. Nach meiner juristischen Auffassung schließt sich dies gar nicht aus. Man kann den Antrag nach dem OEG sogar dahingehend konkretisieren, dass man keine Sachleistungen möchte. Wenn auf der anderen Seite die Anlaufstellen nur Sachleistungen verteilen, gibt es keine Konkurrenzansprüche. Eigentlich könnten also beide Verfahren parallel laufen. Aber man versucht, wie ich meine systematisch, das Thema Entschädigung von ehemaligen Heimkindern über die Anlaufstellen schnellstmöglich abschließend zu beenden. Das missfällt mir.
 

hpd: Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Fiona Lorenz