Scharfe Klingen – Stumpfe Logik

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Beschneidung erwachsener Männer (Grabrelief, Sakkara, 6. Dynastie, Ägypten, 2300 v.u.Z.)

KÖLN. (hpd) Kritikern des Kölner Urteils zur Beschneidung ist es nicht gelungen, irgendwelche neuen Aspekte vorzubringen, die in der medizinisch-juristischen Diskussion nicht bereits berücksichtigt wurden. Der Umstand, dass nur ein Fünftel der Juden in Deutschland beschnitten ist, wirft die Frage auf, wie repräsentativ die Erklärungen offizieller Religionsvertreter überhaupt sind.

Und der Einwand, nun seien vermehrt illegale und riskantere Beschneidungen zu erwarten, belegt, dass es bei der Beschneidung in Wirklichkeit gar nicht um das Kindeswohl geht.

Bericht und Kommentar von Matthias Krause.

Das Urteil des Kölner Landgerichts, demzufolge die Beschneidung nicht einwilligungsfähiger Kinder ohne medizinische Notwendigkeit eine strafbare Körperverletzung darstellt, hat scharfe Kritik hervorgerufen. Scharf, aber nicht scharfsinnig. Viele Kommentatoren haben sich mit dem Urteil und der juristischen Position zur Knabenbeschneidung offenbar entweder gar nicht auseinandergesetzt, oder aber sie ignorieren sie. Das betrifft insbesondere die Vorwürfe, die Richter hätten die Religionsfreiheit und das Elternrecht nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt, sie hätten „eindimensional“ geurteilt usw.

Einerseits erscheinen diese Reaktionen verständlich. Denn bis letzte Woche dürften sich nur die wenigsten Gedanken darüber gemacht haben, wie die Beschneidung von Kindern und Säuglingen strafrechtlich zu bewerten ist. Und der Umstand, dass bisher kaum jemand Anstoß daran nahm und es auch keine wahrnehmbare öffentliche Diskussion darüber gab, musste den Eindruck erwecken, dass die Praxis entweder juristisch nicht zu beanstanden sei oder man zumindest geteilter Meinung darüber sein könne.

Abseits der Öffentlichkeit – in Juristenkreisen – wurde diese Diskussion allerdings geführt. Und es kann auch nicht wirklich überraschen, dass ein Gericht zu dem Urteil kommt, dass das medizinisch nicht notwendige Abschneiden eines gesunden Körperteils bei einem nicht einwilligungsfähigen Kind unzulässig ist. In jedem anderen Fall wäre vermutlich – und zu Recht – Kritik laut geworden, hätte das Gericht anders entschieden und derartige Handlungen für zulässig erklärt.

Wer also das Urteil des Kölner Landgerichts kritisiert, der muss entweder zeigen, wo die Richter mit ihrer Beurteilung falsch liegen, oder wodurch das medizinisch nicht notwendige Abschneiden eines gesunden Körperteils bei einem nicht einwilligungsfähigen Kind gerechtfertigt werden könnte. Schauen wir uns also die Kritik am Kölner Urteil an.

Kinderrecht vs. Elternrecht

Viele Kritiker werfen den Richtern vor, bei ihrer Abwägung das Elternrecht und die Religionsfreiheit gegenüber dem Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit nicht ausreichend berücksichtigt zu haben. Diese Kritik zeugt von Unkenntnis: In Juristenkreisen wurde dieses Thema in den letzten Jahren ausführlich diskutiert, und zwar sowohl von Gegnern als auch von Verteidigern der religiösen Beschneidung. Dabei hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass es sich bei der Beschneidung nicht einwilligungsfähiger Kinder ohne medizinische Notwendigkeit in der Tat um Körperverletzung handelt. Wer will, kann sich dazu den 40-seitigen Artikel des Strafrechtlers Dr. Holm Putzke durchlesen, der die Diskussion 2008 angestoßen hat und in dem das Thema sehr umfassend und ausführlich abgehandelt wird. Darin werden auch praktisch alle – zumindest juristisch relevanten – Einwände, die jetzt gegen das Kölner Urteil vorgebracht werden, erörtert und entkräftet.

Natürlich haben die Richter am Kölner Landgericht bei ihrem Urteil das Recht des Kindes und das der Eltern gegeneinander abgewogen. Dabei geht es um das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit auf der einen Seite (Art. 2 (2) GG) und das Recht der Eltern auf Religionsfreiheit (Art. 4 GG) und das Erziehungsrecht der Eltern (Art. 6 (2) GG).

Die Religionsfreiheit entbindet allerdings nicht von den staatsbürgerlichen Pflichten (Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 (1) WRV), d.h. hier: von der Pflicht, seinen Mitmenschen keine Körperverletzung zuzufügen (§ 223 StGB). Vielmehr muss sich die Religionsausübung im Rahmen der für alle geltenden Gesetze bewegen. Deshalb kann, wenn die Beschneidung die Tatbestandsmerkmale der Körperverletzung erfüllt, die Religionsfreiheit nicht zur Rechtfertigung angeführt werden. Dies ist bei jedem anderen Thema auch gesellschaftlicher Konsens, wenn es z.B. um die Beschneidung vom Mädchen, „Ehrenmorde“, Zwangsheiraten oder die körperliche Züchtigung der eigenen Kinder unter Berufung auf die Bibel geht. Ebenso wenig können sich Zeugen Jehovas auf die Religionsfreiheit und das Elternrecht berufen, um die Verabreichung lebensnotwendiger Bluttransfusionen an ihr Kind zu verhindern. (Zur Ausnahme beim Tierschutzgesetz zur Schächtung aus religiösen Gründen siehe Fußnote.)

Das Wohl des Kindes geht vor

Was das Elternrecht angeht, so deckt dieses nur Erziehungsmaßnahmen, die dem Wohl des Kindes dienen (§ 1627 BGB). Weiterhin hat das Kind das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung ohne körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und anderer entwürdigende Maßnahmen (§ 1631 (2) BGB „Inhalt und Grenzen der Personensorge“). Außerdem hat Deutschland die UN-Kinderrechtskonvention unterzeichnet, der zufolge „überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind, abzuschaffen“ sind (Art. 24 (3) des Übereinkommens über die Rechte des Kindes). Außerdem ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten, und die Kölner Richter fanden es unverhältnismäßig, dass die Beschneidung dem Kind ein dauerhaftes und irreparables sichtbares Zeichen der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft verpasst und damit dem Interesse des Kindes zuwiderläuft, das sich später unter Umständen gegen diese Religion entscheidet. Vielmehr hält das Gericht es den Eltern für zumutbar, mit der Beschneidung abzuwarten, bis das mündige Kind diese Entscheidung selber treffen kann.

Man kann den Richtern schlichtweg nicht vorwerfen, sie hätten die Religionsfreiheit und das Elternrecht nicht ausreichend berücksichtigt. In Anbetracht der Rechtslage konnten die Richter nur zu dem Urteil kommen, dass die körperliche Unversehrtheit des Kindes höher zu bewerten ist als das Elternrecht oder die Religionsfreiheit der Eltern. Das Gleiche gilt für das Bundesverfassungsgericht, dessen Entscheid jetzt von Kritikern des Urteils gefordert wurde. Zwar ist tatsächlich zu hoffen, dass die Frage schnell abschließend geklärt wird. Man fragt sich aber, ob diejenigen, die jetzt nach dem Bundesverfassungsgericht rufen, sich über die Urteilsgründe des Kölner Landgerichts im Klaren sind, und darüber, dass dies unter Juristen die herrschende Meinung darstellt.

Daran wird auch der Deutsche Bundestag nicht vorbeikommen, falls dort ernsthaft überlegt würde, eine Ausnahmeregelung für die Beschneidung  zu erlassen, wie dies z.B. vom Zentralrat der Juden gefordert wird. Die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages haben bereits deutlich gemacht: „Sollte jedoch der Gesetzgeber tätig werden wollen, stünde er letztlich vor der Herausforderung, abstrakte Regelungen zu treffen, wonach bestimmte Eingriffe in die körperliche Integrität Schutzbefohlener aus religiösen Gründen straffrei sein können.“

Fazit: Wer behauptet, das Landgericht Köln hätte „eindimensional“ entschieden oder die Religionsfreiheit und das Elternrecht nicht ausreichend gewürdigt, der hat sich offenbar mit der juristischen Argumentation nicht auseinandergesetzt, zumindest vertritt er eine Mindermeinung.

Ein harmloser Eingriff?

Viele Kritiker versuchen, die obige Argumentation dadurch zu entkräften, dass sie die Beschneidung als harmlos darstellen, als sei das Kindeswohl dadurch nicht oder nur unwesentlich beeinträchtigt. Es sind nun gerade solche Kritiker, die völlig einseitig argumentieren. Denn selbst, wenn man die Beschneidung nicht für besonders schwerwiegend hält, so lässt sich doch nicht ernsthaft bestreiten, dass das Abschneiden der Vorhaut einen nicht unbeträchtlichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit darstellt, der durchaus mit Risiken verbunden ist, und – wie die Kölner Richter zutreffend feststellten – dem Kind dauerhaft und irreparabel das sichtbare Zeichen einer Religionszugehörigkeit aufzwingt. Und das allein reicht völlig aus, um hier das Recht des Kindes höher zu bewerten als die Rechte der Eltern.

Weibliche Genitalverstümmelung

In diesem Zusammenhang ist es auch unerheblich, dass die Beschneidung von Jungen weniger schwerwiegend ist als die Genitalverstümmelung von Mädchen. Der Maßstab für die rechtliche Beurteilung der Knabenbeschneidung kann nicht eine willkürlich gewählte, noch schlimmere Praxis sein, sondern nur Art. 2 des Grundgesetzes, der die körperliche Unversehrtheit schützt. Und die ist bereits bei der Entfernung der Vorhaut ohne medizinische Notwendigkeit beeinträchtigt.

Allgemeine Billigung

Kritiker weisen darauf hin, dass die Beschneidung in bestimmten Kreisen üblich und allgemein gebilligt sei, Juristen sprechen hier von Sozialadäquanz. Diese Argumentation hat das Kölner Landgericht ausdrücklich verworfen, und zwar mit der Begründung, dass der Umstand, dass eine Praxis gesellschaftlich geduldet ist, nicht als Rechtfertigung angeführt werden kann, wenn das Strafrecht diese Praxis verbietet. [S. 5-6, mit zahlreichen Hinweisen auf entsprechende Meinungen.]

Weltweite Praxis

In diesem Zusammenhang geht auch der oft vorgebrachte Hinweis darauf, dass weltweit rund ein Drittel der Männer beschnitten sei – in den USA ist von 75% die Rede – ins Leere, denn die wenigsten dieser Männer haben sich ja selbst im Erwachsenenalter für die Beschneidung entschieden, sondern sind ungefragt als Kinder oder gleich nach der Geburt beschnitten worden. In Osteuropa ist nur eine „sehr kleine Minderheit unter den jüdischen Männern“ beschnitten. Die Ursache soll das kommunistische Regime vor 1989 sein. Allerdings scheint sich kaum jemand in den letzten 20 Jahren dafür entschieden zu haben, die eigene Beschneidung freiwillig nachzuholen. Wenn sich aber kaum ein Erwachsener aus religiösen Gründen freiwillig für die Beschneidung entscheidet, erscheint es umso fragwürdiger, sie nicht einwilligungsfähigen Kindern aufzuzwingen.

Peniskrebs

Weiter wird gesagt, die Beschneidung diene gerade dem Wohl des Kindes, da ihr gesundheitliche Vorteile zugeschrieben werden. Für die Beschneidung von Kindern kommt es aber nicht darauf an, ob die Beschneidung überhaupt Vorteile hat, sondern ob diese Vorteile es rechtfertigen, die Beschneidung schon beim nicht einwilligungsfähigen Kind vorzunehmen. Das Risiko, an Peniskrebs zu erkranken, ist beispielsweise so gering, dass es die möglichen Komplikationen einer Beschneidung nicht rechtfertigt, zumal die Beschneidung auch hier immer noch später vorgenommen werden könnte.

Gebärmutterhalskrebs

Was den in diesem Zusammenhang ebenfalls oft angeführten Gebärmutterhalskrebs angeht, so ist es unverhältnismäßig, am nicht einwilligungsfähigen Kind Eingriffe zum Wohle Dritter – bei Gebärmutterhalskrebs nämlich zukünftiger Geschlechtspartnerinnen – vornehmen zu lassen. Dies liegt nämlich nicht im Interesse des Kindes. Auch alle weiteren genannten gesundheitlichen Vorteile wie bessere Hygiene und (begrenzter) Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten lassen sich auch durch weniger einschneidende Maßnahmen erzielen, und für den Schutz vor Geschlechtskrankheiten und Gebärmutterhalskrebs ist auch keine Beschneidung im nicht einwilligungsfähigen Alter erforderlich.

Ohne Sinn und Verstand

Das Beispiel „Gebärmutterhalskrebs“ zeigt schon, dass Kritiker des Kölner Urteils zum Teil ohne Sinn und Verstand argumentieren.

Niemand empfiehlt die Beschneidung von Kindern

Unvoreingenommener urteilen Experten der Weltgesundheitsorganisation WHO und nationaler Gesundheitssysteme. Auch die WHO empfiehlt keine Beschneidung von nicht einwilligungsfähigen Kindern: Die vielzitierte Empfehlung der WHO bezieht sich nämlich nur auf AIDS-Hochrisikogebiete und fordert ausdrücklich die Freiwilligkeit der Maßnahme. Es gibt auch weltweit keine andere Gesundheitsorganisation, die die Beschneidung von Kindern als Standardmaßnahme empfiehlt. (Andernfalls hätte man sicher in der letzten Woche davon gehört.) Im Gegenteil: In England und den USA wurde der Nutzen der Beschneidung von Neugeborenen untersucht, woraufhin ausdrücklich keine Empfehlungen mehr ausgesprochen wurden – was dazu führte, dass (in England und Teilen des USA, auch Kanada) die Beschneidung ohne konkrete medizinische Notwendigkeit nun nicht mehr von den Krankenkassen bezahlt wird. Seitdem sinkt dort auch die Zahl der vorgenommenen Beschneidungen.

Dementsprechend kamen auch nicht nur z.B. Prof. Maximilian Stehr und Prof. Hans-Georg Dietz in ihrem Artikel im Deutschen Ärzteblatt zu dem Schluss, dass die Beschneidung von Kindern und Säuglingen medizinisch nicht erforderlich ist, sondern auch der Experte, den das Landgericht Köln dazu befragte.

Somit können gesundheitliche Gründe die Beschneidung von Kindern ohne konkrete medizinische Notwendigkeit nicht rechtfertigen. Es bleibt der Verstoß gegen die körperliche Unversehrtheit und das Aufzwingen eines unabänderlichen Zugehörigkeitsmerkmals zu einer Religion.

Und wer, wie der Zentralrat der Muslime, entgegen aller Risiken und Komplikationen einfach behauptet, es sei „wissenschaftlich erwiesen, dass eine medizinisch fachgerechte Zirkumzision nur Vorteile für die Kinder und späteren Erwachsenen mit sich bringt“, der zeigt lediglich, dass er neben Vorhäuten offenbar auch intellektuelle Redlichkeit für verzichtbar hält.

Sexuelle Vorteile

Angebliche sexuelle Vorteile können gleich gar nicht als Argument für die Beschneidung von Säuglingen und Kindern ins Feld geführt werden, da sich die behaupteten Vorteile später immer noch – dann aber mit der Einwilligung des Betreffenden – erzielen ließen. Auch hier belegt dies eher die Unbedachtheit desjenigen, der so argumentiert. Und es mutet schon seltsam an, dass die reduzierte Empfindsamkeit der Penisspitze – ein Umstand, der im Hinblick auf Kondome weltweit regelmäßig als Nachteil und Grund für die Nichtbenutzung angeführt wird – bei der Beschneidung von Säuglingen plötzlich als Vorteil gelten soll.

Die Urteilsbegründung ist demzufolge nicht zu beanstanden. Man muss das Urteil nicht mögen, es ist aber nicht erkennbar, wo die Richter falsch geurteilt haben sollten.

Folgen des Urteils

Freilich ist das Kölner Urteil nicht ohne gravierende Folgen für Muslime und Juden, die ihre nicht einwilligungsfähigen Söhne aus religiösen Gründen beschneiden wollen. Und zwar insbesondere für die Juden, bei denen die Beschneidung traditionell am achten Tag nach der Geburt vorgenommen wird, sofern dem keine triftigen (z.B. gesundheitlichen) Gründe entgegenstehen. Bei den Muslimen ist nicht konkret vorgegeben, dass oder wann die Beschneidung zu erfolgen hat. Tatsächlich haben Krankenhäuser und Ärzte aufgrund des Urteils bereits aufgehört, Beschneidungen aus religiösen Gründen vorzunehmen, und die Berufsverbände der betroffenen Ärzte empfehlen ihren Mitgliedern, von Beschneidungen aus religiösen Gründen abzusehen.

Von daher geht auch die Kritik ins Leere, das Kölner Urteil sorge für „Rechtsunsicherheit“. Rechtsunsicherheit gab es vorher, denn die herrschende juristische Meinung beurteilte die religiöse Beschneidung als Körperverletzung, es gab aber kein Urteil dazu. Nach dem Kölner Urteil kann praktisch kein seriöser Arzt mehr Beschneidungen ohne medizinische Notwendigkeit vornehmen. Zwar ist die Frage noch nicht abschließend entschieden, die Rechtssicherheit hat sich aber durch das Urteil verbessert.

Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften?

Sowohl der Zentralrat der Juden als auch der der Muslime bezeichnen das Urteil als „Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften“. Gemeint ist wohl Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 (3) WRV: „Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes.“ Wie schon bei der Religionsfreiheit hat dies aber im Rahmen der für alle geltenden Gesetze zu erfolgen, deshalb kann das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften keinen Verstoß gegen das Strafrecht rechtfertigen. Im Gegensatz z.B. zu Kopftuchverboten ist das Verbot der Körperverletzung auch kein Gesetz, das speziell auf die Einschränkung bestimmter religiöser Praktiken abzielt.

Ohnehin ist nicht unmittelbar einleuchtend, wie ein Selbstbestimmungsrecht Eingriffe an anderen – also Fremdbestimmung – rechtfertigen soll.

Einschränkung der Religionsausübung

Nachvollziehbarerweise empfinden Juden und Muslime das Urteil als Einschränkung der Religionsfreiheit – genauer müsste man aber wohl von einer Einschränkung der Religionsausübung sprechen, denn die Religionsfreiheit erstreckt sich nur auf gesetzlich zulässige Handlungen. Das Urteil richtet sich aber nicht gegen die Religionsausübung als solche, auch nicht gegen die Beschneidung an sich, sondern hält lediglich die Beschneidung nicht einwilligungsfähiger Kinder für unverhältnismäßig. Zwar wird die Religionsausübung eingeschränkt, dies geschieht aber, um einem höherrangigen Recht Geltung zu verschaffen, nämlich dem Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit. Man muss dies nicht mögen, es ist aber nicht zu beanstanden.

Und wer das Strafrecht nicht als „triftigen Grund“ für eine Verschiebung der Beschneidung anerkennen will, der kann von einem Rechtsstaat kaum Verständnis oder gar Entgegenkommen erwarten.

Deutschland als Ausnahme?

Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Dr. Dieter Graumann, erklärte: Wenn sich die Rechtsprechung des Landgerichts Köln durchsetzen würde, „dann wäre Deutschland das einzige Land der Welt, in dem Beschneidung verboten wäre“. Nun, es mag sein, dass – wie bisher in Deutschland – die Beschneidung von Kindern bisher nicht geahndet wird. Die meisten Länder dürften allerdings Gesetze gegen Körperverletzung haben und wohl kaum Ausnahmeregelungen für die religiöse Beschneidung. (In Schweden sind medizinisch nicht notwendige Beschneidungen bei Jungen, die älter als zwei Monate sind, generell verboten.) Vielmehr wird es – jedenfalls in Europa – wohl so sein wie in Deutschland vor dem Kölner Urteil: Die Beschneidung nicht einwilligungsfähiger Kinder dürfte den Straftatbestand der Körperverletzung erfüllen, diese Erkenntnis hat sich lediglich noch nicht durchgesetzt.

Die UN-Kinderrechtskonvention gilt (fast) überall

Denn bis auf Somalia und die USA haben alle Länder die UN-Kinderrechtskonvention unterzeichnet, und die gibt im Hinblick auf die Beschneidung genau den gleichen Rahmen vor wie das Grundgesetz und das Bürgerliche Gesetzbuch: Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, ist das Wohl des Kindes vorrangig zu berücksichtigen (Art. 3). Das Elternrecht wird respektiert (Art. 5), allerdings ist auch hier „das Wohl des Kindes“ das Grundanliegen (Art. 18). Die Religionsfreiheit des Kindes ist zu achten und darf zugunsten der Gesundheit und der Grundrechte anderer eingeschränkt werden (Art. 14). Die Unterzeichnerstaaten haben das Kind vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenzufügung, Misshandlung oder schlechter Behandlung zu schützen, solange es sich in der Obhut der Eltern befindet (Art. 19). Überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind, sind abzuschaffen. (Art. 24).

Damit ergeben sich für die Abwägung des Kindesrechts gegenüber dem Elternrecht die gleichen Rahmenbedingungen wie in Deutschland, besonders in den (überwiegend europäischen) Staaten, die außerdem noch das Recht auf gewaltfreie Erziehung kennen. Damit dürfte die Rechtslage in Deutschland auch nach dem Urteil im Prinzip nicht anders sein als zumindest im europäischen Ausland, der Unterschied liegt lediglich darin, dass die Beschneidung von Kindern in Deutschland nun als Körperverletzung erkannt wurde, während die Beschneidung zur Zeit in anderen Ländern noch geduldet wird, vermutlich aufgrund mangelnden Problembewusstseins.

Die Entwicklung im Ausland

Ein Zustand, der nach dem aufsehenerregenden Urteil des Kölner Landgerichts kaum so bleiben wird. Die britische Ärztevereinigung British Medical Association (BMA) bezeichnete schon 1996 medizinisch nicht gebotene Beschneidungen an Neugeborenen als „unangebracht und unethisch“. Mittlerweile vertritt die BMA zwar keine offizielle Position mehr dazu, mit dem Hinweis, dass unter den Mitgliedern ein „Spektrum von Ansichten“ existiere. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass Ärzte auch Beschneidungen durchführen und daran verdienen. Dennoch erklärte die Königlich-Niederländische Ärztevereinigung (KNMG) 2010: „Der offizielle Standpunkt der KNMG und anderer medizinischer/wissenschaftlicher Organisationen ist, dass die medizinisch nicht notwendige Beschneidung männlicher Minderjähriger eine Verletzung der Kinderrechte auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit darstellt. Entgegen verbreiteter Vorstellungen kann die Beschneidung zu Komplikationen führen – Blutungen, Infektionen, Harnröhrenverengung und Panikattacken sind besonders häufig. Die KNMG drängt daher auf eine deutliche Politik der Abschreckung. Die KNMG ruft Ärzte dazu auf, Eltern, die eine Durchführung erwägen, aktiv und mit Nachdruck über das Nichtvorhandensein medizinischer Vorteile und die Gefahr von Komplikationen zu informieren.“

Obwohl bisher ohne strafrechtliche Konsequenzen, wird die Auffassung der deutschen Juristen also durchaus auch von ausländischen Experten geteilt.

Mehr illegale Beschneidungen?

Der am meisten bedenkenswerte Einwand ist die von vielen Kritikern des Urteils vorgebrachte Befürchtung, dass nun auf illegale, weniger professionelle Beschneider zurückgegriffen wird, wodurch das Wohl der Kinder erst recht gefährdet würde. Dieser Einwand ist nicht von der Hand zu weisen, er bestätigt allerdings die Kölner Richter in ihrem Urteil und entlarvt gleichzeitig die ganze Diskussion um die angeblichen Vorteile der Beschneidung als vorgeschoben: Denn offenbar ist selbst den Verteidigern der Beschneidung klar, dass es bei der religiösen Beschneidung nicht um das Wohl des Kinde geht. Dann würden die Eltern nämlich lieber die Beschneidung verschieben, als ihr Kind von einem Pfuscher beschneiden zu lassen. Es mag ja sein, dass es Eltern gibt, denen das Strafrecht egal ist und die für einen religiösen Brauch auch das Wohl ihres Kindes aufs Spiel setzen. Dies sind nun aber gerade nicht die Leute, wegen denen man Ausnahmen in das Strafrecht schreiben sollte – dies sind die Leute, vor denen Kinder geschützt werden müssen.

Es ist eine Sache, sein Kind beschneiden zu lassen, solange dies nicht strafrechtlich geahndet wird – solange darf man davon ausgehen, dass dem Kind kein unverhältnismäßiger Schaden entsteht. Etwas Anderes ist es, sein Kind beschneiden zu lassen, nachdem Mediziner und Juristen nach sorgfältiger Abwägung der Rechte des Kindes und der Eltern zu der Erkenntnis gelangt sind, dass die Beschneidung nicht einwilligungsfähiger Kinder ohne medizinische Notwendigkeit unverhältnismäßig und daher strafbar ist. (Dass die Beschneidung in anderen Ländern geduldet wird, dürfte ja weniger daran liegen, dass man dort bei der Abwägung zu einem anderem Ergebnis gekommen ist, als daran, dass diese Frage dort juristisch noch gar nicht erörtert wurde. Anderenfalls wäre sicher bereits auf entsprechende Urteile in anderen Ländern verwiesen worden.) Wer seinen Sohn trotz Strafbarkeit und erhöhten gesundheitlichen Risikos beschneiden lässt, kann und muss wohl als religiöser Fundamentalist bezeichnet werden.

Wie repräsentativ sind muslimische und jüdische Interessenvertretungen?

Aber wie viele Menschen sind das? Sind die Erklärungen des Zentralrats der Juden und muslimischer Organisationen tatsächlich repräsentativ für den Großteil der Juden und Muslime in Deutschland? Wenn man die Verhältnisse bei den christlichen Kirchen (insbesondere der katholischen) als Anhaltspunkt nimmt, wohl kaum. Vielmehr ist davon auszugehen, dass religiöse Organisationen grade das „strenggläubige“ Spektrum der Gläubigen repräsentieren und nicht die „Mitte“. Jedenfalls berichtete der WDR (Diesseits von Eden vom 1.7.2012,6:49), Rabbinern zufolge sei in Deutschland höchstens jeder fünfte Jude beschnitten. Und es ist ja auch nicht so, dass die Gründe für ein Verbot der religiösen Säuglings- und Kinderbeschneidung nicht nachvollziehbar oder einsichtig wären.

Das Ende der Integration?

Der integrationspolitische Sprecher der FDP, Serkan Tören, kritisierte: „Sollte die Beschneidung aus religiösen Gründen in Deutschland verboten sein, kann sich das Land jede weitere Integrationspolitik sparen“. Unter Integration versteht man allerdings üblicherweise, dass diejenigen, die in ein Land kommen, ihr Verhalten an die dort geltenden Gesetze anpassen, und nicht, dass die Gesetze an das Verhalten von Einwanderern angepasst werden. Jedenfalls nicht, wenn es um Körperverletzung an nicht einwilligungsfähigen Kindern aus religiösen Gründen geht, ebenso wenig wie dies bei „Ehrenmorden“, Zwangsheiraten oder der Genitalverstümmelung an Mädchen getan wird.

Es ist durchaus ehrenwert, dass versucht wird, unverhältnismäßige Folgen des deutschen Strafrechts für religiöse Menschen, die keine Christen sind, zu verhindern. Die Frage der Verhältnismäßigkeit ist allerdings unter Juristen jahrelang diskutiert worden, und dabei hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass eben die Beschneidung nicht einwilligungsfähiger Kinder ohne medizinische Notwendigkeit unverhältnismäßig ist, nicht deren Verbot.

Die bisher vorgetragene Kritik am Urteil des Kölner Landgerichts zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie diese Abwägung nicht zur Kenntnis nimmt, genauso wie ausgeblendet wird, dass die Beschneidung eben mehr ist als nur ein unwesentlicher Eingriff, nämlich durchaus mit Risiken und einer Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit und Selbstbestimmung des Kindes einhergeht, und dass dies bei Kindern auch nicht durch die behaupteten Vorteile der Beschneidung zu rechtfertigen ist.

Somit zeigt gerade die Diskussion der letzten Woche: Der Einschätzung des Gerichts haben auch die Verteidiger der Beschneidung inhaltlich nichts entgegenzusetzen. Die Kritik ist zwar laut, aber nicht legitim.

Vor die Wahl gestellt, einen religiösen Brauch zu schützen oder das Recht nicht einwilligungsfähiger Kinder auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung, hat sich das Kölner Landgericht für Letzteres entschieden. Dies kann und sollte auch von Verfechtern der Religionsfreiheit akzeptiert werden.

 

Fußnote: Der Umstand, dass im Tierschutzgesetz ausdrücklich eine Ausnahme für das Schächten ohne Betäubung aus religiösen Gründen gemacht wird, könnte den Eindruck erwecken, dass das Recht auf freie Religionsausübung tatsächlich Ausnahmen von allgemeinen Gesetzen erforderlich machen kann. Die Ausnahmeregelung für das Schächten lässt sich allerdings nicht auf die Beschneidung übertragen. Denn obwohl Tierschutz allgemein (und ausgesprochen vage) seit 2002 im Grundgesetz verankert ist (Art. 20a GG), ist der Schutz der Tiere durch das Grundgesetz nicht mit dem Recht von Menschen auf körperliche Unversehrtheit zu vergleichen. Dies wird bereits daran deutlich, dass Tiere überhaupt getötet werden dürfen. Demzufolge zielt das Tierschutzgesetz auch lediglich darauf ab, Schmerzen, Leiden und Schäden von Tieren „ohne vernünftigen Grund“ zu vermeiden (§ 1 TierSchG). Religiöse Gründe zählen nicht als „vernünftiger Grund“. Allerdings hat der Gesetzgeber hier mehr Spielraum als bei der körperlichen Unversehrtheit von Menschen, und von dem Grundsatz, dass Wirbeltiere nicht ohne vorherige Betäubung getötet werden dürfen, gibt es mehrere Ausnahmen, u.a. auch die „waidgerechte Ausübung der Jagd“ (§ 4 (1) TierSchG).

Solange es aber Ausnahmen aus „waidmännischer Tradition“ gibt, kann die Religionsausübung demgegenüber nicht schlechter gestellt werden. Das Recht auf Religionsfreiheit bewirkt hier keine spezifisch religiöse Ausnahme, sondern stellt lediglich sicher, dass die Religionsausübung nicht schlechter gestellt wird als andere Ausnahmen aus Gründen „des Herkommens und der gesellschaftlichen Akzeptanz“ (BVerfG 1 BvR 1783/99).

Das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit hat allerdings Verfassungsrang und es gibt keine Ausnahmen für Körperverletzung aus „Gründen des Herkommens und der gesellschaftlichen Akzeptanz“. Und es sollte auch keine geben.