Gesetzentwurf à la carte religieuse

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Bundeskanzleramt / Foto: wikimedia commons (Janericloebe)

BERLIN. (hpd) Am Mittwoch dieser Woche hat das Bundeskabinett den angekündigten Gesetzesentwurf zur Legalisierung der Beschneidung männlicher minder­jähriger Kinder verabschiedet. Damit ist die Bundes­regierung dem Begehren des Bundestages aus dem Juli nachgekommen, zügig einen Gesetz­entwurf vorzulegen, der die traditionellen und rituellen Knaben­beschneidungen von Muslimen und Juden weiter ermöglicht.

Bericht und Kommentar von Walter Otte

Noch in diesem Jahr soll der Bundestag das Legali­sierungs­­­gesetz beschließen. Muslimische und jüdische Verbände­­­vertreter haben den Gesetz­­­entwurf umgehend begrüßt, entspricht er doch ihren Vor­stellungen und lässt ihnen weiter freie Hand bei Knaben­­­beschnei­dungen.

Vorbereitung des Gesetzesentwurfs ausschließlich mit Religions­vertretern

Die von Religions­funktionären und Geistlichen vehement beklagte „Rechtsunsicherheit“ nach dem Urteil des Land­­gerichts Köln aus dem Mai dieses Jahres soll so schnell wie möglich beseitigt werden, ohne dass über Traditionen und Rituale in den jeweiligen Communitys auch nur ansatz­weise nach­gedacht wird. Dass ein Nach­denken auch seitens der führenden Politiker nicht beab­sichtigt ist, zeigt sich zum einen am Eil­tempo, in dem das „Problem“ gelöst werden soll, zum anderen aber auch daran, dass in die Erörterungen für eine gesetzliche Regelung lediglich Funktionäre des Zentral­rats der Muslime und des Zentral­rats der Juden sowie der israelische Ober­rabbiner Metzger einbezogen worden waren. Kinder­mediziner und Kinder­schutz­verbände wurden erst gar nicht nach ihrer Ein­schätzung gefragt - ihnen war lediglich nach Vorlage eines Eckpunkte-Papiers des Bundes­justiz­ministeriums gestattet, inner­halb von nur einigen Tagen ihre Auf­fassungen dem Ministerium schriftlich mitzuteilen. Ihre Einwändungen sind – wie angesichts der eindeutigen beschneidungs­freundlichen Ziel­vorgaben durch die Bundes­tags­entschließung im Juli nicht anders zu erwarten war – im vorgelegten Gesetzes­entwurf nicht berück­sichtigt worden. Sämtliche Warnungen von Medizinern, Psychologen und Trauma­therapeuten vor Schäden und beein­trächtigenden Entwicklungen bei den betroffenen Knaben hat die Bundes­regierung ignoriert. Selbst die (zurück­haltenden) Vorschläge des Deutschen Ethik­rats, der ebenfalls im Eil­verfahren mit dem Thema befasst war, sind in dem verab­schiedeten Entwurf allenfalls unzureichend berück­sichtigt.

Sonderrecht für religiöse Rituale wird im BGB untergebracht

Der Gesetzes­entwurf sieht eine Ergänzung des Rechts der elterlichen Sorge im BGB durch Einfügung eines § 1631 d vor, der es Eltern gestattet, eine medizinisch nicht indizierte Vorhaut­beschneidung ihres minder­jährigen Sohnes rechts­wirksam zu veran­lassen. Vorschläge, eine entsprechende Regelung in das Gesetz über die religiöse Kinder­erziehung aufzu­nehmen, sind verworfen worden, um den Anschein eines Sonder­gesetzes für muslimische und jüdische Religions­praktiken zu vermeiden. Die geplante Gesetzes­regelung stellt jedoch nach den Motiven der Bundes­regierung sowie der Sache nach eine Sonder­regelung zugunsten Beschneidungen praktizierender Religionen dar. Durch die vorge­sehene Regelung im BGB werden Beschneidungen (ohne jede medizinische Not­wendig­keit, aber auch ohne Ein­grenzung auf eine religiöse Motivation) in Deutschland erstmals gesetzlich aus­drücklich erlaubt sein.

Mit der Aufnahme in das BGB befindet sich die vorgesehene Gesetzes­vorschrift in unmittel­barer Nähe zu den Vor­schriften, die dem Kind ein Recht auf gewalt­freie Erziehung und ein Recht auf Freiheit vor entwürdigenden Erziehungs­maßnahmen von Eltern sowie einen Schutz vor einer elterlichen Steri­lisierungs­anordnung gewähren (§§ 1631 und 1631 c BGB). Direkt neben der (bisherigen) Gewalt­freiheit wird die (künftige) Gewalt­zulässigkeit unter dem Ober­titel des Kindes­wohls im BGB zu finden sein.

Bundesregierung: Knabenbeschneidungen entsprechen grundsätzlich dem Kindeswohl

Durch die Einordnung der Regelung in das Recht der elterlichen Personen­sorge wird klar­gestellt, dass eine Ein­willigung der Eltern „in eine medizinische nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilfähigen männlichen Kindes“ grund­sätzlich dem Wohl des Kindes entspricht. Eine Beschneidungs­entscheidung der Eltern und das Kindes­wohl können von daher nicht (von Ausnahme­fällen abgesehen) in einem Gegen­satz zueinander stehen. Es wird gesetzlich unter­stellt, dass die Ent­scheidung der Eltern zur Beschneidung ihres Sohnes generell im Interesse des Kindes liegt. Auf die Motive der Eltern für eine Beschneidung kommt es nicht an; sie müssen auch nicht offen­gelegt werden

Voraus­setzung für eine wirksame Einwilligung der Eltern ist lediglich, dass die Beschneidung „nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden“ muss, somit das Tätig­werden eines Arztes erfordert (aber nur, wenn die Knaben älter als sechs Monate sind). In der Begründung des Gesetzes­entwurfs werden eine „medizinisch fach­gerechte Durchführung“ und eine „effektive Schmerz­behandlung“ verlangt, ohne dass hierzu jedoch eine Regelung getroffen wird. Auf diesem Gebiet ist vieles offen.

Beschneidungen und Strafrecht

Eine Beschneidung, die nicht nach den Regeln der ärztlichen Kunst (trotz Einwilligung der Eltern) oder ohne Einwilligung der Eltern durch­geführt wird, bleibt weiterhin verboten und stellt eine strafbare Körper­verletzung nach dem Straf­gesetzbuch dar. Die Beschneidung von Mädchen bleibt ebenfalls weiter verboten und strafbar, da der vorgesehene § 1631 d BGB aus­drücklich nur die „Beschneidung des männlichen Kindes“ legalisiert.

Aufklärung der Eltern ohne Praxisrelevanz?

Vorgesehen ist nach der Begründung des Gesetzes­entwurfs eine Aufklärung der Eltern über die medizinischen Risiken des Beschneidungs­eingriffs in den Körper ihres Sohnes, eine Auf­klärung, die bereits jetzt vor jeder medizinischen Maßnahme, vor jeder Operation rechtlich erforderlich ist. Allein das dies der Regelung bedarf, zeigt wie in der Vergangen­heit verfahren worden ist, sofern nicht Ärzte die Beschneidung vorgenommen haben. Ob aller­dings dieses Erfordernis in der Praxis über die bloße Ankündigung hinaus von Bedeutung sein wird, ist fraglich, denn nach den bislang geltenden Vor­schriften des Arzt­rechts wird es für eine Auf­klärung ausreichen, wenn den Eltern ein die Risiken darstellendes Schrift­stück vorgelegt wird, welches sie lediglich zu unter­schreiben haben. Eine Aufklärung der Eltern mit mündlicher Erläuterung der einzelnen Risiko­faktoren, die bei der Vorhaut­amputation eine Rolle spielen können, ist nicht vorge­sehen.

Kindeswohlgefährdung nur in Ausnahmefällen

Entspricht die Entscheidung der Eltern nach den Vorstellungen der Bundes­regierung somit ohne weiteres dem Kindes­wohl, und zwar ohne dass es auf die von den Eltern mit der Beschneidung verfolgten Motive, seien sie religiöser, traditioneller, kultureller, prophy­laktischer oder subjektiv-ästhetischer Art, ankommt, so sieht der Gesetzes­entwurf doch eine Ausnahme­regelung vor, und zwar für den Fall, dass „durch die Beschneidung auch unter Berück­sichtigung ihres Zwecks das Kindes­wohl gefährdet wird“. Lediglich ganz besondere, erheblich über das Normalmaß hinausgehende Gefahren für Leib oder Leben des Knaben (etwa wenn er „Bluter“ ist, „Gelbsucht“ hat oder zu früh zur Welt gekommen ist) werden erfasst. Es muss sich um nachhaltige und schwer­wiegende Gefährdungen handeln, die Ausnahme­charakter haben, da die üblicher­weise mit der Beschneidung einher­gehenden Risiken vom Knaben (aufgrund der elterlichen Entscheidung) hinzunehmen sind.

Erfasst werden von der Ausnahme­regelung wohl auch Beschneidungs­entscheidungen von Eltern, mit denen das Ziel verfolgt wird, ihrem Sohn das Masturbieren zu erschweren oder ihn wegen eines von Eltern angenommenen Fehl­verhaltens mit der Entfernung seiner Vorhaut zu bestrafen, auch Beschneidungen aus subjektiv-ästhetischen Gründen könnten von dieser Regelung erfasst werden. Problem dabei ist jedoch, dass dies ohne wesentliche praktische Bedeutung sein wird. Denn diese Motivationen der Eltern werden nur in seltenen Konstellationen bekannt werden, da Eltern nicht verpflichtet sein werden, die Motive für ihre Beschneidungs­entscheidung offen zu legen. Darauf haben übrigens die Religions­funktionäre ganz besonderen Wert gelegt, da sie (selbst) bei einer Verpflichtung zur Offen­legung der Beschneidungs­gründe die Religions­freiheit der Eltern als gefährdet bezeichnet haben.

Schon diese Beispiele zeigen, dass künftig die Knaben weitest­gehend schutzlos den Beschneidungs­entscheidungen der Eltern aus­geliefert sein werden.

Religionsvertreter ermöglichen Geschäftemacherei mit Vorhäuten

Nebenfolgen der vorgesehenen Regelung sind zu bedenken: gewissen­losen Eltern wird es in Zukunft – dank der massiven Kampagne muslimischer und jüdischer Religions­vertreter und der eil­fertigen Botmäßigkeit der Bundes­regierung sowie der Parlamentarier – möglich sein, mit der Vorhaut ihres Sohnes ein Geschäft zu machen: amputierte Knaben­vorhäute sind stark begehrtes Roh­material für die Herstellung von Kunst­haut­produkten, die für die Behandlung schwer­heilender chronischer Wunden (aufgrund Blutgefäß­erkrankungen, Druck­einwirkungen oder Diabetes) von Bedeutung sind. Eine Verwendung solcher Produkte entlastet die Kranken­kassen finanziell und hilft, manchen Diabetikerfuß vor der Amputation zu bewahren. Zwar wäre die Amputation einer Knaben­vorhaut zu diesem Zweck ein Verstoß gegen das Kindeswohl, doch käme es nur zu Konsequenzen rechtlicher Art, wenn das elterliche Motiv bekannt würde.

Sonderregelung für jüdische Beschneidungsriten

Der vorgesehene § 1631 d Abs. 2 BGB stellt sicher, dass Beschneidungen nach jüdischem Ritual (lediglich durch einen Mohel in der Synagoge oder der elterlichen Wohnung vorgenommen) innerhalb der ersten sechs Monate nach der Geburt zulässig sind. Zwar fallen formell sämtliche Beschneidungen im ersten Lebens­halbjahr unter diese Regelung, doch werden Knaben in muslimischen Familien üblicherweise erst in späterem Lebens­alter beschnitten.

Zwar wird im Gesetz­entwurf verlangt, dass die Mohel für die Beschneidung besonders ausgebildet und „ohne Arzt zu sein, für die Durch­führung der Beschneidung vergleichbar befähigt“ sein müssen, doch lässt die vorgesehene gesetzliche Regelung der Religions­gemeinschaft einen weiten Spiel­raum bei der Aus­gestaltung der Beschneidungen. Eine Schmerz­freiheit des Eingriffs bei den gerade erst acht Tage alten Babys ist überhaupt nicht gesichert, da ein Nicht­mediziner aus rechtlichen Gründen keine (für diese Alters­gruppe ohnehin als problematisch angesehene) Voll­narkose vornehmen darf und eine zur wirksamen Schmerz­bekämpfung anstelle einer Voll­narkose durchzu­führende vollständige Nerven­blockade im Bereich des Penis unbedingt einen speziell ausgebildeten Anästhesisten erfordert. Darüber hinaus fehlt es an einer Klärung, an welchem Ort und unter welchen hygienischen Bedingungen beschnitten werden darf. Den (jüdischen) Knaben unter sechs Monaten, die in besonderem Maße schutz­bedürftig sind, werden erheblich größere Risiken aufgebürdet als den älteren (muslimischen) Knaben und es steht zu befürchten, dass weiterhin keine wirksame Schmerz­bekämpfung vorgenommen, den Säuglingen somit bei vollem Bewusst­sein ohne wirksame Betäubung die Vorhaut entfernt wird.

Es ist nicht auszuschließen, dass es – aufgrund des zu erwartenden Gesetzes - wohl bei dem barbarischen Vorgehen gegen Säuglinge bleiben wird, wie es Prof. Dr. Feurle anhand seiner Beobachtungen in einem Krankenhaus in New Jersey beschrieben hat: „Nach örtlicher Desinfektion musste zunächst die Vorhaut mit der gezähnten Pinzette gefasst und von der Glans gelöst werden. Schon dabei schrien die Kinder erbärmlich. Als die Vorhaut dann mit der gebogenen Schere in mehreren Etappen rings abgeschnitten wurde, schrien die Kinder dermaßen, dass ihnen manchmal der Atem stockte und sie blau im Gesicht wurden. Mit aller Kraft versuchten sie, sich von ihren Fesseln zu lösen.“

Ausgeschlossen dürften allerdings Beschneidungs­praktiken sein, bei denen der Mohel mit dem Finger­nagel das innere Vorhaut­blatt einritzt oder bei denen er mit seinem Mund das Blut vom Penis des soeben beschnittenen Säuglings absaugt; derartige Praktiken entsprechen nicht den Vorgaben des Gesetzes­entwurfs zur medizinisch fachgerechten Durch­führung der Beschneidung.

Wille der Betroffenen bleibt unbeachtlich

Keinen Niederschlag hat in dem Gesetzes­entwurf die Forderung des Deutschen Ethikrats gefunden, eine die Beschneidung ablehnende Äußerung des betroffenen Knaben zu berück­sichtigen. Weder ist ein solches Vetorecht im Gesetzes­entwurf erwähnt, noch ergibt sich aus der Konstruktion der Vorschrift, dass ein Vetorecht zu berück­sichtigen sein wird. Zwar verweist die Begründung auf den im Rahmen der Kindes­wohl­gefährdung zu berück­sichtigenden Willen des männlichen Kindes, doch mangels einer entsprechenden Absicherung des Veto­rechts wird eine Ablehnung der Vorhaut­amputation durch den davon betroffenen Knaben keine praktische Relevanz erlangen, nur in einzelnen absoluten Ausnahme­fällen eine Rolle spielen.

Bisherige Beschneidungspraxis kann fortgesetzt werden

Der vorgelegte Entwurf berücksichtigt das vom Bundestag der Bundes­regierung vorgegebene Ziel einer umstands­losen Weiter­ermöglichung der bisherigen Bescheidungs­praktiken in Deutschland, regelt ausdrücklich, dass die von den Eltern getroffene Beschneidungs­entscheidung regelmäßig dem Kindes­wohl entspricht und macht damit diese Entscheidung unangreifbar, schließt den Knaben von jeder wirksamen Einfluss­nahme auf die Amputation seiner eigenen Vorhaut aus und nimmt ihm auch für das Erwachsenen­alter jegliche Möglichkeit zum Schadens­ersatz und Schmerzens­geld. Eine zulässige Beschneidung kann aus rechtlichen Gründen keine Schaden­ersatzpflicht begründen.

Die wiederholt von medizinischen und psychologischen Fach­leuten beschriebenen tatsächlichen und möglichen Folgen von Vorhaut­entfernungen bleiben vollständig unberück­sichtigt; die Begründung zum Gesetz­entwurf verweist lapidar immer wieder darauf, dass es weltweit unterschiedliche Auf­fassungen zu möglichen Folgen gebe, so dass selbst einhellige Bewertungen von Medizinern und Ärzte­verbänden in Deutschland unbeachtlich seien.

Bundeskabinett negiert Menschenrechte der Knaben

Die im Grundgesetz garantierten Menschenrechte (auch) des Kindes auf körperliche Unver­sehrtheit, auf Selbst­bestimmung sowie auf Religions­freiheit spielen bei den Erwägungen der Bundes­regierung überhaupt keine Rolle. Menschen­rechte des Kindes sind nach den Erläuterungen zum Gesetzes­entwurf dem als vorrangig angesehenen Eltern­recht vollständig unter­geordnet. Die Begründung des Gesetz­entwurfs erörtert zwar ausführlich die Bedeutung des Eltern­rechts im Verhältnis zu staatlichen Eingriffs­befugnissen in die Erziehung von Kindern, die Menschen­rechte der Kinder werden lediglich in einigen Zeilen aufgelistet, nicht einmal erörtert und haben nach der Vorstellung der Bundes­regierung offenbar nur die Bedeutung, den über­geordneten Eltern­rechten allenfalls (weite) Grenzen zu ziehen. Allerdings: Es gibt eben auch keine Argumente, jedenfalls keine verfassungs­konformen, für die Position der Bundes­regierung, auf Biegen und Brechen die alten Rituale weiter zu ermöglichen.

Das Kind als eigenständiger Träger von Menschen­rechte, als Inhaber von Menschen­würde, erscheint weder im Gesetzes­entwurf noch in dessen Begründung. Der Wille der politischen Klasse, den Forderungen der Religions­vertreter nach Erlaubnis ihrer archaischen Rituale schnellst­möglich und vollständig nach­zukommen, lässt Kinder und ihren Schutz völlig aus dem Blick­feld geraten. Kinder haben in Deutschland offen­bar doch keine starke Lobby, wie manch einer dies noch vor Jahres­frist angenommen hatte. Unbeachtlich ist für die Politiker hinsichtlich Beschneidungen die in vergangenen Debatten von allen im Bundes­tag vertretenen Fraktionen beschworene Stärkung des Schutzes von Kindern, unbeachtlich ist plötzlich auch, dass sich in den letzten Jahr­zehnten immer umfassender (auch im Zusammen­hang mit gesetz­lichen Regelungen) die Inter­pretation der Eltern­rechte als lediglich treu­händerische Wahr­nehmung der Rechte der Kinder durch­gesetzt hatte. Das spielt beim Eifer zur Wahrung von religiösen Ritualen keine Rolle mehr.

Die vorgesehene gesetzliche Regelung stellt einen Rück­fall in vergangene Zeiten dar, in denen den Kindern keine oder nur minimale eigenen Rechte zugestanden worden sind, während die Erwachsenen die Kinder in jeder Hinsicht, auch mittels Gewalt und mittels entwürdigender Maßnahmen prägen - „erziehen“ - durften. Zeiten, in denen dies alles weitgehend möglich war, wurden mit dem „Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung“ im Jahr 2000 als vergangen angesehen. Dass diese positive Entwicklung in Deutschland von Seiten zweier religiöser Gruppen in einer derartigen Massivität angegriffen werden würden, wie dies im Jahr 2012 mitzuerleben ist, hat wohl niemand vorher­gesehen. Vorher­sehen konnte man auch nicht, dass Religions­vertreter die Menschen­rechte der hilf­losesten Mit­glieder einer Gesell­schaft ignorieren und den Rechts­staat heraus­fordern, indem sie verkünden, wenn nötig, offen Gesetzes­bruch zu begehen.

Haben Kinder keine Menschenwürde?

Abgehandelt wird die Beschneidungs­problematik, wie die Begründung des Gesetzes­entwurfs zeigt, als Auseinander­setzung von Eltern­rechten und staatlichen Befugnissen. Von den Grund­rechten der Knaben wird keine Notiz genommen. Von ihrer Menschen­würde ebenso wenig, ja sie wird gewisser­maßen für unbeachtlich erklärt, obwohl nach Artikel 1 des Grund­gesetzes die Würde des Menschen unantast­bar ist und ihre Achtung und ihr Schutz vornehmste Aufgabe aller staatlicher Gewalt.

Claudia Wiesemann, Professorin für Medizin­ethik und Mitglied des Deutschen Ethik­rates hat jüngst in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung eindringlich darauf hingewiesen, dass die Würde des betroffenen Kindes im Mittel­punkt aller Erörterungen stehen und dass (auch beim Beschneidungs­gesetz) der Wille des betroffenen Knabens berück­sichtigt werden müsse. Sie fordert eine „Ethik des Kindes“, „die aufzeigt, wie das Kind als moralisches Wesen berück­sichtigt werden kann. Denn bisher hat die Ethik ihre Konzepte für Erwachsene entwickelt und Kinder galten allenfalls als Sonderfall“.

Gemessen daran, wie Claudia Wiesemann schreibt, Kinder als das zu berücksichtigen, „was sie sind: verletzbare, um Integrität ringende, nach vertrauens­vollen Beziehungen strebende Wesen mit eigener Würde“, vermag man das Vorgehen der Politiker in puncto Beschneidungen nur so zu werten, dass sie Kinder nicht als „vollständige Menschen“ mit eigener Würde begreifen. Die in den letzten Jahr­zehnten gesell­schaftlich gestiegene Bereit­schaft, „Kinder als moralisch Gleiche unter Gleichen anzuerkennen“ stößt gegen­wärtig an Grenzen – da, wo das Ritual wichtiger ist als der lebendige Mensch.

Verfassungswidrigkeit der vorgesehenen Gesetzesregelung

Der Gesetzesentwurf der Bundes­regierung stellt sich bereits bei erster Betrachtung als gegen die Menschen­rechte der betroffenen Knaben verstoßend dar. Deren im Grund­gesetz garantierten Menschen­rechte, insbesondere auf körperliche Unversehrt­heit und auf Selbst­bestimmung werden nicht berück­sichtigt, sie werden nicht einmal gegen die Eltern­rechte abgewogen. Die Verfassungs­widrigkeit einer solchen Gesetzes­regelung ist offen­kundig ebenso wie der Verstoß gegen die inner­deutsches staat­liches Recht gewordenen Regelungen der Kinder­rechts­konvention der UN.

Das allerdings ficht die Bundes­regierung nicht (mehr) an; sie hat ihren Gesetzes­entwurf vorgelegt und damit ist die Angelegen­heit für sie erledigt. Jetzt ist der Bundestag am Zug. Ob es dabei bleibt, wie der vormalige Vize­präsident des Bundes­verfassungs­gerichts Winfried Hassemer, zur Juli-Debatte im Deutschen Bundestag mit Blick auf die Abgeordneten ausgeführt hat: „Sie wollen nicht wissen, was sie regeln wollen.“ oder ob sie sich mit der Sache (und damit mit den Menschen­rechten der Kinder) selbst befassen wollen, bleibt abzu­warten. Gute Aussichten gibt es aber nicht.

Gesetzesentwurf der Bundesregierung mit Begründung

Prof. Dr. Claudia Wiesemann, Hört auf die Kinder

Zu Prof. Dr. Winfried Hassemer

Zur Verwendung von Vorhäuten von Babys

Geschäftsumsatz mit Beschneidungen in den USA

Prof. Dr. Gerhard  E. Feurle: Berichte Betroffener