Religionsgeschichte und Beschneidungsdebatte

Von Mann zu Mann?

Wie erschien er ihm: als Mann, der er ja nicht ist, als Frau – das sowieso nicht angesichts der typisch männlich-patriarchalisch strukturierten Religion der Israeliten -, als Geist – wie kann man einen solchen sehen? -, also doch wohl als eine Art Gespenst, dem gegenüber alle Zweifel erlaubt sind. Die Sektenbeauftragten der Kirchen, die alle nichtkirchlichen Bewegungen vor allem wegen deren Exotik und Esoterik so vehement angreifen, stehen da also bei Urvater Abraham vor dem gleichen erkenntnistheoretischen Problem, wie das Jenseits im Diesseits, das Außer- und Überirdische im Irdischen erscheinen und sich zeigen kann. So viel kann man also auf dieser Grundlage schon sagen: Es steht nicht gut um die überirdisch-göttliche Legitimation der Beschneidung.

Ganz nah liegt vielmehr die folgende Begründung: Immer wenn Priester und Propheten etwas Neues oder relativ Neues einführen, wenn sie eine eigene Überzeugung, einen eigenen Wunsch, ein selbstkonstruiertes Gebot mit besonderer Autorität durchsetzen wollten, beriefen sie sich auf Gott: „Gott sprach …“, „Gott befahl …“, „Gott erschien …“ Diese feierlichen Anfangsworte finden wir ja auch haufenweise in der Bibel!

Nahe liegend ist in diesem Zusammenhang auch der Hinweis auf das antike Ägypten. Hier wurde ja nach dem Urteil der meisten unabhängigen Religionswissenschaftler der Monotheismus erfunden, und zwar von Echnaton, dem Pharao der 18. Dynastie (etwa 1350 v. u. Z.), und Moses, als der Gründervater Israels geltend, ist der jüdische Echnaton, der im Alten Testament mit vielen Zügen des Ketzerkönigs Echnaton ausgestattet erscheint und die Fortsetzung des altägyptischen Monotheismus in Israel durchsetzte, während er in seinem Ursprungsland zum Erliegen kam und dort nur eine kurze Zeit dominieren konnte.

Wie also der Eingottglaube Israels überhaupt eine Übernahme aus Ägypten darstellt, so auch das Beschneidungsgesetz. Auch hielt man sich in Israel zunächst an die ägyptische Vorgabe, nur Jünglinge, später auch junge Frauen, aber keine Kinder zu beschneiden (Gen. 34; Ex. 4,25; Jos. 5,2f.). Später allerdings wich man vom Vorbild ab und machte die Beschneidung von Knaben am 8. Tag nach der Geburt zum Gesetz.

Gerade diese Abweichung verdunkelt aber den ursprünglichen Sinn der Beschneidung. Denn die Beschneidung ist „durchweg nur im Rahmen der Initiations- oder Pubertätsriten zu sehen. Sie kann nur recht verstanden werden als ein Teil des großen Ritus der Einführung in die Gemeinschaft des Stammes und der Ahnen“ (so das Lexikon „Religion in Geschichte und Gegenwart“). Die Initiationsriten markieren in der Religionsgeschichte ja gerade das Ende der Kindheit und den Anfang der bewussten Zugehörigkeit zum Clan, Stamm oder Volk. Die Beschneidung bald nach der Geburt eines Kindes oder überhaupt im Kindesalter verfehlt deshalb ganz und gar den Sinn der Initiation. Insofern der Islam seine jungen Anhänger erst etwa ab dem 13. Lebensjahr beschneiden lässt, kommt er dem Sinn dieses Initiationsritus schon näher. Allerdings sollte man darüber diskutieren dürfen, ob die Jugendlichen mit 14 oder 15 Jahren nicht eine noch bewusstere Entscheidung pro oder contra Beschneidung treffen könnten.

Bezüglich des Zeitpunkts der Beschneidung besteht eine gewisse Analogie zwischen der Beschneidung am achten Tag nach der Geburt und der christlichen Taufe. Diese wurde ja zunächst auch nur Erwachsenen nach einer relativ langen Prüfungszeit, dem Katechumenat, gespendet, später aber an den Anfang der Lebenszeit eines Menschen gesetzt, sicherlich nicht ohne die Intention, ihn schon mal ohne seine bewusste Zustimmung in der eigenen Glaubensgemeinschaft festgemacht zu haben und seiner als den Mitgliedsbeitrag entrichtendes Schäfchen sicher zu sein.

Wie wichtig dieser letztere Gesichtspunkt für die römisch-katholische Kirche ist, zeigt sich an der jüngsten Verlautbarung des Vatikans und der deutschen Bischöfe, wonach ein die Kirchensteuer nicht zahlender Katholik vom Empfang der Sakramente ausgeschlossen werden muss. Hieß es noch im Markusevangelium, einem der vier (oder mit den Paulusbriefen der fünf) ältesten schriftlichen Zeugnisse des Christentums: „Wer nicht glaubt, wird verdammt werden“ (Mk, 16,16), so muss es jetzt wohl heißen: „Wer nicht zahlt, wird verdammt werden.“ Man sieht: Die Kirche, die beim kleinsten Angriff auf ihre Glaubenssätze Zether und Mordio schreit, hat keine Probleme, das wichtigste Kriterium einer religiösen Gemeinschaft, den Glauben, für zweitranging zu erklären, wenn eine ihrer Geldquellen in Gefahr gerät zu versiegen. Wer will da noch sagen, sie sei nicht fortschrittlich. Sie geht tatsächlich mit der Zeit, und die ist nun mal von einem kapitalistischen Imperialismus geprägt, an dessen Profiten die Kirche unbedingt partizipieren will.

Während hierzulande Vertreter der Kirche ihren wegen des Beschneidungsgesetzes angegriffenen jüdischen Brüdern zu Hilfe eilen und auf die Unantastbarkeit dieses Gesetzes pochen, erlaubt dieselbe Kirche ihren Missionaren in Afrika, Asien und Südamerika grundsätzlich nicht, „Heiden“ zu taufen, wenn diese ihre Beschneidungsrituale in die neue Glaubensgemeinschaft einbringen wollen. Eine ziemlich zwiespältige und zwielichtige Haltung!

Allerdings darf hier angemerkt werden, dass es bei manchen Stämmen und Völkern Initiationsriten auch ohne Beschneidung gibt, was nochmals den Sachverhalt bestätigt, dass diese kein unaufgebbarer Bestandteil der Religion sein kann.

Zweifellos hatte die Beschneidung im Alten Israel auch eine die Herrschaft des Mannes stabilisierende Bedeutung. Es gab ja Völker, in denen Beschneidung nur an den Frauen vollzogen wurde. In Israel aber sollte die durch das Glied des Mannes symbolisierte Zeugungskraft diesen allein als Urquell aller Fruchtbarkeit ausweisen, was durch die vermeintlich von Gott befohlene Beschneidung noch unterstrichen werden sollte. Wir erinnern uns, dass bis ins 6. Jahrhundert v.u.Z. Gott Jahwe selbst als heiliger Stier verehrt wurde. Auch dies also könnte für uns Heutige ein Motiv sein, der Beschneidung keine so hohe und erhabene Bedeutung beizumessen.

Aber wie dem auch sei: Alle auf der Grundlage der Religionswissenschaft und Religionsgeschichte ermittelten Vorbehalte gegen die Beschneidung sind, so interessant sie auch sein mögen, im Letzten nicht so gravierend wie der human-ethische Einwand, dass die Beschneidung einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit eines Kindes und eine Missachtung seiner künftigen Selbstbestimmung darstellt und deshalb Menschenrechte verletzt. Beschneidung demnach nur unter der Bedingung, dass ein junger Mensch selber einsichtig und bewusst entscheiden kann, ob er beschnitten werden will oder nicht.

Wenn eine Religion damit nicht einverstanden sein will, vielmehr auf eine Jahrtausende alte Tradition pocht und diese gegen die Rechte des Kindes in Stellung bringt, dann hat sie ihr Existenzrecht ohnehin verloren, denn was soll eine Religion noch für einen Sinn und Zweck haben, wenn sie nicht der Würde des Menschen und seiner geistig-seelisch-körperlichen Integrität dient?

Wenn jetzt Theologen fast aller Religionen und Konfessionen dagegen halten sollten, Religion sei primär Anbetung Gottes und nicht Förderung der Humanität, dann wäre das doch tatsächlich die Akzeptanz der Vorstellung „dass die Vorhäute der Kinder einer Religionsgemeinschaft ‚schnipp-schnapp‘ weggeschnitten werden müssen, um eine Verbindung mit Gott herzustellen. Und dass dieser Schnitt großartig wichtig und Gott wohlgefällig sei … Diese Vorstellung ist an sich bereits schwer gotteslästerlich. Aber für Theologen offenbar kein Grund, sie endlich ein für alle Mal aufzugeben und sie nicht weiterhin wegen der ‚Tradition‘ unter Artenschutz zu stellen. Es ist vorbei! Traditionen müssen verlassen werden, wenn sie nicht länger verantwortbar sind. Es geht nicht um einige Millimeter Haut, es geht um die geistige Entwicklung der Menschheit, vor der wir uns zu rechtfertigen haben. Und wenn wir unsere bisherige Identität durch Aufgabe von Traditionen verlieren …? Keine Sorge, es ist nicht schade drum“ (der Psychotherapeut H. Picker).

Verantwortbar ist in der Tat nur das Prinzip: »Menschenrecht geht vor Religionsrecht«. Alle Religionen sind Menschenwerk, sind von Menschen gemacht, mögen sich auch die, die sie gegründet haben, auf eine Offenbarung Gottes, der Götter, Geister, der Engel berufen. Sie alle gehen auf Intuitionen, Inspirationen, Visionen zurück, die Gegenstand erkenntnistheoretischer und psychoanalytischer Untersuchungen sein sollten. Eines steht von vornherein fest: Sie geschahen in der Psyche des Menschen, sind insofern der psychologischen Erforschung zugänglich, weil alles, was wir wissen und erfahren, Akt und Werk des Menschen ist.

Als Menschenwerk enthalten die Religionen Wahres und Falsches, Gutes und Schlechtes, Schönes und Hässliches, wie das im Allgemeinen bei allem Menschlichen der Fall ist. Deshalb unterstehen die Religionen wie alle anderen Bereiche der Menschen der Ethik, der Vernunft, dem Maßstab der Humanität. Sie sind nicht tabuisierbar, nicht sakrosankt, nicht unantastbar. Wenn also ihre Rituale, Zeremonien, Bräuche, Praktiken gegen die Menschenrechte verstoßen, dann sind sie aufzugeben.

Prof. Dr. Hubertus Mynarek