Religionsgeschichte und Beschneidungsdebatte

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Michelangelo: Sixtinische Kapelle / Foto: wikimedia commons (Patrick Landy)

(hpd) Der Fehler, den viele Juristen, Politiker und Journalisten machen, wenn sie sich an die Beurteilung eines Phänomens innerhalb einer Religion machen, besteht darin, dass sie diese Religion als Festes und Ganzes, als stabile Einheit sehen, aus der kein einziges Element herausgerissen werden dürfe, ohne das Ganze zu zerstören.

Sie kommen damit den Priestern, Mullahs, Rabbinern dieser Religionen entgegen, die natürlich ein Interesse daran haben, die eigene Religion in ihrer Ganzheit als heilig, unantastbar, unberührbar, eben als sakrosankt, unangreifbar und unkritisierbar hinzustellen.

Dem gegenüber zeigt die wissenschaftlich erforschte Geschichte der Religionen, dass diese etwas aus verschiedensten heterogenen Elementen Zusammengesetztes und Gewordenes sind, das im Laufe seiner Entwicklung, selbst ohne Attacken von außen, manche dieser Elemente auch wieder abgestoßen und verworfen hat.

Allzu schnell erklären demgemäß die Verteidiger der Religion irgendeine Glaubens- oder Moralaussage, irgendein Ritual oder Kultverhalten derselben als „konstitutiven, unaufgebbaren Bestandteil“ ihrer Religion, wenn diese zum Objekt oft durchaus sachlich begründeter Kritik werden. Sie machen sich einfach nicht klar, dass alle Religionen ebenso wie alle Kulturen und Gesellschaftsformen Prozesscharakter tragen, dem Gesetz permanenter Evolution unterliegen und zu etwas Steifem, Starrem, Verknöchertem, Leblosem werden, wenn sie diesem Gesetz zuwider handeln oder sich ihm durch Verbote und reaktionäre Maßnahmen entgegen stellen.

Selbst Gott, das höchste Objekt der drei abrahamitischen Religionen, der jüdischen, der islamischen und der christlichen, hat einen fundamentalen Werdeprozess hinter sich und war daher in seinem Anfangsstadium gar nicht so erhaben, unangreifbar, unveränderbar wie in späteren Entwicklungsphasen, in denen die Priester und Theologen dieser Religionen emsig bemüht waren, ein perfekteres, Defizite und Unvollkommenheiten ihres Spitzenobjekts möglichst ausmerzendes Gottesbild zu schaffen.

Jahwe, der hebräische Gott, Urbild, Urmodell, Basis-Gott für den Vatergott der Christen und für Allah, den Gott der Muslime, war anfangs nur ein kleiner lokaler Wettergott, ein Provinzgott auf dem Nordsinai. Denn in beiden palästinensischen Staaten, die sich um 900 v. u. Z. bildeten, dem Nordstaat Israel und dem Südstaat Juda mit Jerusalem als Hauptstadt, werden noch viele Götter verehrt, nicht bloß die in der Bibel häufig genannten Baal, Moloch und Göttervater El. Jahwe gilt damals auch noch als biologisch zeugender Gott (König Jerobeam, wahrscheinlich zwischen 926 und 907 v. u. Z. herrschend, lässt das Götzenbild eines heiligen Stiers als Sinnbild Jahwes verehren). Jahwe muss also auch eine Frau haben. Es ist die Fruchtbarkeitsgöttin Aschera, deren Kultbaum sogar bis 586 v. u. Z. im Jerusalemer Tempel stand. Doch später wurde diese Ehefrau Jahwes von den jüdischen Theologen gestrichen, um das Gottesbild reiner, makelloser, ethischer und unangreifbarer zu machen. Man sieht: Nicht ein Gott ist der eigentlich Bestimmende, sondern die Theologen bzw. Priester verändern ihren Gott und dessen vermeintlich von ihm ausgehenden Weisungen und Gebote.

Umdatierung der Geschichte

Überhaupt muss die ganze Geschichtsschreibung über Israel umdatiert werden. Die lange Zeit in der Religionswissenschaft vertretene These, um 1250 v. u. Z. habe es einen jüdischen Stamm unter der Führerschaft von Aaron und Moses gegeben und dieser habe nach dem Abstieg vom Berg Sinai den Israeliten die zehn Gebote Jahwes verkündet, ist auf keinen Fall aufrechtzuerhalten. Das Volk Israel gab es damals noch gar nicht. Es gab räuberische Nomaden, Hapiru genannt, es gab Viehtreiber, die so genannten Schasu-Nomaden, es gab verschiedene andere Hirtenstämme. Den Eingottglauben aber gab es noch nicht. Man verehrte Ahnen und Familiengeister in den Hütten und auf den Bergen, baute ihnen kleine Altäre in den ersteren, größere Heiligtümer auf den letzteren. Die Vielgötterei brandete auch immer wieder neu auf, obwohl besonders im 9. und 10. Jahrhundert v. u. Z. Propheten wie Amos, Hosea, Micha usw. fanatisch die Götter und ihre Diener beschimpften. „Hornissen des Geistes“, „frühe Monomanen“ hat man sie in der Religionswissenschaft genannt. Wie ihr Gott Jahwe kannten sie keine Gnade. Prophet Elija erklärt beispielsweise, er habe 450 Baal-Priester persönlich erschlagen. Dem ganzen Volk der Israeliten bescheinigten diese Propheten, mit Abgöttern zu „huren“.

Trotzdem war die Koexistenz von Polytheismus und Monotheismus ein Fakt bis ins 6. Jahrhundert hinein. Erst die Babylonische Gefangenschaft der Israeliten zwischen 587 und 538 v. u. Z. mit ihrer ungeheuren Demütigung und Schmach für ein ganzes Volk lässt die Jahwe-Priester endgültig zur Herrschaft gelangen. Jetzt konnten sie nach Herzenslust die vorliegenden alten, immer wieder umgearbeiteten, umformulierten Schriften neu redigieren, der Gestalt des Moses ein einigermaßen einheitliches Antlitz geben und sie ins 13. Jahrhundert v. u. Z. zurückverlagern. Mit anderen Worten: Die Offenbarung des einen Gottes Jahwe durch Moses fand nie statt. Der polytheistische Stammes-, Wetter- und Fruchtbarkeitsgott Jahwe brauchte viele Jahrhunderte, um nach einem langen Prozess schwerer, auch blutiger Auseinandersetzungen zum alleinigen Herrn des Himmels und der Erde aufzusteigen.

Vielleicht ist diese lange, schwierige und blutige Geschichte dieses Aufstiegs mit ein Grund dafür, dass dem jüdischen, dem christlichen und dem islamischen Monotheismus so viele gewalttätige Aspekte anhaften. Der berühmte jüdische Kinderpsychologe Bruno Bettelheim sieht jedenfalls im semitischen Gott noch etwas „Schlimmeres“ als selbst in den „schrecklichsten Gottheiten der Naturvölker“. Kein Wunder, dass auch der Atheist Richard Dawkins sich besonders den biblischen Monotheismus vorknöpft, an dem er seine These, Religion sei per se gewalttätig und grausam und müsse aus der Kindererziehung eliminiert werden, besonders anschaulich exemplifizieren kann. Dass er damit wenigstens im Hinblick auf den Monotheismus weitgehend Recht hat, bescheinigt ihm auch der Ägyptologe Jan Assmann, einer der heute einflussreichsten Vertreter seiner Zunft. Nur die abrahamitischen Religionen, also Judentum, Christentum und Islam, „haben zugleich mit der Wahrheit, die sie verkünden, auch ein Gegenüber, das sie bekämpfen. Nur sie kennen Ketzer und Heiden, Irrlehren, Sekten, Aberglauben, Götzendienst, Idolatrie, Magie, Unwissenheit, Unglauben, Häresie, und wie die Begriffe alle heißen mögen für das, was sie als Erscheinungsformen des Unwahren denunzieren, verfolgen und ausgrenzen“.

Monotheismus und Sprache der Gewalt

Eines der wichtigsten Mittel in der Erziehung ist bekanntlich die Sprache, in diesem Fall vor allem die Sprache der Eltern. Deswegen fragt Assmann, warum ein so enger Zusammenhang zwischen dem Monotheismus und der Sprache der Gewalt besteht, eine hochaktuelle Frage, wenn man an die mit Zitaten aus dem Koran gespickten Terroraufrufe islamistischer Fundamentalisten denkt. Beschreiben doch auch die biblischen Texte die Durchsetzung der Jahwe-Religion in einer gewaltsamen Bildersprache. Die Verehrung eines einzigen Gottes an Stelle der Götterwelt und die Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Religion werden in einer Atmosphäre totaler Intoleranz, ja fanatischen Hasses in der Bibel geschildert.

Die Durchsetzung des Christentums in vielen Völkern Europas und Amerikas stellte sich ebenfalls als eine Kette fast ununterbrochener Gewaltakte dar. Die gewaltsame Ausbreitung des Islam ist gleichermaßen bekannt. Es ist nach Assmann der exklusive Wahrheits- und Gottesbegriff des Monotheismus, der die Hauptbasis für die extreme Sprache der Gewalt in den heiligen Schriften liefert.

Selbst einem Professor Ratzinger ging diese Gewalt bisweilen gegen den Strich. Heute, als Papst, kann er sich selbstverständlich keine Kritik an anderen Religionen erlauben, da er selbst im Glashaus sitzt und nicht möchte, dass Vertreter anderer Religionen auch seine eigene angreifen. Aber damals als „Nur-Theologe“ und „Noch-nicht-Papst“ äußerte er sich geradezu verächtlich über die alttestamentliche Religion. In seinem Buch „Glaube – Wahrheit – Toleranz“ (2003) erklärt er: „Abraham, Isaak, Jakob, Mose erscheinen mit all ihren Schlichen und ihrer Schläue, mit ihrem Temperament und ihrer Neigung zur Gewaltsamkeit zumindest recht mittelmäßig und armselig neben einem Buddha, Konfutse oder Laotse, aber selbst so große prophetische Gestalten wie Hosea, Jeremia, Ezechiel machen bei einem solchen Vergleich keine ganz überzeugende Figur … Vor der Erhabenheit mythischen Denkens erscheinen die Träger der Geschichte des Glaubens beinahe pöbelhaft … Religionsgeschichtlich gesehen, sind Abraham, Isaak, und Jakob wirklich keine ‚großen‘ religiösen Persönlichkeiten.“

Wenn im Moment katholische und evangelische Kleriker, Theologen, Schriftsteller wegen der Beschneidungsdebatte empört über einen vermeintlichen Angriff auf die jüdische Religion lamentieren, weil sie sich davon versprechen, auch die eigene Kirche möglichst für immer aus dem Schussfeld jeglicher Kritik (vielleicht durch ein neues, schärferes Anti-Blasphemie-Gesetz?!) herauszubekommen, dann sollten sie an die eben zitierten Worte ihres Vorbilds Ratzinger denken, der Abraham den Status einer großen religiösen Persönlichkeit absprach und deshalb wohl auch dem von ihm gestifteten Beschneidungsgesetz kaum eine größere Bedeutung zugestanden hätte. Tatsächlich hat ja auch das Urchristentum sehr schnell dieses Gesetz als für Christen nicht verpflichtend verworfen.

Aber dieses Gesetz ist auch in sich selbst, insbesondere vom Standpunkt vergleichender Religionswissenschaft, keineswegs unproblematisch. Abraham, der mythische Urvater der drei Religionen, ist ja nicht der Urheber oder Erfinder dieses Gesetzes, das es in vielen Stammes-, Natur-, Kultur- und Volksreligionen seit grauer Vorzeit gibt und lange vor ihm gegeben hat. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die Bibel den Sachverhalt so darstellt, als ob Gott selbst dem Abraham höchstpersönlich dieses Gesetz der Beschneidung gegeben habe, sozusagen von Mann zu Mann, indem er ihm erschien (Genesis 17,1).

Von Mann zu Mann?

Wie erschien er ihm: als Mann, der er ja nicht ist, als Frau – das sowieso nicht angesichts der typisch männlich-patriarchalisch strukturierten Religion der Israeliten -, als Geist – wie kann man einen solchen sehen? -, also doch wohl als eine Art Gespenst, dem gegenüber alle Zweifel erlaubt sind. Die Sektenbeauftragten der Kirchen, die alle nichtkirchlichen Bewegungen vor allem wegen deren Exotik und Esoterik so vehement angreifen, stehen da also bei Urvater Abraham vor dem gleichen erkenntnistheoretischen Problem, wie das Jenseits im Diesseits, das Außer- und Überirdische im Irdischen erscheinen und sich zeigen kann. So viel kann man also auf dieser Grundlage schon sagen: Es steht nicht gut um die überirdisch-göttliche Legitimation der Beschneidung.

Ganz nah liegt vielmehr die folgende Begründung: Immer wenn Priester und Propheten etwas Neues oder relativ Neues einführen, wenn sie eine eigene Überzeugung, einen eigenen Wunsch, ein selbstkonstruiertes Gebot mit besonderer Autorität durchsetzen wollten, beriefen sie sich auf Gott: „Gott sprach …“, „Gott befahl …“, „Gott erschien …“ Diese feierlichen Anfangsworte finden wir ja auch haufenweise in der Bibel!

Nahe liegend ist in diesem Zusammenhang auch der Hinweis auf das antike Ägypten. Hier wurde ja nach dem Urteil der meisten unabhängigen Religionswissenschaftler der Monotheismus erfunden, und zwar von Echnaton, dem Pharao der 18. Dynastie (etwa 1350 v. u. Z.), und Moses, als der Gründervater Israels geltend, ist der jüdische Echnaton, der im Alten Testament mit vielen Zügen des Ketzerkönigs Echnaton ausgestattet erscheint und die Fortsetzung des altägyptischen Monotheismus in Israel durchsetzte, während er in seinem Ursprungsland zum Erliegen kam und dort nur eine kurze Zeit dominieren konnte.

Wie also der Eingottglaube Israels überhaupt eine Übernahme aus Ägypten darstellt, so auch das Beschneidungsgesetz. Auch hielt man sich in Israel zunächst an die ägyptische Vorgabe, nur Jünglinge, später auch junge Frauen, aber keine Kinder zu beschneiden (Gen. 34; Ex. 4,25; Jos. 5,2f.). Später allerdings wich man vom Vorbild ab und machte die Beschneidung von Knaben am 8. Tag nach der Geburt zum Gesetz.

Gerade diese Abweichung verdunkelt aber den ursprünglichen Sinn der Beschneidung. Denn die Beschneidung ist „durchweg nur im Rahmen der Initiations- oder Pubertätsriten zu sehen. Sie kann nur recht verstanden werden als ein Teil des großen Ritus der Einführung in die Gemeinschaft des Stammes und der Ahnen“ (so das Lexikon „Religion in Geschichte und Gegenwart“). Die Initiationsriten markieren in der Religionsgeschichte ja gerade das Ende der Kindheit und den Anfang der bewussten Zugehörigkeit zum Clan, Stamm oder Volk. Die Beschneidung bald nach der Geburt eines Kindes oder überhaupt im Kindesalter verfehlt deshalb ganz und gar den Sinn der Initiation. Insofern der Islam seine jungen Anhänger erst etwa ab dem 13. Lebensjahr beschneiden lässt, kommt er dem Sinn dieses Initiationsritus schon näher. Allerdings sollte man darüber diskutieren dürfen, ob die Jugendlichen mit 14 oder 15 Jahren nicht eine noch bewusstere Entscheidung pro oder contra Beschneidung treffen könnten.

Bezüglich des Zeitpunkts der Beschneidung besteht eine gewisse Analogie zwischen der Beschneidung am achten Tag nach der Geburt und der christlichen Taufe. Diese wurde ja zunächst auch nur Erwachsenen nach einer relativ langen Prüfungszeit, dem Katechumenat, gespendet, später aber an den Anfang der Lebenszeit eines Menschen gesetzt, sicherlich nicht ohne die Intention, ihn schon mal ohne seine bewusste Zustimmung in der eigenen Glaubensgemeinschaft festgemacht zu haben und seiner als den Mitgliedsbeitrag entrichtendes Schäfchen sicher zu sein.

Wie wichtig dieser letztere Gesichtspunkt für die römisch-katholische Kirche ist, zeigt sich an der jüngsten Verlautbarung des Vatikans und der deutschen Bischöfe, wonach ein die Kirchensteuer nicht zahlender Katholik vom Empfang der Sakramente ausgeschlossen werden muss. Hieß es noch im Markusevangelium, einem der vier (oder mit den Paulusbriefen der fünf) ältesten schriftlichen Zeugnisse des Christentums: „Wer nicht glaubt, wird verdammt werden“ (Mk, 16,16), so muss es jetzt wohl heißen: „Wer nicht zahlt, wird verdammt werden.“ Man sieht: Die Kirche, die beim kleinsten Angriff auf ihre Glaubenssätze Zether und Mordio schreit, hat keine Probleme, das wichtigste Kriterium einer religiösen Gemeinschaft, den Glauben, für zweitranging zu erklären, wenn eine ihrer Geldquellen in Gefahr gerät zu versiegen. Wer will da noch sagen, sie sei nicht fortschrittlich. Sie geht tatsächlich mit der Zeit, und die ist nun mal von einem kapitalistischen Imperialismus geprägt, an dessen Profiten die Kirche unbedingt partizipieren will.

Während hierzulande Vertreter der Kirche ihren wegen des Beschneidungsgesetzes angegriffenen jüdischen Brüdern zu Hilfe eilen und auf die Unantastbarkeit dieses Gesetzes pochen, erlaubt dieselbe Kirche ihren Missionaren in Afrika, Asien und Südamerika grundsätzlich nicht, „Heiden“ zu taufen, wenn diese ihre Beschneidungsrituale in die neue Glaubensgemeinschaft einbringen wollen. Eine ziemlich zwiespältige und zwielichtige Haltung!

Allerdings darf hier angemerkt werden, dass es bei manchen Stämmen und Völkern Initiationsriten auch ohne Beschneidung gibt, was nochmals den Sachverhalt bestätigt, dass diese kein unaufgebbarer Bestandteil der Religion sein kann.

Zweifellos hatte die Beschneidung im Alten Israel auch eine die Herrschaft des Mannes stabilisierende Bedeutung. Es gab ja Völker, in denen Beschneidung nur an den Frauen vollzogen wurde. In Israel aber sollte die durch das Glied des Mannes symbolisierte Zeugungskraft diesen allein als Urquell aller Fruchtbarkeit ausweisen, was durch die vermeintlich von Gott befohlene Beschneidung noch unterstrichen werden sollte. Wir erinnern uns, dass bis ins 6. Jahrhundert v.u.Z. Gott Jahwe selbst als heiliger Stier verehrt wurde. Auch dies also könnte für uns Heutige ein Motiv sein, der Beschneidung keine so hohe und erhabene Bedeutung beizumessen.

Aber wie dem auch sei: Alle auf der Grundlage der Religionswissenschaft und Religionsgeschichte ermittelten Vorbehalte gegen die Beschneidung sind, so interessant sie auch sein mögen, im Letzten nicht so gravierend wie der human-ethische Einwand, dass die Beschneidung einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit eines Kindes und eine Missachtung seiner künftigen Selbstbestimmung darstellt und deshalb Menschenrechte verletzt. Beschneidung demnach nur unter der Bedingung, dass ein junger Mensch selber einsichtig und bewusst entscheiden kann, ob er beschnitten werden will oder nicht.

Wenn eine Religion damit nicht einverstanden sein will, vielmehr auf eine Jahrtausende alte Tradition pocht und diese gegen die Rechte des Kindes in Stellung bringt, dann hat sie ihr Existenzrecht ohnehin verloren, denn was soll eine Religion noch für einen Sinn und Zweck haben, wenn sie nicht der Würde des Menschen und seiner geistig-seelisch-körperlichen Integrität dient?

Wenn jetzt Theologen fast aller Religionen und Konfessionen dagegen halten sollten, Religion sei primär Anbetung Gottes und nicht Förderung der Humanität, dann wäre das doch tatsächlich die Akzeptanz der Vorstellung „dass die Vorhäute der Kinder einer Religionsgemeinschaft ‚schnipp-schnapp‘ weggeschnitten werden müssen, um eine Verbindung mit Gott herzustellen. Und dass dieser Schnitt großartig wichtig und Gott wohlgefällig sei … Diese Vorstellung ist an sich bereits schwer gotteslästerlich. Aber für Theologen offenbar kein Grund, sie endlich ein für alle Mal aufzugeben und sie nicht weiterhin wegen der ‚Tradition‘ unter Artenschutz zu stellen. Es ist vorbei! Traditionen müssen verlassen werden, wenn sie nicht länger verantwortbar sind. Es geht nicht um einige Millimeter Haut, es geht um die geistige Entwicklung der Menschheit, vor der wir uns zu rechtfertigen haben. Und wenn wir unsere bisherige Identität durch Aufgabe von Traditionen verlieren …? Keine Sorge, es ist nicht schade drum“ (der Psychotherapeut H. Picker).

Verantwortbar ist in der Tat nur das Prinzip: »Menschenrecht geht vor Religionsrecht«. Alle Religionen sind Menschenwerk, sind von Menschen gemacht, mögen sich auch die, die sie gegründet haben, auf eine Offenbarung Gottes, der Götter, Geister, der Engel berufen. Sie alle gehen auf Intuitionen, Inspirationen, Visionen zurück, die Gegenstand erkenntnistheoretischer und psychoanalytischer Untersuchungen sein sollten. Eines steht von vornherein fest: Sie geschahen in der Psyche des Menschen, sind insofern der psychologischen Erforschung zugänglich, weil alles, was wir wissen und erfahren, Akt und Werk des Menschen ist.

Als Menschenwerk enthalten die Religionen Wahres und Falsches, Gutes und Schlechtes, Schönes und Hässliches, wie das im Allgemeinen bei allem Menschlichen der Fall ist. Deshalb unterstehen die Religionen wie alle anderen Bereiche der Menschen der Ethik, der Vernunft, dem Maßstab der Humanität. Sie sind nicht tabuisierbar, nicht sakrosankt, nicht unantastbar. Wenn also ihre Rituale, Zeremonien, Bräuche, Praktiken gegen die Menschenrechte verstoßen, dann sind sie aufzugeben.

Prof. Dr. Hubertus Mynarek