Die geprügelte Generation

(hpd) Wenn sie sich an ihre Kindheit erinnert, dann gehört dazu das von der Oma hergestellte Lakritzwasser und der bei Familienfesten übliche Nudelsalat mit Tomaten, hartgekochten Eiern und Gewürzgurken mitsamt der kurz vor dem Verzehr hinzugefügten Mayonnaise. Zur Kindheit aber gehört genauso der Kochlöffel dazu, der freilich kein Küchenutensil, sondern ein Schlaginstrument war, und immer dann zum Einsatz kam, wenn das Kind nicht parierte.

Die Journalistin Ingrid Müller-Münch schreibt in ihrem 2012 erschienenen Buch „Die geprügelte Generation - Kochlöffel, Rohrstock und die Folgen“ über Kindheit und Erziehung in den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Deutschland.

In 17 Kapiteln zeichnet sie einzelne Schicksale damaliger Kinder aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten nach, indem sie die Betroffenen - mit dem Abstand von Jahrzehnten - zu Wort kommen lässt. Es zeigt sich eine brutale Kinderwelt, in der Schläge, Ziehen und Reißen an Ohrläppchen und Haaren, körperliche Züchtigungen nicht nur mit der Hand, sondern mit Linealen, Kochlöffeln, Schuhanziehern, nassen Aufnehmern, mit Teppichklopfern und Stöcken und auch mit Peitschen weithin verbreitet waren. Auch psychische Misshandlungen des Kindes waren an der Tagesordnung. Körperliche Züchtigungen waren ebenso weitverbreitete Realität und Normalität wie die seelische Herabsetzung des Kindes als „Schmarotzer“, „Versager“ durch Lächerlichmachen anderen gegenüber und Ähnliches mehr. Die Einzelschicksale stehen für das Dilemma einer ganzen Generation. Der Autorin gelingt es anschaulich, dieses Dilemma und seine Folgen deutlich zu machen und dabei anklingen zu lassen, was es zu ändern galt und immer noch gilt.

Heile Fassade und die schockierende Welt dahinter

Eindrucksvoll schildern Kinder der 50er und 60er Jahre die damalige Welt der Gewalttätigkeit, bei der die Fassade nach außen freilich stets lückenlos gewahrt bleiben musste. Erstes Gebot, so wird eine Betroffene zitiert, war, auf keinen Fall etwas nach außen dringen zu lassen von dem, was in der Familie geschah. Dazu gab es eine Art stillschweigendes Übereinkommen in der Familie, über die Gewalt den Mund zu halten. Dies, obwohl doch die meisten Anderen Bescheid wussten, da viele ähnlich Kindererziehung praktizierten und bisweilen das Schreien der Kinder nicht zu überhören war.

Psychoterror und Gewalt

Leiden ein ganzes Leben lang unter der zugefügten Erziehung: Gezeigt wird etwa das Schicksal einer Monika, einer mittlerweile 57jährigen Angestellten, die bis dato das Gefühl nicht los wird, nicht liebenswert zu sein, und die darunter leidet, dass sie den Eindruck hat, von keinem verstanden zu werden und immer anders zu sein. Ein Leben in Einsamkeit, die sich daraus ergibt, dass die Herabsetzung und Drangsal in der Kindheit dazu geführt hat, „dass ich mich eigentlich mit niemanden verstehe. Keiner nachvollziehen kann, wie es mir geht“.

Deutlich gemacht wird der Psychoterror, der ausgeübt wurde, die Drohung mit der brutalen Gewaltanwendung, wenn Stunden später der Vater nach Hause käme und die Prügelstrafe vollziehe, die traumatisierende Angst beim Warten, die bisweilen als schlimmer erlebt wurde als die eigentlichen Schläge selbst, denn da war alles ja endlich vorbei.

Die einzelnen Kapitel beleuchten tragische Ereignisse: Erwähnt wird ein Junge, der sich darüber freute, dass die Familie einen neuen und breiteren Tisch erhielt. Damit war es dem Vater nicht mehr möglich, ihm aus dem Sitzen heraus beim Mittag- und Abendessen über den Tisch hinüber in das Gesicht zu schlagen, was zu weniger Prügel führte, da der Vater zu bequem war, zum Schlagen des Sohnes aufzustehen.

Prügel bei jeder Gelegenheit

Berichtet wird von Kindern, die immer wieder das Gefühl hatten, von ihren Eltern nicht erwünscht zu sein, von Kindern die sich an allem schuld fühlten, weil die Mütter sich wegen Erkrankungen zurückzogen, für die sie die Kinder verantwortlich machten. Von einem Jungen wird berichtet, der immer erst um halb sieben abends nach Hause kommen durfte, und der eines Tages früher kam, weil er draußen verprügelt worden war und weinend zu Hause Zuwendung erfahren wollte; die Reaktion der Mutter bestand in der Frage, was er hier jetzt schon wolle und dem Hinweis, er solle wieder auf die Straße gehen und sich wehren, wobei sie ihm gleichzeitig rechts und links Ohrfeigen verpasste.

Da wird von Kindern berichtet, die bei offenem Fenster in der Wohnung verprügelt, auf öffentlicher Straße fast zusammengeschlagen wurden, ohne dass die Nachbarn und die Passanten sich überhaupt nur darum kümmerten oder gar darüber aufregten, sondern lediglich weghörten und wegschauten.

Das kaum Fassbare: Dies alles war Normalität, es gab keine Möglichkeit zur Gegenwehr, und die Gewalt musste ertragen werden, weil es keine Alternative gab. Nur ein geringer Teil der Bevölkerung lehnte körperliche Strafen ab, nahezu alle hatten als Kinder Gewalt erfahren und waren an diese Normalität gewöhnt.