Den Gesetzgeber hat der Teufel geritten

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Prof. Dr. Holm Putzke, LL. M. / Foto © Evelin Frerk

PASSAU. (hpd) Die Diskussion um die Zulässigkeit medizinisch nicht notwendiger Beschneidungen geht auf den Rechtswissenschaftler Holm Putzke zurück – er gilt als „geistiger Vater“ des Kölner Beschneidungsurteils. In einem Interview mit dem hpd kommentiert er das vom Bundestag verabschiedete Beschneidungsgesetz.

Seit seiner grundlegenden Untersuchung aus dem Jahr 2008 hat Holm Putzke sich in zahlreichen weiteren wissenschaftlichen Beiträgen mit der Thematik auseinandergesetzt und mit seinen kritischen Stellungnahmen zur aktuellen Debatte diese maßgeblich geprägt. Der Entscheidung des Landgerichts Köln vom 7. Mai 2012 stimmt er zu: „Von dem Urteil geht eine klare und richtige Botschaft aus: Ob Junge oder Mädchen, die Genitalien kleiner Kinder darf man ohne medizinische Notwendigkeit nicht verletzen – auch nicht aus religiösen Gründen“.
 

hpd: Herr Putzke, der Bundestag hat kürzlich ein Gesetz verabschiedet, das Eltern erlaubt, Jungen ohne medizinischen Grund die Vorhaut abzuschneiden. Was halten Sie als Urheber der ganzen Debatte von dem Gesetz?

Holm Putzke: Das Gesetz enthält im Vergleich zum bisherigen Rechtszustand gravierende Verschärfungen – vor allem mit Blick auf Beschneidungen durch Nichtärzte. Erstens wird klargestellt, dass es solchen Personen zukünftig verboten ist, Kinder zu beschneiden, die älter als sechs Monate sind.

Zweitens werden in der „Mohelklausel“ vor allem jüdische Beschneider, sogenannte Mohalim, verpflichtet, sich an medizinische Standards zu halten. Denn das Gesetz erlaubt Beschneidungen nur dann, wenn sie lege artis vorgenommen werden, also nach den Regeln der ärztlichen Kunst. Verboten sind danach rituelle Beschneidungen ohne wirkungsvolle Schmerzbehandlung. Mohalim sind in der Regel aber keine Ärzte, weshalb es ihnen auch nicht erlaubt ist, geeignete Schmerzmittel einzusetzen. Sie sind deshalb gar nicht in der Lage, eine wirkungsvolle Schmerzbehandlung vorzunehmen. Daraus folgt zwangsläufig, dass Beschneidungen zukünftig ausschließlich dann durchgeführt werden dürfen, wenn der Beschneider zugleich die Voraussetzungen der Approbationsordung für Ärzte erfüllt oder ein Arzt bei der Beschneidung anwesend ist und die Schmerzbehandlung übernimmt.

Verboten sind zukünftig übrigens auch Beschneidungen, die der Mohel mit seinem scharfen Fingernagel verrichtet oder bei denen er das Blut mit seinem Mund absaugt, was bei dem in ultraorthodoxen Kreisen noch immer praktizierten Ritual Metzitzah B’peh üblich ist.

Drittens sind auch nichtärztliche Beschneider zukünftig verpflichtet, die Eltern über den Eingriff und die damit verbundenen Risiken umfassend aufzuklären. Das geschah bisher nie oder die Abtrennung der Vorhaut wurde verharmlost, weshalb viele Eltern gar nicht wussten, welchen Gefahren sie ihr Kind ausgesetzt haben.

hpd: Wer Ihren Standpunkt nicht kennt, könnte fast den Eindruck gewinnen, dass Sie zufrieden sind mit dem Gesetz!

Holm Putzke: Das Beschneidungsgesetz ist ein Fehlgriff! Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass auf dem Boden des Grundgesetzes ein Gesetz zustande kommt, das gestattet, schutzbedürftigen Säuglingen und Kindern ohne medizinischen Grund einen erogenen Körperteil irreversibel abzutrennen, ihnen dadurch Schmerzen zuzufügen und sie gesundheitlichen Risiken auszusetzen.

hpd: Die Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger hat in einem Interview behauptet, dass die Komplikationsrate weltweit bei 0,01 Prozent liege. Das klingt nicht gerade nach viel.

Holm Putzke: Das klingt vor allem nach wenig Ahnung. Es ist erschreckend, dass jemand, der einen solchen Unsinn verbreitet, die Verantwortung dafür trägt, ein Gesetz zu erarbeiten. Die Aussage der FDP-Ministerin spiegelt sich nicht ansatzweise in wissenschaftlichen Studien wider. Niemand bestreitet, dass schwere Komplikationen selten sind. Doch auch Penis- oder Eichelamputationen kommen vor und sogar Todesfälle sind bekannt. Allein dies dokumentiert genügend Schadenspotential, um als halbwegs vernünftiger Mensch einzusehen, dass solche medizinisch unnötigen Eingriffe keinesfalls vom Elternrecht gedeckt werden. Darüber hinaus sind Schmerztraumata nachweisbar, in vielen Fällen kommt es zu Wundinfektionen und es sind Nachoperationen nötig – nicht zu reden von dem Sensibilitätsverlust, der bei zahlreichen Betroffenen spürbare physische und psychische Probleme verursacht. Was muss mit intelligenten Menschen los sein, wenn sie vor all dem Augen und Ohren verschließen?

Nur zur Klarstellung: Ich weiß natürlich, dass die meisten beschnittenen Männer sich an den Verletzungsakt entweder nicht oder nicht negativ erinnern und mit ihrem Zustand zufrieden sind. Aber es gibt auch zahlreiche Erwachsene, die eine im Kindesalter aus vermeintlich erzieherischen Zwecken erlittene Tracht Prügel unbekümmert mit den Worten kommentieren: „Geschadet hat es mir jedenfalls nicht.“ Richtigerweise lassen wir das nicht gelten. Uns genügen schon das abstrakte Schadenspotential und einige dokumentierte Schädigungen, um das Recht auf gewaltfreie Erziehung notfalls auch mit dem Strafrecht durchzusetzen. Warum genügen uns nicht diejenigen, die durch eine Beschneidung physisch oder psychisch geschädigt wurden, um wegen des Risikos solcher Schäden die Vorhautabtrennung zu verbieten?

Nur einmal angenommen, es gäbe dieses religiöse Ritual nicht: Zweifellos würde der Staat sofort eingreifen, wenn das Christentum unter Berufung auf eine Bibelstelle plötzlich der Idee verfiele, dass der Bund ihres Gottes die Amputation der Vorhaut eines acht Tage alten Säuglings verlange.

hpd: Von Komplikationen, Risiken und Schmerzen ist in der Gesetzesbegründung, die das Justizministerium erarbeitet hat, nicht viel zu lesen. Verwiesen wird stattdessen auf eine Stellungnahme der AAP, der American Academy of Pediatrics. In dem zuvor schon erwähnten Interview sagt die Bundesjustizministerin, die AAP habe Beschneidungen sogar empfohlen.

Holm Putzke: Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger verbreitet – wahrscheinlich aus Unwissenheit – die Unwahrheit. Das ist befremdlich und sollte ihr peinlich sein. Die AAP hat in der aktuellen Stellungnahme nämlich überhaupt keine „Empfehlung“ für Beschneidungen abgegeben, sondern lediglich geäußert, dass die Entscheidung darüber den Eltern überlassen werden sollte, weil gesundheitliche Vorteile beschnittener Neugeborener schwerer wögen als die Risiken.

Was diese Begründung angeht, ist die Stellungnahme der AAP übrigens vollkommen unbrauchbar. Erstens handelt es sich um eine von Lobbyisten beeinflusste Erklärung. Denn zu dem Verband gehören auch die US-amerikanischen Geburtshelfer. Vor allem für sie ist das Beschneiden von Neugeborenen ein profitträchtiges Geschäft. Ihre Umsätze brachen ein, nachdem sich die AAP in den Jahren 1999 und 2005 noch gegenteilig geäußert hatte. In der aktuellen Stellungnahme findet sich der verräterische Hinweis, dass die Kehrtwende der AAP ausdrücklich von den Geburtshelfern unterstützt wird. Zweitens bestand die Projektgruppe der AAP selber aus zahlreichen Beschneidungsbefürwortern, die teilweise sogar ihre eigenen Kinder hatten beschneiden lassen. Es liegt doch auf der Hand, dass solche Leute zur Rechtfertigung des eigenen Verhaltens die Vorhautamputation harmlos finden wollen und bestrebt sind, irgendetwas Nützliches daran zu entdecken. Drittens hat die Projektgruppe aktuelle Studien ignoriert oder jedenfalls bei der Gesamtbetrachtung unberücksichtigt gelassen, unter anderem zu den Auswirkungen der Vorhautamputation auf die Sensibilität und zu den Folgen der erlittenen Schmerzen. Viertens haben weltweit zahlreiche kinderärztliche Verbände dem AAP-Pamphlet energisch widersprochen – kurz: die AAP steht mit ihrer Fehleinschätzung inzwischen weltweit völlig isoliert da.

Dass diese Verlautbarung gleichwohl in der Gesetzesbegründung kritiklos angeführt wird, dokumentiert das oberflächliche Niveau, auf dem sich die Ausführungen bewegen. Es zeigt auch, dass die gebetsmühlenartige Betonung, es gehe um das Kindeswohl und das Kind habe ein Recht auf körperliche Unversehrtheit, pure Heuchelei ist. Man will das eigentliche Ziel verschleiern, das archaische Ritual der religiösen Beschneidung, koste es was es wolle, zu retten. Die Debatte wäre anders verlaufen, wenn das Justizministerium Fakten objektiv gewichtet und nicht absichtsvoll selektiv gesammelt hätte.

hpd: Aber in dem zuvor schon angesprochenen Interview verweist die Bundesjustizministerin darauf, dass auch kritische Stimmen gehört worden seien. Wieso wurden deren Argumente nicht aufgenommen?

Holm Putzke: Ein weiterer Versuch, die Wahrheit zu verdrehen. Bis zur Präsentation der Eckpunkte des Justizministeriums gab es keine Beteiligung kritischer Experten. Das war ja auch gar nicht gewollt, weil es dann ziemlich schwierig geworden wäre, medizinisch unnötige Beschneidungen als kindeswohldienlich zu verkaufen. Mit dem Kindeswohl haben medizinisch unnötige Beschneidungen so viel zu tun wie Reinhold Messner mit einem Tiefseetaucher. Hätte das Justizministerium das durch Studien solide belegte Schädigungspotential von Beschneidungen objektiv dargestellt, wäre die Mehrheit für das Gesetz bedrohlich ins Wanken geraten, weil vielen Bundestagsabgeordneten dann klar geworden wäre, dass sie keine Entscheidung treffen, die dem Wohl von Kindern dient.

hpd: Nun hat aber auch im Rechtsausschuss die Mehrheit der Sachverständigen für das Beschneidungsgesetz votiert. Ist dieses Votum gar nichts wert?

Holm Putzke: Genau – keinen Pfifferling! Überlegen Sie doch mal: Bei allen Eingeladenen war völlig klar, wie sie votieren würden, weil sich die meisten vorher schon irgendwo geäußert hatten. So standen von vornherein viele Beschneidungsbefürworter wenigen Kritikern gegenüber. Völlig überraschend war am nächsten Tag in den Zeitungen zu lesen, dass eine große Mehrheit der Sachverständigen das Gesetz gutheißt. Wer keine Ahnung hat, den beeindruckt so ein scheinbar klares Votum natürlich. Bei genauerem Hinsehen haben die gezielt ausgewählten Sachverständigen genau das produziert, was die Politik bei ihnen bestellt hat: einen Persilschein. So funktioniert Politik: Man lade sich die Applaudierer und Ja-Sager ein, die man braucht, und schon bekommt man das Ergebnis, das man haben möchte.

Warum wurden neben oder anstelle der jüdischen Beschneiderin Antje Yael Deusel und des Generalsekretärs des Zentralrats der Juden, Stephan J. Kramer, nicht Andreas Gotzmann, Professor für Judaistik an der Universität Erfurt, geladen oder Michael Wolffsohn, Historiker und emeritierter Professor? Warum wurde der gerade zum Bundesgerichtshof berufene Hennig Radtke gehört und nicht der langjährige BGH-Richter Thomas Fischer, Autor des bekanntesten StGB-Kommentars? Was qualifiziert Hans Kristof Graf, Chefarzt im Jüdischen Krankenhaus Berlin, gegenüber Boris Zernikow, Leiter des Deutschen Kinderschmerzzentrums, oder gegenüber Matthias Franz, Professor für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie? Oder was hat der Ehrenvorsitzende des Deutschen Familiengerichtstages, Siegfried Willutzki, für besondere Kompetenzen etwa im Vergleich zu einer Vertreterin oder einem Vertreter der Deutschen Kinderhilfe? Wieso wurde Aiman A. Mazyek eingeladen, der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, aber kein einziger von denen, die ihre Beschneidung beklagen und unter ihrem Zustand leiden? Und mit welchem Recht erhält der Kirchenrechtler Hans Michael Heinig den Vorrang etwa gegenüber Winfried Hassemer, dem ehemaligen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts?

Wie man sieht: Leicht hätte die Sachverständigenrunde ganz anders besetzt werden können und dann wäre ein ganz anderes Ergebnis herausgekommen und die Medien hätten am nächsten Tag vermelden müssen: „Sachverständige uneins über Beschneidungsgesetz“ oder „Sachverständige lehnen Beschneidungsgesetz ab“. Aber das hätte Sand ins Getriebe der überhastet angeworfenen Gesetzgebungsmaschinerie gestreut. Und mehr Bedenkzeit wollte sich die Politik nicht gönnen, weil sie den auf sie ausgeübten Druck als zu groß empfand.

 

hpd: Die Bundesjustizministerin meint, dass das Gesetz nicht hastig zustande gekommen oder gar durchgepeitscht worden sei. Auch habe man keinem Druck nachgegeben. Sie sehen das anders?

Holm Putzke: Was soll Frau Leutheusser-Schnarrenberger denn sagen? Das sind doch typische Beschwichtigungs- und Ausweichfloskeln einer Politikerin, die mit dem Rücken zur Wand steht. Ich kann nur hoffen, dass es niemanden gibt, der sich von solchen Äußerungen den Verstand vernebeln lässt. Man muss sich doch nur einmal anschauen, welche Drohkulisse allein von jüdischer Seite aufgebaut wurde, nämlich dass bei einem Beschneidungsverbot „jüdisches Leben in Deutschland nicht mehr möglich“ sei und dass es sich um „den schwersten Angriff auf jüdisches Leben seit dem Holocaust“ handele. Das sind Drohungen, die in Deutschland schlicht nicht steigerungsfähig sind. Die Politik hätte den Mut haben müssen, solche Aussagen als „substanz- und taktlos“ zurückzuweisen, so wie es der Historiker Michael Wolffsohn getan hat.

Natürlich gab es einige Leute, die das Urteil des Landgerichts Köln und die Diskussion nutzen wollten, um ihren Ressentiments gegenüber Juden und Muslimen Ausdruck zu verleihen. Aber das waren Wenige. Es lässt sich nicht ernsthaft bestreiten, dass die Kritik an medizinisch unnötigen Beschneidungen mehrheitlich weder antisemitisch oder antimuslimisch noch antireligiös ist, es vielmehr um das Wohl von Kindern geht, das in einem Rechtsstaat nicht allein von religiösen Vorstellungen abhängen darf.

Leider hat sich die Mehrheit der Politiker einschüchtern lassen. Und wenn man einmal mit Insidern spricht und erfährt, was da für eine Hektik und ein Druck im Justizministerium geherrscht haben, dann wundert man sich auch nicht mehr darüber, dass das Gesetz und die eiligst zusammengeschusterte Begründung handwerklich derart miserabel sind.

hpd: In der Anhörung vor dem Rechtsausschuss hat Michael Heinig gesagt, dass der Gesetzentwurf „über jeden Zweifel erhaben“ sei.

Holm Putzke: … was sich über seine Stellungnahme leider nicht sagen lässt. Das beginnt schon damit, dass er sich auf ein pseudowissenschaftliches Kampfpapier des American Jewish Committee beruft, Kritiker pauschal und ohne dies zu belegen der Falschdarstellung bezichtigt, die Frage des Schädigungspotentials von Vorhautamputationen völlig unzureichend behandelt und nicht zuletzt die verfassungsrechtlichen Probleme nicht ansatzweise erfasst. Kirchenrechtler Heinig hört genau dort auf nachzudenken, wo die eigentlichen Probleme beginnen.

hpd: Wo liegen denn die Schwächen des Gesetzes?

Holm Putzke: Die Mängelliste ist lang und hier reicht die Zeit nicht, um auf alles einzugehen. Zunächst einmal: Das Beschneidungsgesetz ist verfassungswidrig! Neben dem Recht auf körperliche Unversehrtheit, Selbstbestimmung und negative Religionsfreiheit ist auch Artikel 3 des Grundgesetzes verletzt. Obwohl dieses Grundrecht erklärt, dass Männer und Frauen gleichberechtigt und geschlechtsabhängige Bevorzugungen oder Benachteiligungen verboten sind, knüpft der Gesetzgeber die Erlaubnis zur Körperverletzung ausdrücklich an das Geschlecht des Kindes. Offenbar soll der Gleichheitssatz für Jungen und Mädchen nicht gelten. Das ist mit unserer Verfassung nicht zu vereinbaren. Bei der Genitalverstümmelung von Mädchen – die mit Blick auf leichte Formen ohne weiteres mit der männlichen vergleichbar ist – gehört das empörte Ablehnen dieser Form von Gewalt inzwischen zum guten Ton. Es gibt keinen sachlichen Grund, Jungen anders zu behandeln. Stattdessen ebnet der Gesetzgeber mit dem Beschneidungsgesetz den Mädchenbeschneidern den Weg – auch wenn dies die Befürworter der männlichen Vorhautamputation nicht wahrhaben wollen und über den Vergleich schimpfen wie Rohrspatzen.

Sodann ist es skandalös, Nichtmedizinern zu erlauben, operative Eingriffe an Säuglingen vorzunehmen. Ich bin sicher: Kein einziger Jude hätte Deutschland verlassen, wenn man die Durchführung der Brit Milah an die Voraussetzung geknüpft hätte, dass sie nur dann von Mohalim vorgenommen werden dürfen, wenn diese zugleich approbierte Ärzte sind.

Deutliche Kritik ist an der missglückten Zweckklausel zu üben. Beschneidungen seien dann nicht erlaubt, wenn unter Berücksichtigung ihres Zwecks das Kindeswohl gefährdet sei. Das sei etwa der Fall, wenn Eltern ihr Kind zur Masturbationserschwerung oder aus ästhetischen Gründen beschneiden lassen wollen. Zum einen ist diese Regelung nicht justiziabel, weil Eltern nach dem Willen des Gesetzgebers ja zum Zweck der Beschneidung gar keine Angaben machen müssen. Aber selbst wenn sie es müssten, würde der Verweis auf „Religion“ oder „Gesundheit“ genügen, um das Kind beschneiden lassen zu dürfen. De facto erlaubt das Gesetz Eltern also, ihren Kindern nach Lust und Laune die Vorhaut zu amputieren.

Die Zweckklausel ist aber auch aus einem ganz anderen Grund Regelungsunfug: Für die Legitimation eines Eingriffs sind – bezogen auf das Kind – allein objektive Parameter ausschlaggebend. Ist ein Eingriff objektiv kindeswohldienlich, vermögen die niederträchtigsten Motive, aus denen heraus Eltern ihn verlangen, nichts an der Kindeswohltauglichkeit zu ändern. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Die Einwilligung der Eltern in eine dringend notwendige Zahnbehandlung ihres Kindes ist nicht deshalb unwirksam, weil die Eltern einwilligen, um sich an den Schmerzen und der Angst ihres Kindes zu ergötzen.

Schließlich wird dem Vetorecht des Kindes vollkommen unzureichend Rechnung getragen. Die Gesetzesformulierung schweigt dazu gänzlich. Lediglich in der Begründung heißt es, dass Eltern gehalten seien, sich mit einem entgegenstehenden Kindeswillen auseinanderzusetzen. Im Klartext bedeutet das: Wenn die Eltern sich mit dem entgegenstehenden Willen auseinandergesetzt haben, dürften sie es – entgegenstehender Wille hin oder her – beschneiden lassen. Deutlicher hätte der Gesetzgeber seine Geringschätzung für Kinderrechte nicht zum Ausdruck bringen können. Nicht zuletzt hat er damit die Vorgaben des Deutschen Ethikrats missachtet, der die Anerkennung eines entwicklungsabhängigen Vetorechts des betroffenen Jungen gefordert hatte.

Vor diesen und weiteren dilettantischen Mängeln hat der Gesetzgeber die Augen verschlossen – obwohl darauf schon Reinhard Merkel, Mitglied des Deutschen Ethikrats, frühzeitig und eindringlich hingewiesen hatte.

hpd: Es lässt sich doch aber nicht von der Hand weisen, dass es befremdlich gewesen wäre, wenn ein deutsches Gericht einen jüdischen Mohel zu einer Geld- oder Freiheitsstrafe verurteilt hätte, weil er ein jahrtausendealtes Ritual durchgeführt hat. Heribert Prantl hat in einem Kommentar darauf hingewiesen, dass das deutsche Strafrecht kein Instrument zur Judenmission sei. Was sagen Sie dazu?

Holm Putzke: Heribert Prantl schätzt die Dinge normalerweise sehr präzise ein – in der Beschneidungsdebatte hat er schlicht und einfach nicht verstanden, worum es geht. Der Gesetzgeber hätte sich auf die Lösung des Problems beschränken sollen, religiöse Beschneidungen von Jungen aus der Schusslinie des Strafrechts zu bringen. Tonio Walter, Strafrechtsprofessor an der Universität Regensburg, hat den klugen Vorschlag gemacht, ins Strafgesetzbuch eine Regelung aufzunehmen, die den Tatbestand der Körperverletzung für nicht anwendbar erklärt bei Beschneidungen von Jungen, wenn seine Religionsgemeinschaft und die der Sorgeberechtigten die Beschneidung gebietet. Damit hätte man vermieden, etwas für kindeswohldienlich erklären zu müssen, was definitiv nicht dem Kindeswohl dient. Natürlich wäre auch dies ein Fremdkörper in unserer Rechtsordnung – aber für eine Übergangszeit nicht zuletzt aus historischen Gründen gerade noch akzeptabel.

Zusätzlich hätte man mit den Religionsgemeinschaften darüber reden müssen, ob es nicht Alternativen zur radikalen Beschneidung gibt. Denn bei der sogenannten Periah handelt es sich lediglich um eine von Rabbinern eingeführte Tradition; das göttliche Gebot der Milah wurde lange Zeit in einer deutlich weniger eingriffsintensiven Form praktiziert. Was hätte dagegen gesprochen, zum ursprünglichen biblischen Gebot zurückzukehren? Das wäre immerhin eine deutlich weniger eingriffsintensive Verletzung gewesen und nicht verbunden mit mehr als 50 Prozent Verlust sensitiven Gewebes des männlichen Geschlechtsorgans.

Über all das hätte man reden können und müssen. Leider war der Mehrheit der Bundestagsabgeordneten die vorweihnachtliche Ruhe wichtiger als Kinder und deren Wohlergehen.

 

hpd: Hat die Beschneidungsdebatte irgendetwas Positives bewirkt?

Holm Putzke: Zweifellos! Das Urteil des Landgerichts Köln und die anschließende Diskussion haben einen Bewusstseinswandel bewirkt und die Gegenbewegungen gestärkt – weltweit, nicht nur in Deutschland. Kürzlich hat eine repräsentative Umfrage von Infratest dimap ergeben, dass 70 Prozent der deutschen Bevölkerung das Beschneidungsgesetz kategorisch ablehnen. Allein in Israel entscheiden sich immer mehr Eltern gegen eine Säuglingsbeschneidung. Und Umfragen haben ergeben, dass dort etwa 30 Prozent der Eltern ihre Kinder nicht beschneiden lassen würden, wenn der gesellschaftliche Druck nicht vorhanden wäre. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wesentlich mehr Menschen das Recht ihrer Kinder auf eine selbstbestimmte Entscheidung respektieren werden.

Durch die Debatte wurde sowohl der breiten Öffentlichkeit als auch den beschneidungswilligen Eltern bewusst, dass es sich – anders als vor allem Religionsvertreter gern behaupten – nicht um einen harmlosen, sondern um einen massiven und keinesfalls risikolosen körperlichen Eingriff handelt.

Die gesellschaftliche Debatte hat dazu geführt, dass viele Eltern, auch muslimische und jüdische, angesichts nicht vorhandener medizinischer Vorteile, angesichts der irreversiblen Folge des körperlichen Eingriffs und nicht zuletzt wegen bestehender Risiken die Entscheidung über den Eingriff ihrem Sohn überlassen oder zu unblutigen Alternativen greifen, ohne dass dies ihrem religiösen Selbstverständnis, schon gar nicht ihrer religiösen Zugehörigkeit abträglich wäre. Die Diskussion hat nicht zuletzt dazu geführt, dass viele Betroffene den Mut gefunden haben, sich öffentlich über die Folgen der Beschneidung zu äußern, vor allem über die Schmerzen, den Pfusch von Beschneidern, den Verlust an Sensibilität oder über die teilweise mit psychischen Leiden verbundene Ohnmacht, dass die Eltern das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen nicht respektiert haben.

Glücklicherweise wird das Beschneidungsgesetz weder die wissenschaftliche noch die gesellschaftliche Debatte beenden. Im Gegenteil: Die Art, wie das Beschneidungsgesetz zustande gekommen ist, die Ignoranz der Politik gegenüber Kinderrechten und nicht zuletzt die Einflussnahme bestimmter religiöser Gruppen hat viele Menschen erschreckt.

Ich bin sicher, dass das Urteil des Landgerichts Köln und die intensiv geführte Diskussion um die Zulässigkeit medizinisch unnötiger Beschneidungen einen Prozess eingeläutet haben, der dem archaischen Ritual über kurz oder lang ein Ende machen wird. Auch die Religionsgemeinschaften werden irgendwann erkennen, dass es Alternativen gibt zur religiösen Stempelung kindlicher Körper. Und in einigen Jahren werden sich die Menschen an den Kopf fassen und fragen, welcher Teufel den Gesetzgeber geritten hat, die körperliche Unversehrtheit von Kindern und ihr Selbstbestimmungsrecht derart mit Füßen zu treten.

hpd: Herr Putzke, vielen Dank für das Gespräch.
Die Fragen stellte Carsten Frerk.

 

Weiterführende Literatur ist zu finden auf der Homepage von Prof. Dr. Holm Putzke.