Belgische Sterbehilfedebatte erneuert

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BRÜSSEL. (hpd) Vorige Woche erschien in der belgischen Presse die Mitteilung, dass Mitte Dezember 2012 zum ersten Mal auf der Welt eineiige Zwillinge (45) das Recht auf Sterbehilfe nutzten, um gemeinsam zu sterben. Beide Männer aus der belgischen Gemeinde Putte waren taub geboren und verbrachten ihr ganzes Leben zusammen.

Sie teilten das gleiche Haus und qualifizierten sich beide zu Schuhmachern. Ihre angeborene Taubheit war für sie kein Problem, aber als ihnen vor ein paar Jahren zusätzlich drohte, durch zunehmende Blindheit alle Möglichkeiten der Kommunikation zu verlieren, wurde ihnen das Leben unerträglich.
 

Obwohl das bestehende belgische Gesetz nur Sterbehilfe erlaubt, wenn die Ärzte ein unerträgliches Leiden diagnostizieren, die beiden Brüder jedoch nicht unheilbar krank waren und keine körperlichen Schmerzen hatten, willigten die Ärzte des UZ Krankenhaus Brüssel in ihren Wunsch ein.

Bereits Anfang 2011 gab es einen ähnlichen Fall in Vlaams Brabant. Eine Frau (78) konnte sich das Leben nicht ohne ihren tödlich an Krebs leidenden Mann vorstellen. Als die Schmerzen des Mannes unerträglich wurden, entschieden sie sich, zusammen zu sterben.

Der jetzt in den Medien breit diskutierte Fall der beiden Zwillinge rückt zugleich ein Vorhaben der belgischen Regierung in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Debatte. Sie will auf Vorschlag der liberalen und sozialistischen Parteien das bereits relativ fortschrittliche „Euthanasiegesetz“ erweitern. Belgien ist wie die Niederlanden ein Land, in dem Sterbehilfe nach relativ liberalen Prinzipien bereits seit dem 28. Mai 2002 und trotz scharfem Widerstand der Kirche legalisiert wurde. Doch findet seit den letzten Jahren eine Debatte zur erneuten Anpassung statt.

Die Hauptbedingung, worunter Sterbehilfe bis jetzt praktiziert werden kann, ist ein unerträgliches physisches oder psychisches Leiden, das keine Chance auf Heilung oder Verbesserung der Lebensqualität besitzt, ohne jedoch lebensbedrohlich zu sein. Die durch den Patienten ausgefüllte Willenserklärung muss jedes fünfte Jahr erneuert werden, die Ausführung wird durch drei Ärzte begleitet, worunter ein staatlich bestellter LEIF-Arzt (Levenseinde Informatieforum) sein muss. Der Antrag muss beim kommunalen Meldeamt gestellt werden, wonach durch eine staatliche Organisation (Federale Controle- en Evaluatiecommissie Euthanasie) eine Prüfung stattfindet.

Das Gesetz entsprach schon damals einem großen Bedürfnis in der Bevölkerung, da bereits 2008 fast dreimal mehr Sterbehilfefälle registriert wurden als im Jahre 2003 (705 zu 235). 2011 erhöhte sich diese Zahl sogar auf 1.133. Gestorben wird vor allem zu Hause (44 %) und nur 25 Prozent der Sterbehilfepatienten sind älter als 80 Jahre. Besonders im katholischen Flandern wird die Möglichkeit der Sterbehilfe wahrgenommen: Mehr als 85 Prozent der belgischen Fälle werden in Flandern registriert.

Seit 2002 gab es bereits mehrere Gesetzesinitiativen, um die Anwendung des Gesetzes z. B. auch für Minderjährige und Menschen mit Demenz zu ermöglichen. Eine aktuelle Studie (2011) zeigt, dass zwei Drittel der Belgier dies unterstützen. Nun aber, Ende 2012, gesellte sich die wallonische sozialistische Partei (PS) des Premiermisters Di Rupo zu der Koalition von flämischen Liberalen und Sozialisten, um einen Gesetzesvorschlag zur Reform des sogenannten Euthanasiegesetzes einzureichen, der dadurch mehrheitsfähig wird.

Auch die “Humanistisch-Vrijzinnige Vereniging HVV” und die “Association pour le Droit de Mourir dans la Dignité” (ADMD), sowie ihre flämische Schwesterorganisation “Recht op Waardig Sterven” reagierten zufrieden auf diese Initiative. Der Vorschlag will dabei unter bestimmten Bedingungen Sterbehilfe auch für Minderjährige und Demenzkranke ermöglichen sowie die fünfjährige Gültigkeitsbegrenzung abschaffen. Die Liberalen wollen erreichen, dass Ärzte zwar nicht zur Sterbehilfe gezwungen werden können (in 5 Prozent der Fälle lehnte der Arzt bis jetzt die Hilfe ab), aber doch verpflichtet werden, um Wege zur Sterbehilfe für ihre Patienten zu organisieren.

Als das am schwierigsten zu lösende Problem gilt das Neuüberdenken der ethischen Grundprinzipien des Gesetzes, da das Gesetz durch seinen ethischen Rahmen zunehmend gegen seine eigene Grenzen aufprallt und insbesondere die Rolle der palliative Sorge nicht organisch einbezieht. Auch die kontrovers evaluierte Gründung von Sterbehilfekliniken, wie sie bereits in den Niederlanden existieren, muss angedacht werden. Über diese prinzipiellen Grundlagen will man jetzt umgehend eine Debatte organisieren.

Rudy Mondelaers