„Ohne Deschner gäbe es keine gbs“

 

Berücksichtigen wir, um im Bild zu bleiben, diesen zwischen 1962 und 2013 zu Wasser gelassenen Flottenverband wenigstens im Blick auf seine wichtigsten Einheiten! Er besteht aus den Schlachtschiffen der Bände der Kriminalgeschichte und einer ganzen Reihe weiterer Kampfeinheiten, vom Zerstörer und Flugzeugträger bis zu manchem Unterseeboot. Nicht alles ist hier auch nur aufzulisten. Man kritisiert also die bereits knapp 6.000 Seiten umfassende Kriminalgeschichte als dennoch nur hochgradig selektiv wenigstens solange zu Unrecht, solange man dabei vornehm übergeht, daß ihr Autor eine ganze Reihe zentraler Themen, die in den Zusammenhang einer Kriminalgeschichte des Christentums gehören, in einer Reihe weiterer Titel konzise abgehandelt bzw. sie in diese 'ausgelagert' hat; Themen, von denen wenigstens eines auf seine Weise wiederum epochemachend wurde durch die Sexualgeschichte des Christentums Das Kreuz mit der Kirche; oder eine m. W. auch nicht im Ansatz kopierte Organisations- und Arbeitsleistung erforderten wie Das Christentum im Urteil seiner Gegner, oder von ihrem systematischen oder ihrem historischen Ansatz her das Konzept einer 'nur' 10bändigen Kriminalgeschichte nochmals gedehnt hätten wie Der gefälschte Glaube einerseits und zumal Einhundert Jahre Heilsgeschichte andererseits. (Aus Zeitgründen kann das genannte Ensemble hier in seiner Relevanz leider nicht skizziert werden.)

Nun aber zur Kriminalgeschichte selbst und zum neu erschienenen Band 10.

Die Bände hier auch nur in wenigen Details zu skizzieren, hätte Verzicht auf den erwähnten Kontext bedeutet, der in den meisten Rezensionen ausgeklammert war, weshalb auf diesen, wenigstens den genetischen und systematischen Zusammenhang von Karlheinz Deschners Christentumskritik verdeutlichenden Sachverhalt, zu verweisen war. Die bereits duch ein Personenregister erschlossenen Bände bilden ein singuläres Archiv religiös legitimierter Inhumanität, harren jedoch noch der Erschließung durch einen Sachindex.

Betrachten wir die Bände in ihrer Abfolge, so bilden sie, wie es 'der Sache' auch angemessen ist, eine Art Pyramide.

Deren breite Basis stellen die drei der Antike geltenden Bände mit knapp 2.000 Seiten bzw. einem Drittel des Gesamtumfangs dar. Dieser bis ins 6. Jh. angesetzte Zeitraum bildete zur Zeit der Konzeption der Kriminalgeschichte einerseits die in relevanten Details wenigst bekannte, mittels einiger problemkaschierender Schlagworte m.E. schon deshalb meistverzeichnete Phase der Kirchengeschichte, weil ein nicht geringer Teil dieses Zeitraums wenigstens im Sinne der späteren Catholica kaum im strengen Sinn als deren "Kirchengeschichte" bezeichnet werden kann; andererseits freilich stellte er dank des Ende des 4ten Jahrhunderts gewaltsam durchgesetzten, nur eine Minorität der Bevölkerung des römischen Reiches umfassenden, innerhalb rivalisierender Christentümer zuvor keineswegs dominierenden trinitarischen Christentums als nunmehr verpflichtender Staatsreligion noch immer die entscheidende Phase der Kirchengeschichte dar. Karlheinz Deschner hat die Bedeutung der antiken Phase auch insofern betont, als der dritte Band unter den basalen Perspektiven "Fälschung, Verdummung, Ausbeutung, Vernichtung" der Alten Kirche gewidmet ist. Die beiden Eröffnungsbände hingegen folgen der Entwicklung von den Anfängen bis Justinian.

Der vergleichsweise umfangreiche Antiketeil der Kriminalgeschichte ist auch aus dem weiteren Grund hochrelevant, weil im deutschen Sprachraum nahezu alle Universitätslehrstühle, die diesen die Ausbildung abendländischer Identität nachhaltig beeinflussenden Zeitraum thematisieren, unter kirchlicher Kontrolle stehen. Hier ist politisch noch einiges zu tun. Wie konsequenzenreich undogmatische, kenntnisreiche und positional unabhängige Untersuchungen auch weiterhin sein können, belegen neuerdings die Monographien von Rolf Bergmeier.

Den Schwerpunkt der Kriminalgeschichte bilden die dem Mittelalter gewidmeten, den Zeitraum von ca. 500 bis ins 14. Jh. berücksichtigenden Bände 4-7 mit ihren 2.500 Seiten bzw. 43 Prozent des Gesamtumfangs. Da das Mittelalter in vielen Details längst erforscht, in zahlreichen Untersuchungen dargestellt und auch in Lexika wie bspw. dem umfangreichen Lexikon des Mittelalters zwar breitest präsentiert doch in der Darstellung m.E. weitgehend christentumsfreundlich oder Brisantes eher umgehend angesetzt ist, blieb erforderlich, sich hier auf in der Regel Ausgeklammertes oder Marginalisiertes, insbesondere auf größere Zusammenhänge im Sinne unabdingbarer Gegenstimmen pointiert zu beziehen. Ich fand beeindruckend, mit welcher Souveränität sich der Autor durch dieses ideologisch dichtverminte Gelände bewegte.

Spitze der Pyramide bilden die der Neuzeit, dem Zeitraum vom Exil der Päpste in Avignon über Renaissance, Reformation, Amerikanischen Holocaust bis zur Aufklärung, dem Niedergang des Papsttums, der Jesuitenverfolgung und dem Josephinismus gewidmeten Bände 8-10, die der Autor in seinem 9ten Jahrzehnt mit ihren knapp 1.300 Seiten bzw. ca. 22 Prozent des Gesamtumfangs bewältigt hat. Schon die pure Tatsache verdient Respekt. Da die Neuzeit noch breiter, tiefenschärfer und auch unabhängiger erforscht, dargestellt sowie kontroverser als bspw. die Spätantike diskutiert wird, konnte sich der Autor darauf konzentrieren, im Sinne des Abschlusses seines kirchenkritisch-historischen Ansatzes sein argumentatives Netz zuendezuknüpfen. Aufschlußreich freilich, auf welche Weise er dies tat. Als Beispiel diene der Schlußband. Vom Umfang her bietet er die geringste Seitenzahl, doch inhaltlich stellt er als typisches Alterswerk ein Konzentrat dar. Außerdem bietet er im Schlußkapitel "Armut als Massenphänomen im absolutistischen Zeitalter" Einblick in die Intentionen des Autors. Hier wird die anthropophile, humanitäre Sichtweise Karlheinz Deschners, die ihn bis zur Vollendung dieses opus magnum 'durchhalten' ließ, aus der Vorbemerkung deutlich:

"Aus dem ursprünglichen Plan einer "Geschichte des menschlichen Elends" erwuchs das vorliegende [...] Werk, wie alles, was ich schrieb, dem einen Hauptantrieb verpflichtet -mit den Worten des von mir hochgeschätzen österreichischen Priesters, Lebensreformers, Vegetariers, Atomkraftgegners und Pazifisten Johannes Ude [...]: "Ich kann das Unrecht nicht leiden."

Wie paßt das nur zu den "haßerfüllten Augen des Herrn Deschner"?

III.

Nun erst zu Georg Trakls Versen 3 und 4: "Rund schweigen Wälder wunderbar Und sind des Einsamen Gefährten."

Vermute ich zu Unrecht, daß gründlichere Leser der Kriminalgeschichte auch hier keinerlei Probleme sehen, sondern sich eher fragen, wie es einem Autor der bspw. in Dornröschenträume und Stallgeruch. Über Franken, die Landschaft meines Lebens, 1989, demonstrierten Sensitivität und Sensibilität gelungen sein mag, mehr als ein halbes Jahrhundert lang durch unsäglichen Schmutz zu waten, unfaßbarem Leid, grauenvollem Unrecht, nicht nachvollziehbarer Borniertheit und atemberaubender Verlogenheit Monat um Monat, Jahr um Jahr, Jahrzehnt um Jahrzehnt konfrontiert zu sein, immer und immer wieder, und dennoch nicht aufzugeben, keinen Vorwand zu suchen, sich einer weiteren Auseinandersetzung mit dieser nun dokumentierten Geschichte nicht zuletzt geistigen Elends, das auch - ich betone: auch! - diese Religion nicht nur über die Menschheit gebracht, sondern aus eigensüchtigsten Motiven zumal führender Funktionäre in ihr zu fixieren suchte und sucht, zu entziehen. Genau hier retteten wohl "die Wälder". Nicht nur der Steigerwald oder andere Wälder primär Frankens; doch diese an erster Stelle. Dank sei ihnen und ihrem wunderbaren Schweigen! Dann: "Und sind des Einsamen Gefährten."

Einsamkeit ist unabdingbare Voraussetzung großer Werke. Viele sind daran zerbrochen. Große Werke werden zumindest ihren Autoren nicht geschenkt. Nicht nur diese sollten das wissen. Und das ebenso zu akzeptieren vermögen wie diejenigen, die im Schatten eines derartigen Autors und Werks leben und sich ebenso wie dieser vielfach - "immer wieder"? - entscheiden müssen, ob sie häufige Torturen und eher seltene Freuden zu ertragen, zu leben vermögen. Hochrangige Kulturleistungen sind Lebensaufgaben, genauer: Lebensaufgabe ebenso wie Lebensaufgabe?

IV.

Schließlich zu dem entscheidenden 5. Vers Georg Trakls. Sie erinnern sich: "Da sagt der Landmann: es ist gut."

Doch nicht alle sind mit dieser Wertung einverstanden. Wie auch, denn wären es die in unserem Noch-Semikirchenstaat aus Steuermitteln bestallten Apologeten zumal "des Christentum" und zunehmend noch anderer sog. 'Hochreligionen', so wären wohl allzuviele der berühmten Fettnäpfchen umgangen. Genau das kann dem Autor wohl niemand vorwerfen.

Es gibt, erst das ist ärgerlich, Kritik auch aus anderer Richtung. Keineswegs auf Fehler hinweisende, denn das ist hilfreich und erwünscht, da kein Einzelner, nur von Autorenhonoraren und privaten Hilfen lebend, der 'Dinge' aufzuarbeiten sucht, deren Konfrontation sich Generationen wohlbestallter Wissenschaftler entzogen haben sowie, mittels Petitessenjagd, noch gegenwärtig großenteils zu entziehen scheinen, fehlerlos zu arbeiten vermag.

Doch es geht um Prinzipielleres wie die These, der Ansatz der Kriminalgeschichte sei verfehlt. Kriminalität sei jeweils zeitbezogen: mal würde das als kriminell bewertet, und einige hundert Jahre später oder anderswo anderes. Da Deschner jedoch über Christentum schreibe und Christentum auch lt. Deschner anderthalb Jahrtausende in denjenigen Regionen, über die er schreibe, dominiere, sei Christentum und all' das, was christlicherseits legitimiert sei - schlicht gesprochen: auch jede nur denkbare religiös legitimierte Barbarei - bereits Normalzustand, weshalb von "Kriminalität des Christentums" zu sprechen abwegig sei; streng besehen ein vernichtendes Urteil über das Christentum. Dennoch: da hätten wir nun einen Sisyphos Karlheinz Deschner, der seit einem halben Jahrhundert seinen Felsbrocken, von dem er unbelehrbar nicht lassen will, masochistisch und camusverführt auch noch in die falsche Richtung wälzt? Und alle Mühe nur deshalb, weil er unfähig war, konsequent nachzudenken, bevor er produziert? So mag ein Kritiker zufrieden seinen Schlußstrich ziehen und sich vielleicht vergnügt die Hände reiben. Seinen Namen spare ich aus. Er weiß wohl längst, welch' wohlklingende relativistische Luftnummer er produziert hat. Um abzukürzen: es gibt nämlich ethische Standards, und diese bedurften und bedürfen schon deshalb keines Christentums, auch keines Jesus - si esset -, was immer er gesagt haben mag, weil sie längst vor unserer kuriosen Zeitrechnung in antiker Philosophie entwickelt wurden, spätestens seit Sokrates. Im Verhältnis dazu sind selbst ethisch hochrangigste Christen Epigonen. So einfach ist das. Man muß es nur wissen, darf sich von Profiteuren jeweiligen Status quo nicht sein Gehirn verkleben lassen. Das ist zwar nicht ganz einfach, aber durchaus möglich. Karlheinz Deschner, dessen opus magnum wir heute mit ihm feiern, beweist das seit Jahrzehnten.

Letztmals zu Georg Trakls Vers 5: "Da sagt der Landmann: es ist gut."

"Wie gut?", bleibt die Frage. Sie erzwingt einen Blick in die Geschichte europäischer Aufklärung, beginnend mit ionischen Philosophen der Ägäis des 6. und 5. Jh.s v.u.k.Z. Wenn es eine spezifisch europäische Identität gibt - und es gibt sie; wir dürfen uns dies nur nicht ausreden lassen! -, ist es diejenige von Aufklärung und humanistisch orientierter Kritik. Diese anfangs religionskritisch gewendeten Gedanken - Philosophie konkurrierte im 6. und 5. Jh. primär mit Mythos und Mysterienreligionen - wurden bis zum 4. Jh. entwickelt, später freilich zunehmend 'systematisch überhöht' und religiöser Re-Infektion ausgesetzt; einer Re-Infektion, die in der Spätantike gesiegt zu haben scheint; Anderslautendes wurde nicht mehr tradiert oder von Rechtgläubigen (welchen Glaubens auch immer) vernichtet. Diese späthellenistische Konstellation zunehmender fundamentalistischer Tendenzen nutzten und verstärkten auch diverse 'Christentümer', deren theoretisch vielleicht abwegigste - die eines trinitarischen Monotheismus -, aus m.E. begreiflichsten Gründen gewaltsam als Staatsreligion durchgesetzt wurde (durch Theodosius Ende des 4. Jh.s). Nur in Subkulturen gab es wohl noch unterschiedlichen Orts, später teilweise angeregt durch in Byzanz oder bei Arabern tradierte antike Texte, Auffassungen, die wir heute als präaufklärerisch bezeichnen würden.

Dabei ist deutlich: direkte Auseinandersetzungen mit Christentum und zumal mit kriminellen, religiös jedoch sanktionierten Verhaltensweisen blieb tabuiert und, unter dem Namen des Autors veröffentlicht, 'unmöglich'. Höchstens hochtheoretisch und -abstrakt sowie in entscheidenden Punkten vage oder vieldeutig war bis in die jüngere Vergangenheit Auseinandersetzung mit basalen Prämissen insbes. 'des Christentums' möglich. Noch das System der Natur des Barons D'Holbach, eine materialistisch fundierte, über mehr als 2/3 des Bandes jedoch mit den religiösen und moralischen Prämissen des Christentums fulminant geführte Auseinandersetzung, 1770 pseudonym erschienen, wurde vor der Sorbonne in deren Auftrag feierlich verbrannt; und ein David Hume, der sich zur Naturgeschichte der Religion (1757) zu äußern wagte, bezog noch den Großteil seiner Belege - vorsichtshalber? - aus Texten antiker insbes. materialistischer Literatur und Philosophie.