Totalität der Transparenz: Im Schwarm

BERLIN. (hpd) Der NSA-Überwachungsskandal beherrscht noch immer die Medien, die Bundestagswahlen stehen unmittelbar bevor und wieder einmal schreit alles nach Transparenz. Am liebsten natürlich totale Transparenz und vor allem: überall. Einer hält dagegen: der Philosoph und Kultur-Theoretiker Byung-Chul Han warnt vor den Konsequenzen, sollte die Erfüllung dieser Forderung noch weiter voranschreiten.

Die Bücher von Byung-Chul Han, der in Korea geboren wurde und zum Studium vor rund 30 Jahren nach Deutschland kam, werden mittlerweile aus dem Deutschen ins Koreanische übersetzt und werden in beiden Ländern vielfach gelesen. Die ZDF-Sendung Aspekte attestierte ihm einen „unzeitgemäßer Mut zum Pathos“; seine Thesen treffen in Deutschland wie in Korea einen Nerv. Seine Bücher „Müdigkeitsgesellschaft“ und „Transparenzgesellschaft“ verkauften sich in beiden Ländern (für philosophische Schriften) ungewöhnlich oft.

Prof. Han unterrichtet Philosophie und Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin und leitet dort das hochkarätig besetzte Studium Generale „Diversität im Dialog“. Vergangene Woche erschien das neue Buch von Byung-Chul Han: „Im Schwarm. Ansichten des Digitalen“. Das Thema – besser: die Themen - waren nie gesellschaftlich so präsent wie momentan: es geht um digitale Kommunikation, um Transparenz und deren Auswirkungen. Kritiker, wie z.B. Jens-Christian Rabe (Kolumnist der Süddeutschen Zeitung), werfen ihm vor, lediglich „die Befriedigung eines Publikums, das nicht herausgefordert, sondern nur immer wieder in seiner gefühlten Abscheu von der Gegenwart bestätigt werden will“ zu bedienen. Doch diese Einschätzung mag so gar nicht dazu passen, dass Prof. Han, von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen, zum Beispiel alle öffentlichen Auftritte und Interviews ablehnt.

Eine Krise der Kommunikation

Was man zu Beginn wohl eher als Dienstleistung für kontaktgestörte Schüler und Jugendliche eingestuft hat, ist heute zum Kommunikationsmedium überhaupt entwickelt (und angenommen) worden. In seinem neuen Buch „Im Schwarm“ erkennt Prof. Han hier den Wandel von privaten Informationskonsumenten zu Publishern. Wie interessant dabei beispielsweise das tägliche Foto des Abendessens von User X für seine 387 Facebook-Freunde ist, sei dahingestellt. Auch der mitveröffentlichte Kommentar „Hmmm… Lecker!“ wertet diese Information nicht unbedingt inhaltlich auf. Für Han ist der entscheidende Punkt: Alle Informationen dieser schier unendlichen Anzahl von Publishern gehen ungefiltert an die Öffentlichkeit und verursachen eine Informations-Immunsuppression. Die „ungefilterte Informationsmasse lässt […] die Wahrnehmung ganz abstumpfen“ und sei, unter anderem, auch Ursache von psychischen Erkrankungen. Als Beispiel hierfür führt er das vom  britischen Psychologen David Lewis 1996 geprägte Information Fatigue Syndrom (IFS) an, in welchem durch ein Übermaß an Informationen diverse Symptome auftreten, wie zum Beispiel die „zunehmende Lähmung analytischer Fähigkeiten, Aufmerksamkeitsstörungen, allgemeine Unruhe“.

Laut Han ist heute bereits jeder von einer Form des IFS betroffen. Als Voraussetzung für die heute immer häufiger diagnostizierten depressiven Erkrankungen sieht Han in erster Linie narzisstische Störungen, ausgelöst oder verstärkt durch die digitale Kommunikation. „Soziale Medien wie Twitter oder Facebook […] sind narzisstische Medien“ und treiben damit, durch ihre enorm weite Verbreitung, diese Entwicklung weiter voran. Der User macht sich selbst vom Subjekt zum Projekt, er entwirft sich selbst, und präsentiert die Ergebnisse dann digital. Zum Beispiel seine täglichen geschmackvollen Abendessen. Genau betrachtet enthält dieser geteilte Inhalt nur die Selbstdarstellung, sie verfügt über keinen informativen Mehrwert.

Schon in seinen früheren Büchern „Transparenzgesellschaft“ und „Agonie des Eros“  beschreibt Prof. Han, dass die Entwicklung der modernen Kommunikationsformen uns den Kontakt zu dem „Anderen“ erschwert und wir dessen Wahrnehmung sogar völlig verlieren. Wieder sind wir beim Narzissmus, also des krankhaft übersteigerten Ich-Bezugs. „Im Schwarm“ führt Han diesen Gedanken weiter, beispielsweise an der bloßen Zählung der „Freunde“ sowie dem Fehlen der (für Prof Han ungeheuer wichtigen) Negativität im Kontakt zum Anderen. Die Aussage, die hinter dem „gefällt mir“ Button von Facebook steht, mag soziale Interaktion zwar auf den ersten Blick suggerieren, ist aber, bei Nutzung, ebenfalls nur eine weitere Ergänzung zum narzisstischen Projekt des Selbstentwurfes.

Zeitalter der Selbstausbeutung

Ein weiterer Punkt, in dem Prof. Han eine Gefahr in den neuen Kommunikationsmedien sieht, ist die permanente Erreichbarkeit an jedem Ort und zu jeder Zeit. Bereits in seinem Buch „Müdigkeitsgesellschaft“ beschrieb er sein Konzept von der Epoche der Selbstausbeutung. Gerade die Freiheit, die wir heute so hochhalten, fügt uns, aufgrund ihrer Struktur, Schaden zu. Sie erzeugt permanent den Zwang zur Selbstoptimierung, was die notwendigen Erholungsphasen unmöglich macht. Prof. Han sieht unsere Gesellschaft in einem Zustand des allgemeinen Burn-Outs. Die Freiheit, beispielsweise überall und zu jeder Zeit seine E-Mails lesen zu können, sein Projekt des Selbstentwurfes zu verfeinern und mehr oder weniger wichtige News zu konsumieren macht ein Abschalten unmöglich. Selbst wenn diese Möglichkeiten ungenutzt bleiben, allein die bestehende Möglichkeit schränkt die Erholung ein. So schafft  perfiderweise das, was wir als Freiheit wahrnehmen, in Wahrheit den ultimativen Selbstzwang zur Optimierung.

Die Macht hat, wer über die Shitstorms des Netzes verfügt

Während mancher die sog. „Sozialen“ Netzwerke als Verteidigungsinstrument der Demokratie sieht (Man denke an die zum Teil über Facebook  organisierten Demonstrationen und Aktionen während des arabischen Frühlings), sieht Han in Ihnen einen entscheidenden Schritt zur Abschaffung unserer praktizierten Form der Politik. Durch die Möglichkeiten der sozialen Netzwerke zur (natürlich öffentlich praktizierten) Meinungs“bildung“ und –Verbreitung innerhalb kürzester Zeiträume werden in der repräsentativen Demokratie notwendige Langzeitstrategien und –Projekte zusätzlich erschwert. Die Popularität in der Öffentlichkeit, auf die Parteien wie Politiker angewiesen sind, kann, z. B. durch so genannte Shitstorms, in wenigen Stunden drastisch steigen oder fallen. Hierzu stellt Prof. Han in „Im Schwarm“ die Frage nach Konzepten für eine Form der Demokratie, in welcher der Bürger direkt über das Netz seine Stimme zu politischen Fragen abgeben kann.

Korrelation statt Kausalität

Weitere Themen, die Byung-Chul Han anschneidet, sind z.B. die Zusammenhänge zwischen der Wissenschaft und unserer digitalen Kommunikationskultur. Als Ausgangspunkt hierfür bedient er sich des Artikels „The End of Theory“, verfasst vom Chefredakteur von Wired. „Wenn ausreichend Daten zur Verfügung stehen sprechen die Informationen für sich.“ Hier wird die Frage gestellt, ob unser Umgang mit Daten in der Lage wäre wissenschaftliche Methoden wie Taxanomie, Ontologie und die Methoden der Soziologie und Psychologie in Zukunft nicht überflüssig machen könnte. Die Idee dahinter: Wissenschaftliche Methoden sollen einen Mangel an bekannten Daten für eine Prognose ausgleichen.

Bei den Datenmengen, die heute über die persönlichen Einträge ins Netz zur Verfügung stehen, ist vielleicht in naher Zukunft stattdessen ein direkter Datenabgleich möglich. Große Datensammler wie Google können bereits aus den gesammelten Daten Verhaltensmuster von Gruppen und Einzelpersonen bilden, die auch Prognosen möglich machen. Dabei stehen viel mehr Daten zur automatischen Auswertung  zur Verfügung als bei empirischen Studien mit hunderten oder gar mehreren tausend Versuchspersonen. Hier kann man Millionen „Versuchspersonen“ zur Auswertung nutzen.

Byung-Chul Han nennt die potentiellen Konsequenzen eine digitale Psychopolitik die, kombiniert mit der sich permanent weiterentwickelnden Kommunikationstechnologie, in der Lage sein wird, „Menschen nicht von außen, sondern von innen her [zu] überwachen, kontrollieren und beeinflussen.“ Und damit durchaus totalitäre Züge annehmen könnte, sowohl durch die Möglichkeit zur Überwachung, als auch durch den Zugang zum „kollektiv-Unbewusstem“.

Fazit

Eine Lösung dieser gesellschaftlich problematischen Entwicklung bietet Prof. Han nicht an, er habe keine Lösung, sagte er in einem der wenigen Interviews, die zu geben er bereit war. „Eine Lösung würde immer ein weiteres Problem mit sich bringen.“ Byung-Chul Han betreibt seine Kritik an der modernen Kommunikation nicht gerade subtil; nicht verwunderlich also, dass es heftige Gegenwehr gegen seine Thesen gibt. In der Zeit der Apple-Jünger, die ein schon nahezu religiös-fanatischen Kult um ein simples Branding betreiben und in der der größte Teil der Bevölkerung die sozialen Netzwerke nutzt, tut Byung-Chul Hans Kritik zweifellos weh. Sie stellt immerhin ganze Aspekte der Persönlichkeit vieler Menschen radikal in Frage und verurteilt diese Aspekte offen. Ob diese Art der Kritik mehr schocken sollte, als die Tatsache, dass unzählige Menschen die mobile Kommunikation als einen Hauptbestandteil ihrer Identität ansehen, sei dem Leser überlassen.

Nicolai A. Sprekels

Byung-Chul Han, Im Schwarm. Ansichten des Digitalen. Berlin 2013 (Matthes & Seitz), 107 Seiten, 12,80 €.