Die DDR und der Humanismus

Das fünfte Kapitel ist überschrieben mit „Humanismus und Begründung der DDR-Kulturpolitik“. Groschopp schreibt, dass zu den ersten Beschlüssen der ersten DDR-Volkskammer das Jugendgesetz vom 8. Februar 1950 gehört hat. Dieses bestimmte „die Erziehung der Jugend im Geiste wahrer Demokratie und eines echten Humanismus“. (S. 299)

Er geht auch auf die „Wirren“ nach Stalins Tod 1953 ein, in der Sowjetunion selbst und auch in der DDR (Formalismus-Debatte, „Tauwetter“).  So kam es 1957 zu neueren kulturellen Konzeptionsbildungen, für die neben Walter Ulbricht vor allem der inzwischen aus der Sowjetunion heimgekehrte Alfred Kurella steht. In dieser Zeit meldete sich in Sachen Humanismus nicht minder Wilhelm Girnus (1906 – 1985) zu Wort. Dieser forderte u.a. dass außereuropäische Kulturen nicht länger „Gegenstand der Spezialforschung“ sein, sondern in einen „Humanismus als einer allgemeinmenschlichen Lehre“ einfließen.

1960 kam es dann mit einem Aufsatz in der sowjetischen „Philosophischen Enzyklopädie“ zu einer offiziellen Humanismus-Definition. Groschopp erwähnt einen Abschnitt besonders: „Der Humanismus habe sich nicht nur in Westeuropa entwickelt. Humanistische Ideen, so zeige die neuere Forschung, schon früh bei den Völkern der UdSSR, des alten China und anderen Völkern des Ostens nachzuweisen. So entstand die Idee der 'Menschlichkeit' in China im 8. bis 12. Jahrhundert. Sie war gegen religiöse Normen des Buddhismus und Taoismus gerichtet. Humanistisches Denken in der Philosophie und der wissenschaftlichen Literatur lasse sich für Mittelasien, Georgien und Armenien im 10. bis 12. Jahrhundert aufzeigen, in Rußland im 15. und 16. Jahrhundert.“ (S. 361)

Wenn man neben dem bereits erwähnten (westlichen) Eurozentrismus auch die (oftmals unkritische und idealisierte) UdSSR-Zentriertheit seinerzeitiger sowjetischer Autoren wegläßt, dann kann man einer solchen Aussage auch heute noch zustimmen!

Kapitel 6 widmet sich den „Aufbau und Ende des 'Kultursozialismus'“. Nach 1961 nahm sich die DDR, so Groschopp, vor, die bessere Variante deutscher Kultur auszuprägen. Damit war keinesfalls die „sozialistische deutsche Nation“ gemeint, wie sie zehn Jahre später unter Erich Honecker propagiert wurde. Zu den seinerzeitigen Debatten schreibt der Autor u.a.:

„Am Schluss steht dann Kurellas Credo, das ihm in der DDR Programm wurde und woran er letztlich auch scheiterte: 'Humanismus als integrierender Bestandteil des Marxismus, des wissenschaftlichen Sozialismus – ja! Klassischer Humanismus als Ausgangspunkt einer antikapitalistischen Kritik – ja! Aber bürgerlicher Humanismus als 'Ergänzung' des Sozialismus, als Maßstab für seine Verwirklichung – nein!'

Vielleicht lässt sich im 1965er DDR-Bildungsgesetz sowohl ein politischer Erfolg von Kurellas Konzept als auch bereits der offizielle Abschied davon ablesen. Das Gesetz nennt 'Humanismus' ein Ergebnis, nicht Zukunftsaufgabe.“ ( S. 403)

Ausführlich geht Groschopp dann auf den „Kahlschlag“ durch das 11. ZK-Plenum der SED vom 15. bis 17. Dezember 1965 ein. Das gilt auch für die von Walter Ulbricht geplante Konferenz „Humanismus und Realismus“.

Während seinerzeit einerseits relativ ergebnisoffene Debatten über Sozialismus und Humanismus durch die Konservativen im SED-Parteiapparat abgeblockt wurden, kam es andererseits 1967/1968 in der DDR zu einer breiten und öffentlichen Verfassungsdiskussion. Bereits im ersten Entwurf hieß es: „Die Deutsche Demokratische Republik schützt und fördert die sozialistische Kultur, die dem Frieden, dem Humanismus und der Entfaltung des Sozialismus dient. Sie fördert das kulturelle Leben der Werktätigen, pflegt die humanistischen Werte der Weltkultur und entwickelt die sozialistische Nationalkultur als Sache des ganzen Volkes.“ (S. 438/439)

Diese und andere Formulierungen veranlassen Groschopp, der Frage nachzugehen, welches die Ursache war, den Humanismus derart zu betonen und so umfassend zu definieren.

Der Beantwortung soll auch ein historischer Rückblick helfen, ausgehend von der Gründung des ersten deutschen „Kultusministeriums“ 1817 im Königreich Preußen.

Und auf S. 457 wird deutlich, warum Groschopp seinem aktuellen Buch den Titel „Der ganz Mensch“ gegeben hat. Er nimmt damit Bezug auf einen gleichnamigen Sammelband von Alfred Kurella aus dem Jahre 1969. Der Autor widmet sich dann den philosophischen Wörterbüchern der DDR und ihren immer wieder leicht veränderten Humanismus-Definitionen ab 1964.

Weitere Themen bilden die „kulturelle Massenarbeit“ in volkseigenen Betrieben und den Kulturhäusern sowie die „Okkupation des Humanismus“ durch die Philosophen auf deren Humanismus-Kongreß im Jahre 1984. Groschopps Verdikt für diesen Kongreß fällt vernichtend aus, war doch dieser wirklich von der tiefen gesellschaftlichen Stagnation in den sozialistischen Staaten in Ost- und Mitteleuropa gekennzeichnet. Er benennt zwei systembedingte Erkenntnisblockaden seit der Ära Honecker in der DDR. Die erste habe sich aus dem unbedingten Festhalten an der Erziehung eines jeden zu einem „ganzen Menschen“, zu einer „allseitig entwickelten sozialistischen Persönlichkeit“ unter den tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR ergeben. Eine zweite und grundsätzlichere Denkblockade habe in der unzulässigen Verknüpfung der „historischen Mission der Arbeiterklasse“ mit der Problematik des Humanismus als einer kulturellen und historischen Gedanken- und Realbewegung bestanden. Groschopp folgert: „Der spezielle DDR-Humanismus verlor sein imaginiertes Subjekt [die Arbeiterklasse; SRK], das ihn tragen sollte. (S. 491)

Und leitet damit zum siebenten Kapitel über: „Am Ende der Illusion – die Arbeiterklasse schläft nicht“. Groschopp schreibt hier: „Marx hatte keinen wissenschaftlichen Klassenbegriff.“ In diesem Kapitel greift der Autor auf seine Dissertation und ein Lehrheft aus seiner Feder zurück. Seine jetzt veröffentlichten Schlussfolgerungen hat er bereits am 1. Februar 2003 auf einer Sondersitzung des Forschungskollegiums „Das Kapital neu lesen“ an der FU Berlin vorgetragen. Was hier zunächst antimarxistisch/antikommunistisch klingt, relativiert sich, wenn man sich selbst in die entsprechenden Marx-Schriften vertieft. Dieses Kapitel sollte gerade marxistischen und marx-neugierigen Lesern zur aufmerksamen Lektüre anempfohlen werden. Groschopp bilanziert mit Verweis auf Friedrich Engels (1820 – 1895) - Vorwort zur Schrift „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“: „Von einer solchen Haltung sollten auch die Konzeptionen vom Humanismus in der DDR und die Versuche ihrer Umsetzung beurteilt werden.“ (S. 513)

Wie humanistisch war denn nun die DDR?

Groschopp erteilt zunächst eine andere, sehr richtige Antwort:

„Sich historisch dem Humanismus-Verständnis der DDR zu nähern, wendet sich gegen eine Erinnerungskultur, wie sie in den ersten zwanzig Jahren nach dem Ende dieses Staates gepflegt wurde. Verlautbarungen von Politikern, in wissenschaftlichen Texten, Fernsehdokumentationen und Spielfilmen unterstützten Zuspitzungen totalitarismustheoretische Argumente. All dies erzeugte ein öffentliches Bild von der DDR, das diese vor allem als ein Kontinuum deutscher Diktaturen, als Terrorherrschaft, 'Unrechtsstaat' sieht. Es ging um eine möglichst vollständige Delegitimierung dieses Staates... (…) Diese Vorgänge behinderten Entideologisierung, Differenzierung, Multiperspektivität und Pluralismus...“ (S. 515)

Groschopp hat zum DDR-Humanismus eine Vielzahl von Befunden und Fragen notiert, die jede für sich Ausgangspunkt für weitere Forschungen sein können. U.a. schreibt er: „Die DDR war durchaus ein humanistisches Land – trotz allem, gemessen an den Zuständen der Welt, mit all den gemachten und noch folgenden Einschränkungen. 'Land' ist nicht nur der Staat DDR, sondern das sind die Menschen in deren Gesellschaft. Wer will behaupten, sie seien – große Teile davon oder sogar eine Mehrheit – nicht humanistisch gewesen? Was waren sie dann? Es ist doch nicht zu übersehen, daß sich das Gros der Bevölkerung in seinem Leben weltlich (säkular) orientierte. Die Menschen achteten in der Regel ihre eigene Individualität wie die von anderen. (…) In ihrer Gesellschaft hatten sie Formen der Solidarität ausgebildet und wollten diese ausbauen. Rassismus wurde unterdrückt. Wissenschaft besaß einen hohen Stellenwert. Sie lebten in keiner idealen Welt... (…) Da die Menschen in ihrer Mehrheit  nicht christlich, nicht anders religiös, nicht plump atheistisch waren und offen antihumanistische Orientierungen eher selten vorkamen, und da sie nicht als 'wertelos' gelten können, liegt das soeben getroffene Urteil nahe. (…) Der Begriff Humanismus war allgemein üblich. Was dazu gesagt wurde, öffentlich zugänglich. Humanismus wurde in der entsprechenden Schulliteratur wie in den wissenschaftlichen Schriften immer mehr historisch richtig, nach dem jeweiligen Wissensstand abgeleitet und gesellschaftlich vielgestaltig verwendet, um alltägliche wie weltweite Vorgänge und Epochen zu bewerten. (…) Als Weltanschauung war Humanismus vielleicht prägender als bisher angenommen, weil Menschen als solche – nicht als Ebenbilder eines Gottes oder eines Prinzips – in den Mittelpunkt der Debatten gerieten und ihr Tun und Lassen nach Gradmessern eingeschätzt wurde, die anerkanntermaßen selbst von Menschen gemacht wurden.“ (S. 529/530)

Dem ist nichts hinzuzufügen!

Horst Groschopps Buch ist auch deshalb so wertvoll und notwendig, weil in bundesdeutschen Publikationen über den Humanismus die DDR in der Regel nicht vorkommt. Selbst wenn es sich bei deren Autoren um renommierte Menschen aus dem säkularen Humanismus handelt. Insofern kommt dem von Groschopp gewählten Untertitel „Ein Beitrag zur deutschen Kulturgeschichte“ bewusst eine besondere Bedeutung zu.

Siegfried R. Krebs

Horst Groschopp: Der ganze Mensch. Die DDR und der Humanismus – Ein Beitrag zur deutschen Kulturgeschichte. 560 S. Paperback. Tectum-Verlag. Marburg 2013. 29,95 Euro. ISBN 978-3-8288-3163-6