"Ich war kein richtiger Junge mehr"

Ich war kein richtiger Junge mehr

Erfahrungsbericht eines Betroffenen, Oktober 2013

Die Beschneidung

Ich wurde Anfang der neunziger Jahre im Alter von etwa 8 Jahren beschnitten. Der Grund dafür war, dass sich meine Vorhaut nicht problemlos zurückziehen ließ und es beim Urinieren schmerzte. Also fuhren meine Eltern zusammen mit mir und auch meiner Schwester zum Urologen. Dort wurde ich auf eine Liege gelegt und der Arzt untersuchte mich, während meine Familie daneben stand und zusah. Diese Situation empfand ich als peinlich und erniedrigend, aber anscheinend machte man sich keine Gedanken um meine Gefühle. Bereits nach kurzer Zeit stand das Ergebnis der Untersuchung fest: Ich müsse beschnitten werden.

Meine Eltern hatten zwar bereits von der Vorhautbeschneidung gehört, wussten aber nicht, was dabei genau gemacht wird. Aber der Arzt konnte meine Eltern beruhigen, indem er sagte, es sei nur ein kleiner Schnitt und dann wäre ich die Probleme für immer los. Mehr erfuhren meine Eltern nicht. Weder wurden sie darüber aufgeklärt, welche Alternativen es zur Beschneidung gibt, noch wurde ihnen erklärt, was überhaupt alles weggeschnitten wird und welche Auswirkungen dies haben würde.

Da es keine große Sache zu sein schien, vereinbarten meine Eltern einen Termin und wir fuhren ein paar Tage später ins Krankenhaus. Dort wurde ich "nach den Regeln der ärztlichen Kunst", also unter Vollnarkose und zusätzlicher örtlicher Betäubung radikal beschnitten, das heißt die gesamte Vorhaut wurde entfernt. Die Operation verlief wie geplant und es gab keinerlei Komplikationen. Als ich im Krankenhaus aus der Narkose aufwachte, machte ich mir noch keine Gedanken, denn es war mir ja gesagt worden, dass es nur ein kleiner Schnitt sei. Noch am selben Tag konnten wir wieder nach Hause fahren. Doch bereits auf dem Weg ließ die Betäubung nach und es kamen die Schmerzen. Es fing an fürchterlich zu brennen und bei jeder Bewegung durchzuckte mich ein stechender Schmerz. Zuhause konnte ich dann einen Blick auf das Ergebnis der Beschneidung werfen, denn ich hatte keinen Verband, sondern nur eine Art Lendenschurz aus Verbandsmaterial um. Der erste Blick war ein Schock für mich, es sah einfach schrecklich aus. Die Eichel war knallrot gefärbt und darunter befand sich die geschwollene und blau angelaufene Wunde mit dunkelroten Wundrändern, die von dunkelblauen Fäden zusammengehalten wurden. Was hatte dieser "kleine Schnitt" dort angerichtet? Darauf war ich nicht vorbereitet, weil mir niemand gesagt hatte, was alles weggeschnitten werden sollte. Auch meine Eltern waren überrascht darüber, dass so viel abgeschnitten worden war.

In den Tagen nach der Operation hatte ich starke Schmerzen. Zum einen schmerzte die noch frische Wunde und dazu kam der Schmerz, der dadurch verursacht wurde, dass die nun ungeschützte Eichel ständig am Verbandstuch rieb. Besonders schlimm war es beim Urinieren, da es fürchterlich brannte und ich es deshalb nur tröpfchenweise laufen lassen konnte. Meine Mutter rührte mir dann regelmäßig eine lauwarme Flüssigkeit an, in die ich meinen Penis tauchen musste. Ich wusste nicht für was das gut sein sollte, denn die Schmerzen linderte sie nicht. Der Geruch dieser Flüssigkeit hat sich so in mein Gedächtnis eingebrannt, dass ich mich auch heute noch gut daran erinnern kann. Während der Heilungsphase konnte ich keine Hosen anziehen und selbst das Zudecken im Bett war ohne Schmerzen nicht möglich. Allerdings war das nicht mein größtes Problem. Viel schlimmer waren für mich die psychischen Auswirkungen. Ich fühlte mich verstümmelt und unvollständig. Ich war der Meinung, kein richtiger Junge mehr zu sein, weil mir etwas vom Penis weggeschnitten wurde und ich keinen vollständigen Körper mehr hatte. Konnte man das, was übrig war überhaupt noch „Penis“ nennen? Zu einem Penis gehört doch auch die Vorhaut. Mehrfach fragte ich meine Mutter, ob es wieder nachwachsen würde, was mir weggeschnitten wurde, aber ich bekam nie eine konkrete Antwort.

In der Schule

Es dauerte mehrere Tage, bis ich wieder zur Schule gehen konnte. Meine Mitschüler fragten mich, warum ich so lange nicht in der Schule war und ob ich krank war, doch ich gab ihnen keine Antwort. Es war mir nicht einfach nur zu peinlich, sondern ich hatte solche Hemmungen, dass ich nicht einmal ein einziges Wort darüber herausbrachte. Das übernahm dann meine Lehrerin, die von meiner Beschneidung wusste. Gleich in der ersten Stunde sprach sie das Thema an. Sie erzählte den Schülern, was bei einer Beschneidung gemacht wird und sagte, dass es überhaupt nicht schlimm sei. Ich fühlte mich entblößt und verraten, doch auch hier schien sich niemand für meine Gefühle zu interessieren.

Natürlich war die Absicht meiner Lehrerin gut gemeint, aber sie sorgte dafür, dass ich zwar im Mittelpunkt des Gesprächs stand, mich dabei jedoch nur als Außenseiter fühlte. Ein Außenseiter, der ich bis zum Ende der Grundschule und auch darüber hinaus blieb, denn ich fing an, mich von meinen Klassenkameraden abzuschotten. Schließlich wusste jetzt die ganze Klasse, dass man mich verstümmelt hatte und ich kein richtiger Junge mehr war. Mein ohnehin schon schwach ausgeprägtes Selbstvertrauen wurde dadurch stark beschädigt. Von nun an fühlte ich mich in der Schule unwohl und hatte häufig Bauchschmerzen. Besonders schlimm war es an Tagen, an denen wir Sportunterricht hatten. Zwar waren wir in der Umkleidekabine nie vollständig nackt und ließen immer unsere Unterhosen an, aber selbst diese Situation machte mir Angst. Es hätte schließlich sein können, dass mir jemand die Hose runterzog und man mich verspottete.

Nach der Grundschule kam ich aufs Gymnasium – es war eine reine Jungenschule. Da ich immer noch das Gefühl hatte, kein richtiger Junge zu sein, fühlte ich mich dort von Anfang an fehl am Platz. Dieser Umstand in Verbindung mit meinem geringen Selbstvertrauen sorgte dafür, dass ich kaum Freundschaften knüpfte und mich von meinen Mitschülern isolierte.

Im zweiten Jahr an dieser Schule bekamen wir Schwimmunterricht. Im Schwimmbad gab es für alle Schüler nur einen großen Umkleideraum. Die anderen Jungen hatten anscheinend keine Probleme damit, sich vor den Augen der Anderen auszuziehen, und liefen dort freizügig herum. Mit einem Gefühl von Neid musste ich mir ansehen, dass sie über einen vollständigen Körper verfügten und noch hatten, was mir genommen wurde. Es gab mir das unerträgliche Gefühl, minderwertig zu sein und ich schämte mich für meinen unvollständigen Körper. Also durfte niemand meinen verstümmelten Penis sehen und herausfinden, dass ich kein richtiger Junge war. Zudem war es mir unheimlich peinlich, dass meine Eichel vollkommen entblößt war und man die wohl intimste Stelle meines Körpers sehen konnte. In beinahe panischer Angst suchte ich mir die unauffälligste Ecke und wartete mit dem Umziehen, bis die meisten Klassenkameraden fertig waren und ich mich unbeobachtet fühlte.

Eine Zeit lang funktionierte diese Taktik, doch an einem Tag sprach mich ein Klassenkamerad auf mein Verhalten an. Er erkannte, dass ich mich schämte, mich nackt zu zeigen, sprach mir Mut zu und wartete darauf, dass ich mich unter rasendem Herzklopfen vor seinen Augen umzog. Als er dann sah, dass ich beschnitten war, hörte er plötzlich auf zu sprechen und starrte mich mit einem mitleidigen Blick an. Ich drehte mich um und zog mich schnell weiter um. Es war mir total peinlich, dass er mich so sah und ich fühlte mich nicht nur körperlich entblößt. Mehr noch, ich hatte in diesem Moment die Kontrolle darüber verloren, zu bestimmen, ob jemand von meiner Beschneidung erfuhr. Ich weiß bis heute nicht, ob er es für sich behielt oder in der Klasse weitererzählte. Diese Unsicherheit sorgte dafür, dass ich meinen Mitschülern misstraute und mich sogar ein wenig von ihnen bedroht fühlte.

Die gesamte Situation an dieser Schule bereitete mir zunehmend großen Stress und ich bekam immer häufiger Kopfschmerzen. Meine Fehlzeiten nahmen zu und meine Schulnoten wurden immer schlechter. Nachdem nach mehreren Arztbesuchen keine Lösung für dieses Problem gefunden wurde, schickte man mich zum Schulpsychologen, der die Ursache für meine Probleme herausfinden sollte. Auch nach mehreren Terminen konnte ich ihm nicht von meinen wirklichen Problemen erzählen. Ich redete mit niemandem darüber und auch meine Eltern ahnten während meiner Schulzeit nichts über meine Probleme mit der Beschneidung. Irgendwann konnte ich aufgrund meiner hohen Fehlzeiten nicht mehr auf dieser Schule bleiben.

Ich kam vom Gymnasium in die Hauptschule, wo sich meine Situation wieder einigermaßen besserte. Niemand wusste von meiner Verstümmelung und dass ich kein richtiger Junge mehr war. Es gab nur wenige Situationen, in denen ich aufpassen musste, dass mich niemand nackt sah oder auf andere Weise von meiner Beschneidung erfuhr.

Im Religionsunterricht gab es die Situation, in der über Religionen gesprochen wurde, in denen die Jungen beschnitten werden. Mir war das Thema sehr peinlich und ich hoffte, dass es niemand bemerken würde und so herausfinden könnte, dass ich selbst beschnitten war. Ich befürchtete, der Lehrer könnte fragen, wer von uns beschnitten sei, aber das blieb zum Glück aus. Was mir allerdings auffiel war, wie harmlos und selbstverständlich das Thema dargestellt wurde. Ich hatte ganz andere Erfahrungen gemacht, aber es war mir viel zu peinlich, darüber zu sprechen.

Ansonsten hatte ich während der Schulzeit Angst vor mehrtägigen Klassenfahrten, weil hier das Risiko bestand, dass mich jemand beim Duschen sah. Ich ging deshalb nur selten unter die Dusche und achtete genau darauf, dass niemand in der Nähe war. Die Angst vor dem Duschen war es auch, die mich davon abhielt, in meiner Freizeit Sport zu machen. Ebenso wäre es für mich unvorstellbar gewesen, auf öffentlichen Toiletten ans Pissoir zu gehen.