Warum kluge Menschen dumme Dinge tun

Intelligenz alleine macht noch nicht rational. Rational zu denken verlangt mentale Fähigkeiten, die einige von uns nicht haben und viele nicht nutzen. Wie kann ein so kluger Mensch so dumm sein? Wir alle haben uns dies schon gefragt, nachdem wir gesehen haben, wie eine äusserst intelligente Freundin oder ein Verwandter sich wie ein Dummkopf verhalten hat.

Menschen kaufen, wenn die Preise hoch sind, und verkaufen, wenn sie tief sind. Sie glauben an ihr Horoskop. Sie können sich nicht vorstellen, dass ihnen das passieren könnte. Sie setzen alles auf Schwarz, weil Schwarz “überfällig” ist. Sie bestellen eine extragrosse Portion Pommes mit einer Cola Light. Sie benutzen das Mobiltelefon, während sie am Steuer sitzen. Sie werfen dem schlechten Geld gutes nach (throw good money after bad one). Sie wetten darauf, dass eine Finanzblase nie platzen wird.

Sie haben auch schon etwas ähnlich Dummes getan. Ebenso wie ich. Professor Keith Stanovich sollte es besser wissen, aber auch er hat schon dumme Fehler gemacht.

“Ich habe einmal 30,000$ mit einem Haus verloren” sagt er, und lacht. “Wahrscheinlich haben wir zu viel dafür bezahlt. Alle Bücher sagen dir “Verliebe dich nicht in ein Haus. Verliebe dich in vier Häuser.” Wir haben diese Regel verletzt.” Stanovich ist ausserordentlicher Professor für Entwicklungs- und Angewandte Psychologie an der Universität Toronto und erforscht Intelligenz und Rationalität. Der Grund dafür, dass kluge Menschen dumme Dinge tun, so Stanovich, ist, dass Intelligenz und Rationalität nicht dasselbe sind.

“Es gibt eine begrenzte Menge von kognitiven Fähigkeiten, die wir ausfindig machen und Intelligenz nennen. Aber das ist nicht dasselbe wie intelligentes Verhalten in der realen Welt”, erklärt Stanovich.

Er hat sogar einen Begriff kreiert, um das Unvermögen, rational zu Handeln – trotz eigentlich hinreichender Intelligenz – zu beschreiben: “Dysrationalität“.

Die Frage, wie Intelligenz definiert und gemessen werden soll, ist seit mindestens 1904 kontrovers. Damals verbreitete Charles Spearman die Vorstellung, dass ein “allgemeiner Intelligenzfaktor” die Grundlage aller kognitiven Funktionen bildet. Andere sind der Ansicht, dass sich Intelligenz aus vielen verschiedenen kognitiven Fähigkeiten zusammensetzt. Einige wollen den Intelligenzbegriff um emotionale und soziale Intelligenz erweitern.

Stanovich ist überzeugt, dass jene Intelligenz, die ein IQ-Test misst, ein sinnvolles und nützliches Konstrukt ist. Es geht ihm nicht darum, unsere Definition von Intelligenz zu erweitern, sondern er gibt sich mit der kognitiven Intelligenz zufrieden. Er vertritt aber die Auffassung, dass Intelligenz alleine kein Garant für rationales Verhalten ist.

Anfang 2010 veröffentlichte die Yale University Press Stanovichs neues Buch "What Intelligence Tests Miss: The Psychology of Rational Thought". Darin führt er eine ganze Reihe von Intelligenz unabhängiger kognitiver Fähigkeiten und Dispositionen an, die einen mindestens ebenso großen Einfluss darauf haben, ob jemand rational denkt und handelt. In anderen Worten: Man kann intelligent, aber irrational sein. Und man kann ein rationaler Denker sein, ohne über besondere Intelligenz zu verfügen.

Zeit für eine Denksportaufgabe. Versuchen Sie die folgende Frage zu beantworten, bevor Sie weiterlesen. Jack schaut Anne an, aber Anne schaut George an. Jack ist verheiratet, aber George nicht. Schaut eine verheiratete Person eine unverheiratete an?

  • Ja
  • Nein
  • Kann nicht entschieden werden

Über 80 Prozent der Menschen beantworten diese Frage falsch. Falls Ihre Antwort war, dass die Frage nicht entschieden werden kann, gehören Sie auch zu ihnen (wie ich). Die korrekte Antwort ist: Ja, eine verheiratete Person schaut eine unverheiratete an.

Die meisten glauben, dass wir zu wissen brauchen, ob Anne verheiratet ist oder nicht. Doch gehen Sie alle Möglichkeiten durch. Wenn Anne ledig ist, schaut eine verheiratete Person (Jack) eine ledige Person an (Anne). Wenn Anne verheiratet ist, schaut eine verheiratete Person (Anne) eine unverheiratete Person (George) an. In beiden Fällen ist die Antwort folglich Ja.

Die meisten Menschen verfügen über die Intelligenz, auf diese Lösung zu kommen, wenn man ihnen sagt “denk logisch” oder “geh alle Möglichkeiten durch”. Aber ohne Anstoß wenden sie nicht ihre ganzen mentalen Kapazitäten für das Problem auf.

Dies ist einer der Hauptgründe für Dysrationalität, so Stanovich. Wir alle sind “kognitive Geizhälse” (cognitive misers), die es vermeiden, zu viel zu denken. Aus einer evolutionären Perspektive macht das durchaus Sinn. Denken kostet Zeit, ist ressourcenintensiv und manchmal kontraproduktiv. Wenn es sich bei dem Problem, das gerade vorliegt, darum handelt, einem Säbelzahntiger zu entkommen, lohnt es sich nicht, mehr als einen Sekundenbruchteil für die Entscheidung zu verwenden, ob man in einen Fluss springen oder auf einen Baum klettern will.

Wir haben deshalb eine ganze Reihe von Heuristiken und Biases entwickelt, um die Menge an Hirnschmalz zu beschränken, die wir für ein Problem aufwenden. Diese Techniken führen zu raschen Antworten, die häufig richtig sind – aber nicht immer.

Zum Beispiel zeigte eine Forscherin in einem Experiment Probanden eine Schüssel, gefüllt mit mehrheitlich weissen Jelly Beans (Geleebohnen) und versprach ihnen einen Dollar, wenn es ihnen gelingt, blind eine rote Jelly Bean zu ziehen. Die Probanden konnten dabei zwischen zwei Schüsseln wählen. Die eine Schüssel enthielt neun weisse Jelly Beans und eine rote. Die andere enthielt 92 weisse und acht rote. 30 bis 40 Prozent der Testpersonen entschieden sich, aus der größeren Schüssel zu ziehen, obwohl die meisten verstanden, dass eine achtprozentige Gewinnchance schlechter ist als eine zehnprozentige. Die visuelle Verlockung der zusätzlichen roten Jelly Beans bezwang ihr Verständnis von Wahrscheinlichkeiten.

Oder gehen Sie gedanklich das folgende Problem durch. Ein Krankheitsausbruch wird voraussichtlich 600 Leute umbringen, falls nichts unternommen wird. Es gibt zwei Behandlungsmethoden. Option A wird 200 Leute retten. Option B wird mit einer Wahrscheinlichkeit von einem Drittel 600 Leute retten und mit einer Wahrscheinlichkeit von zwei Dritteln niemanden. Die meisten Menschen entscheiden sich für A. Es ist besser, wenn 200 Leute garantiert gerettet werden, als das Risiko einzugehen, dass alle sterben.

Stellt man die Frage aber wie folgt: Option A bedeutet, dass 400 Leute sterben werden. Option B lässt mit einer Wahrscheinlichkeit von einem Drittel niemanden sterben und mit einer Wahrscheinlichkeit von zwei Dritteln 600 Leute – wählen die meisten Menschen Option B. Sie riskieren, alle zu töten bzw. sterben zu lassen, um dafür die geringere Chance zu erhalten, alle zu retten.

Aus einer rationalen Perspektive ist das Problem dabei, dass die beiden Szenarien identisch sind. Der einzige Unterschied ist, dass die Frage umformuliert wird, um die 400 Toten in Option A zu betonen und nicht die 200 Geretteten. Man nennt dies den “Framing Effect”. Er zeigt, dass die Art, wie eine Frage gestellt wird, einen dramatischen Einfluss auf die Antwort hat, die wir zu geben geneigt sind, und zu widersprüchlichen Antwort führen kann.

Weiter gibt es den “Anchoring Effect”. In einem Experiment haben Forscher ein Rad gedreht, das so präpariert war, dass es entweder bei der Zahl 10 oder 65 hielt. Nachdem das Rad gestoppt hatte, fragten die Forscher ihre Probanden, ob der Anteil afrikanischer Länder in den Vereinten Nationen höher oder tiefer sei als diese Zahl. Darauf baten sie die Probanden, diesen Anteil zu schätzen. Diejenigen, die die grössere Zahl gesehen hatten, schätzten signifikant höher als jene, die die tiefere Zahl gesehen hatten. Die Zahl “verankerte” (“anchored”) ihre Antwort, obwohl sie die Zahl kognitiv für völlig beliebig und bedeutungslos hielten.

Die Liste geht weiter. Wir suchen nach Hinweisen, welche unsere Überzeugungen bestätigen und lassen jene unberücksichtigt, welche sie in Frage stellen (“Confirmation Bias”). Wir betrachten Situationen aus unserer eigenen Perspektive, ohne jene der anderen Seite zu berücksichtigen (“Myside Bias”, “Selection Bias”). Eine anschauliche, aber probabilistisch praktisch bedeutungslose Anekdote beinflusst uns stärker als hochaussagekräftige Statistiken. Wir überschätzen, wie viel wir wissen. Wir halten uns für überdurchschnittlich. Wir sind überzeugt, dass wir weniger von Biases beinflusst sind als die anderen.

Schliesslich identifiziert Stanovich eine weitere Quelle der Dysrationalität – er nennt sie “Mindware Gaps” (etwa: Verstandes- oder Wissenslücken). Unsere Mindware, erklärt er, besteht aus gelernten kognitiven Regeln, Strategien und Glaubenssystemen. Sie beinhaltet unser Verständnis von Wahrscheinlichkeiten und Statistik ebenso wie unsere Bereitschaft, alternative Hypothesen zu berücksichtigen, wenn wir versuchen, ein Problem zu lösen. Die richtige Mindware kann – im Gegensatz zur Intelligenz – besser erlernt werden. Allerdings eignen sich manche hochintelligente und gebildete Menschen nie angemessene Mindware an. Menschen können auch an “kontaminierter Mindware” leiden, etwa an Aberglauben, was zu irrationalen Entscheidungen führt.

Laut Stanovich hat Dysrationalität wichtige Auswirkungen in der Realität. Sie kann finanzielle Entscheidungen ebenso beeinflussen wie die Regierungspolitik, welche man unterstützt, und die PolitikerInnen, die man wählt, sowie allgemeiner die Fähigkeit, das Leben zu führen, das man führen will. Zum Beispiel haben Stanovich und seine Mitarbeiter herausgefunden, dass Glücksspielsüchtige in verschiedenen Rationalitätstests schlechter abschneiden als die meisten Menschen. Sie treffen impulsivere Entscheidungen, ziehen die zukünftigen Konsequenzen ihrer Handlungen weniger in Betracht und glauben häufiger and Glücks- und Pechszahlen. Auch was das Verständnis von Wahrscheinlichkeit und Statistik betrifft, schneiden sie schlecht ab. Zum Beispiel verstehen sie weniger häufig, dass, wenn fünf Münzwürfe in Folge Kopf ergeben haben, dies die Wahrscheinlichkeit für Zahl beim nächsten Wurf nicht erhöht. Ihre Dysrationalität macht sie häufig nicht nur zu schlechten Spielern, sondern auch zu Glücksspielsüchtigen – Menschen, die weiterspielen, obwohl sie sich selbst, ihre Familie und ihre Existenzgrundlage schädigen.

In seiner Forschungskarriere hat Stanovich die Pionierarbeit verfolgt, welche Daniel Kahnemann, Wirtschaftsnobelpreisträger, und sein Mitarbeiter Amos Tversky auf dem Gebiet der Heuristiken und Biases geleistet haben. Stanovich begann 1994, die Resultate von Rationalitätstests mit den Resultaten der gleichen Personen in konventionellen Intelligenztests zu vergleichen. Er fand heraus, dass sie nicht viel miteinander zu tun haben. Bei einigen Aufgaben sind rationales Denken und Intelligenz fast vollständig unabhängig voneinander.

Zum Beispiel könnten Sie viel rationaler denken als jemand, der viel klüger ist als sie. Ebenso hat eine Person mit Dysrationalität mit fast der gleichen Wahrscheinlichkeit eine überdurchschnittliche wie einen unterdurchschnittliche Intelligenz.

Um zu verstehen, woher die Rationalitätsunterschiede zwischen verschieden Personen kommen, empfiehlt Stanovich, sich den Verstand dreigeteilt zu denken. Erstens gibt des den autonomen Verstand, welcher problematische kognitive Abkürzungen verwendet. Stanovich nennt das “Typ-1-Verarbeitung”. Sie geschieht schnell, automatisch und ohne bewusste Kontrolle.

Der zweite Teil ist der algorithmische Verstand. Dieser beschäfigt sich mit Typ-2-Verarbeitung, also dem langsamen, mühsamen, “logischen” Denken, welches Intelligenztests messen.

Der dritte Teil ist der reflektive Verstand. Er entscheidet, wann die Urteile des autonomen Verstandes genügen und wann die schwere Maschinerie des algorithmischen Verstandes zu Rate gezogen werden soll. Der reflektive Verstand scheint entscheidend dafür zu sein, wie rational jemand ist. Der algorithmische Verstand kann sich in voller Gefechtsbereitschaft befinden, er kann Ihnen aber nicht helfen, wenn Sie ihn nicht richtig in Anspruch nehmen.

Wann und wie der reflektive Verstand aktiv wird, hängt mit mehreren Persönlichkeitsmerkmalen zusammen, etwa ob jemand dogmatisch, flexibel, aufgeschlossen oder gewissenhaft ist oder mit Ambiguitäten umgehen kann.

“Die inflexible Person zum Beispiel hat Mühe, neues Wissen zu assimilieren”, führt Stanovich aus. “Personen mit einem starken Bedürfnis, Dinge zu einem Abschluss zu bringen, legen die Arbeit bei der erstbesten Lösung nieder. Eine bessere Lösung zu finden, würde mehr kognitive Anstrengung erfordern.”

Zum Glück kann rationales Denken gelehrt und gelernt werden. Stanovich denkt, das Schulsystem sollte viel mehr Gewicht darauf legen. Die Grundlagen des statistischen und wissenschaftlichen Denkens zu vermitteln, hilft. Gleiches gilt für allgemeinere Denkstrategien. Studien zeigen, dass eine gute Methode zur Verbesserung des kritischen Denkens darin besteht, sich jeweils systematisch das Gegenteil vorzustellen (think the opposite). Ist dies einmal zur Gewohnheit geworden, hilft es nicht nur, alternative (bzw. alle jeweils möglichen) Hypothesen zu berücksichtigen, sondern auch bei der Vermeidung des Anchoring Bias, des Confirmation Bias sowie des Myside Bias.

Stanovich spricht sich dafür aus, dass Psychologen Tests zur Ermittlung eines Rationalitätsquotienten (RQ) entwickeln, welche dann IQ-Tests ergänzen können. “Ich bin nicht notwendigerweise dafür, jedem und jeder Tests aufzuzwingen”, sagt er. “Aber wenn man kognitive Funktionen schon testet, warum soll man sich dann auf einen IQ-Test beschränken, welcher nur einen bestimmten Bereich der kognitiven Funktion misst?”

Aus dem Englischen von Adrian Hutter für die gbs Schweiz

Das englische Original des Artikel findet sich auf utoronto.ca