"Der Begriff christliche Leitkultur ist falsch"

(hpd) Als Historiker befasst sich Rolf Bergmeier mit dem Übergang von der Antike zum Mittelalter und insbesondere mit der Rolle des Christentums. In seinem neuen Buch stellt er die Vorstellung einer "christlich-abendländischen Kultur" in Frage.

Angesichts der anhaltenden Debatte über "Leitkultur" und "Identität" hat das Thema sogar politische Bedeutung. Der hpd sprach mit dem Autor über Klöster und Bibliotheken, Kirchenväter und Kalifen und die Grundlagen Europas.

 

hpd: Die Grundthese ihres letzten Buches, „Schatten über Europa“ war, dass das Christentum ganz wesentlich den Untergang der antiken Kultur mit herbeigeführt hat. Wie lässt sich die Kernaussage ihres neuen Werkes „Christlich-abendländische Kultur“ in wenigen Sätzen zusammenfassen?

Rolf Bergmeier: "Schatten über Europa" beschreibt, wie das Christentum mit seiner dramatisch überhöhten Jenseits-, Sünden- und Sühnebetonung der irdisches Glück suchenden griechisch-römischen Kultur das Wasser abgräbt. In "Christlich-abendländische Kultur" wird die christliche Nachfolgekultur ("Klosterkultur") mit der antiken und der arabischen Parallelkultur ("Kalifenkultur") verglichen und bewertet.

Der Vergleich endet um 1300, da ab diesem Zeitpunkt der bisher alles bestimmende Klerikalismus durch neue Ereignisse – die Renaissance, die Gründung von Universitäten, das aufkommende Bürgerbewusstsein – beeinflusst wird. Für diese tausend Jahre Papstkirche sind euphorische Äußerungen zur Einmaligkeit der christlichen Kultur unangebracht. Denn die Klosterkultur kann als reine Kirchenkultur der vielfältigen antiken und arabischen Kultur nicht das Wasser reichen. Dies lässt sich auf allen gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und künstlerischen Gebieten nachweisen. Schlimmer noch: Im Gefolge der Missachtung diesseitigen Glücks und wirtschaftlicher Bemühungen tritt in Mitteleuropa eine Verelendung der Gesellschaft ein, so dass die Epoche bis zur Renaissance zu Recht das Prädikat "finster" erhält.

 

Wenn es, wie der Untertitel ihres Buches nahelegt, eine „Legende“ ist, dass die abendländische Kultur auf einem christlichen Fundament steht, worauf basiert sie dann?

Europa wird dreimal geboren. Ein erstes Mal entsteht Europa, als im klassischen Athen das Wort des Bürgers und die Sprache der Vernunft an die Stelle der Sprüche von Orakeln und Wahrsagern gesetzt werden. Seither umweht uns täglich der Duft der Antike und der Geist der Kritik. Europa entsteht ein zweites Mal, als eine überlegene arabische Kultur ab dem 11. Jahrhundert Mitteleuropa befruchtet und damit die Renaissance einläutet.

Auf Zehenspitzen schleicht sich die arabische Bildung von Toledo, Sizilien und Süditalien nach Mitteleuropa und die Übersetzerschulen stehen vor der Aufgabe, arabische Wörter ins Lateinische zu übertragen, für die im Lateinischen kein Äquivalent existiert. Ob Admiral oder Korvette, Aprikose oder Artischocke, Café oder Chemie, Gamasche oder Gazelle, Giraffe oder Gitarre, Jacke oder Karaffe, Koffer oder Kümmel, überall klingt es in uns arabisch. Und ein drittes Mal wird Europa geboren, als sich in humanistischer Empörung über den feudalistischen Dünkel einer kirchlich-weltlichen Elite eine philosophische Gegenwelt bildet und in Paris die fortschrittlichsten Denker Europas dafür sorgen, dass Anathema und Kirchenbann einem neuen Selbstbewusstsein des Bürgers weichen müssen.

Die Aufklärung, der Höhepunkt europäischer Geistesgeschichte, leitet die Geburt der Revolutionen für mehr Freiheit und Menschenrechte ein. Wichtig ist jetzt nicht mehr die Frage, was Gott gefallen könne, sondern wo er ist. Sie werden fragen, wo wir in diesem Kulturszenario die "christlich-abendländische Kultur" finden. Nun, zunächst weit jenseits griechischer Philosophie, römischer Ingenieurkunst, indischer Mathematik und arabischer Wissenschaft. Viele weitere Leistungen prägen das "Abendland" und sind mitnichten "christlich". Grundsätzlich ist "Kultur" kein Kernthema des Christentums. Und es war nie Ziel der Klöster, Kultur zu vermitteln.

Ziel des hochgeachteten Benedikts und das aller Benediktiner und Zisterzienser war nicht Bildung oder Kultur, nicht Wissenschaftlichkeit oder Gelehrsamkeit, sondern die kompromisslose Hinwendung zu Gott. Benedikts noch heute gültige Werte sind Gebet, Buße, Gehorsam, Schweigsamkeit, Demut. Und dies sind wahrlich keine demokratischen Tugenden.

 

Den Hauptteil Ihres Buches bildet ein Kulturvergleich zwischen dem christlichen Mitteleuropa und der islamischen iberischen Halbinsel. Zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen?

Wie schon gesagt ist die arabisch-islamische Kultur der christlichen Klosterkultur weit überlegen. Die Höfe der Kalifen sind Horte sagenhafter Schätze, Schauplätze unvorstellbaren Luxus, Zentren hochentwickelter Wissenschaften und Werkstätten hoher Handwerkskunst. Während das lateinsprachige Europa von "Halbwildnis", wie Ernst Bloch schrieb, regiert wird, tobt im arabischen Großreich der Kampf um die besten Köpfe.

Diese Diskrepanz zwischen Nord und Süd hat Folgen, die ich am arabischen Schulsystem und an der medizinischen Versorgung kurz und beispielhaft illustrieren möchte. Der Islam ist eine Buchreligion und da er nicht über eine Priesterkaste verfügt, muss jeder Gläubige lesen können, um den Worten des Korans folgen zu können. Daher lässt sich das islamisch-arabische Schulsystem hinsichtlich des thematisch breiten Lehrangebotes und des hohen Verbreitungsgrades mit dem römischen vergleichen, wenngleich die theologische Komponente im arabischen System deutlich stärker ausgeprägt ist.

Dagegen gibt es im christlichen Mittelalter bis zur Renaissance keinerlei Bemühungen, dem "Volk" Lesen, Schreiben oder Rechnen beizubringen. Es reicht, wenn die Priester als Mittler lesen können. Das "Volk" muss zuhören und den Bilderbibeln folgen können. Daher sind die Bildungsbemühungen, auch die Karls des Großen, darauf ausgerichtet, dem Klerus das Lesen der "heiligen" Schriften zu ermöglichen. Öffentliche Schulen gibt es nicht, alle Schulen sind Klosterschulen, die als "innere" Schulen ausschließlich angehenden Mönchen zur Verfügung stehen.

In den wenigen "äußeren" Klosterschulen werden auch Externe, meist adliger Abkunft, unterrichtet, aber natürlich im Stile der Kirchenlehre. Selbst Kaiser können oftmals nicht lesen, weswegen das mittelalterliche Volk meint, sie seien "gekrönte Esel".

Ein ähnliches Missverhältnis beobachten wir in der Medizin. Im Kalifenreich ist das Medizinalsystem hoch entwickelt. Ärzte versuchen mit Hilfe von Luftröhrenschnitten Kranken Heilung zu bringen, die Diagnose und Therapie von Hautkrankheiten, wie Pocken, Krätze und Geschwüren sind hoch entwickelt, ebenso die Arzneimittelkunde. Krankenhäuser mit verschiedenen, nach Fachrichtungen geordneten Stationen gibt es in jeder größeren Stadt. Bei Operationen wird mit Opium oder einem Schwamm, der mit einer Mixtur aus Haschisch und Bilsenkraut getränkt ist, eine Art Narkose herbeigeführt. Parallel zu den öffentlichen Krankenhäusern entstehen Apotheken. Die Apotheker stehen unter staatlicher Aufsicht und versorgen die Bevölkerung mit Arzneimitteln. Im christlichen Mitteleuropa sind dagegen das Alte Testament und die Lehren der Kirchenväter Ausgangspunkt der Medizin. Krankheiten werden als von Gott gesandt betrachtet und die Heilkunde als eine verwerfliche Tätigkeit bewertet, da sie in Gottes Heilsplan eingreife. Am besten werde man durch Buße und Anrufung der Heiligen geheilt. Medizinische Forschung ist überflüssig, einen menschlichen Körper zu anatomischen Zwecken zu öffnen, gilt als ungehörig. Dieser Mangel an medizinischer Forschung und die wissenschaftsferne Orientierung erlauben lediglich eine primitive ärztliche Praxis am Rande von Klöstern und Kathedralen, die zu einer Inflation an Wallfahrten als Heilmittel für Krankheiten und zu einer ausufernden Zahl von Schutzheiligen führt, die man für die Heilung bestimmter Leiden verantwortlich macht.

Kurzum: Verglichen mit der antiken und arabischen Kultur präsentiert sich die christliche auf allen nichtkirchlichen Territorien auf einem erbärmlich niedrigen Niveau. Gott wird für alles verantwortlich macht, von Blitz und Donner bis zur Krätze.