Die unerkannten Leiden des Gorillajungen Pongo

(hpd) Mustafa Haikal recherchierte erstmals genau das Schicksal des ersten nach Berlin gebrachten Gorillas für ein eindrucksvoll erzähltes und mit viel Bildmaterial ausgestattetes Buch: "Master Pongo. Ein Gorilla erobert Europa".

Pongo, das Menschenaffenkind, überlebte hier weniger als eineinhalb Jahre. Kein Wunder in einer Zeit, in der Veröffentlichungen über die Heilkunde von Menschenaffen nur aus Sektionsprotokollen bestanden.

Das Foto ist nicht größer als eine Zigarettenschachtel, erfahren wir von Mustafa Haikal. Darauf, zusammengekauert, ein kleiner Gorilla, an einen Pfosten gelehnt, die Augen geschlossen. Der Leipziger Historiker und Journalist stieß auf das Lichtbild im Leibniz-Institut für Länderkunde in einem Schaukasten. Es bildet das Zentrum eines Blattes aus dem Album des Geografen und Zoologen Eduard Pechuël-Loesche. Umgeben ist es links und rechts von insgesamt vier Portraits von Bewohnern der Küstenregion von Luango, im heutigen Zaire. Aufgenommen wurde es noch in Afrika.

Ein Menschenaffenkind eingerahmt von den Abbildungen von vier Afrikanern, diese Zusammenstellung ist bezeichnend. Die deutsche Afrika-Expedition in den Jahren 1875/1876 wurde organisiert von Adolf Bastian, dem Vorsitzenden der Berliner Gesellschaft für Erdkunde. Der hatte zwei Jahre zuvor das Königliche Museum für Völkerkunde und zusammen mit Rudolf Virchow und Carl Voigt die Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte gegründet.

Nun sollten Julius Falkenstein und seine vier Expeditionskollegen, darunter Pechuël-Loesche, möglichst viele Tiere lebend mit nach Hause bringen und vor allem einen Gorilla. Dieses Vorhaben wäre fast gescheitert, hätte nicht am Ende zufällig ein portugiesischer Siedler Falkenstein Pongo geschenkt, ein etwa eineinhalbjährige Gorillakind, das schon eine Zeit lang bei ihm im Haushalt lebte.

Es war damals nicht einmal 30 Jahre her, dass der Gorilla von dem Missionar, Arzt und Naturforscher Thomas Staughton Savage und dem Harvard-Anatom Jeffries Wymann anhand von Schädelknochen als Art wissenschaftlich klassifiziert worden war, und nur 16 Jahre, dass Charles Darwin in "Der Ursprung der Arten" seine Evolutionstheorie veröffentlicht hatte. Bis dahin hatte Europa noch keinen als solchen erkannten Gorilla lebend gesehen. Es waren nur in Weingeist eingelegte Kadaver und Skelette nach Europa gelangt. Englische Kapitäne wetteiferten bald, möglichst viele davon nach Europa zu bringen. Der Dinosaurier- und Menschenaffenforscher und Darwin-Gegner Richard Owen und Isidore Geoffroy Saint-Hillaire vom Pariser Naturkundemuseum hatten sie langwierig und sorgfältig untersucht - und kamen zu spät.

Die Neugier auf einen, so ließen Jagdberichte erwarten, monströsen gefährlichen Verwandten, gleichwohl irgendwie ein Vetter der Menschen, war indessen riesengroß. Etwa ein Dutzend Versuche, sie zu befriedigen, waren gescheitert, die Tiere starben auf der Überfahrt. Der letzte noch im Hafen von Le Havre. Die einzige Gorilla-Dame, Jenny, die schon 1855 in Liverpool in einer Wandermenagerie, in Mädchenkleiden zur Schau gestellt, tatsächlich sieben Monate überlebt hatte, hielt man seinerzeit für eine Schimpansin.

Pongo, eigentlich M´Pungu, was soviel wie "Teufel" heißt, war ein wenig mehr Glück beschieden, obwohl er schon im afrikanischen Expeditionscamp kränkelte. Er litt an einer Erkältung. Falkenstein bangte nicht nur um den Erfolg seiner Expedition, er sorgte sich um ihn wie um ein Kind. Er ernährte ihn mit Früchten und Ziegenmilch. Nachts nahm er das vom Fieber geschüttelte Wesen zwölf Tage zu sich ins Bett, um es zu wärmen.

Während der Überfahrt turnte M´Pungu tagsüber auf dem Deck herum, speiste mit der Offiziersmannschaft beim Kapitän und schlief mit Falkenstein in der Kabine. In Liverpool angekommen logiert er mit Falkenstein im Hotel.

Wissenschaftler kamen ihn zu bestaunen, Darwin schickte eine Grußbotschaft. In Hamburg wollte Falkenstein seinen Schützling erst gar nicht wieder hergeben. Doch M´Pungu gehörte der Deutschen Gesellschaft zur Erkundung Äquatorial-Afrikas.

Ein Vormund aus fünf Wissenschaftlern und Ärzten, darunter Falkenstein und Virchow, wurde gebildet. Schließlich erwarb ihn für 20.000 Reichsmark, eine Summe, für die man damals eine Villa kaufen konnte, Otto Hermes, der Leiter des von Alfred Brehm gegründeten Berliner Aquariums Unter den Linden, in dem Tiere erstmals in Erlebnislandschaften, wie wir heute sagen würden, präsentiert wurden. M´Pungu wurde dort ein Käfig wie eine Wohnstube eingerichtet. Mit Sofa und Stühlen und einer Leiter. Er bekam die Gesellschaft von zwei Schimpansinnen und einem Hund, speiste mit seinem Pfleger zum Frühstück Würstchen mit Bier, zum Mittag Braten mit Gemüse und zum Abendessen Butterbrot. Täglich acht Stunden durften die Besucher ihn betrachten, und sie kamen in Scharen. 300.000 wurden Ende das Jahres 1876 gezählt. Und noch am Abend, wenn er in Hermes´ Wohnung gebracht wurde, bildeten sich Unter den Linden, Ecke Schadowstraße, Verkehrsstaus, wenn der kleine Gorilla am Fenster zu sehen war, wie er vor dem Schlafengehen an den Gardinen herumturnte.

Doch M´Pungu begann wieder zu kränkeln, litt an einer Luftröhrenentzündung. Er wurde abermals aufgepäppelt, bekam dann eine Darmerkrankung und wurde daraufhin trotzdem von Juli bis September 1877 an das Londoner Royal Aquarium ausgeliehen, eher ein Veranstaltungsetablissement, wo Feste und Konzerte veranstaltet werden. Englische, amerikanische und australische Zeitungen berichteten über ihn. Diesmal kam Richard Owen persönlich, M´Pungu zu besichtigen und zu vermessen. Darwin blieb aus und schwieg...

Alle waren von M´Pungus zartem Wesen gerührt. Wie krank er war, merkte man erst, als es zu spät war. Am 13. November 1877 ist der sanfte, anhängliche M´Pungu "nach plötzlichem Todesröcheln und lautem Aufschrei gestorben". Erst glaubte man, an einer Darmentzündung. Eine Obduktion brachte eine Stecknadel und einen Knopf im Blinddarm ans Licht. Später diagnostizierte man Tuberkulose. Die für Vegetarier, wie es die Gorillas sind, völlig ungeeignete Ernährung in Berlin wird ihr übriges getan haben. Sein Skelett wird bis heute im Berliner Naturkundemuseum aufbewahrt.

1881 schreibt einzig ein unbekannter Autor in der Zeitschrift "Der Tiergarten": "Es muss den Thierfreund mit Schmerz erfüllen, wenn er sieht, wie alljährlich mit schweren Opfern und unter Aufwendung ungeheurer Geldkosten auf´s Neue Exemplare der anthropomorphen Affen nach dem Norden geschleppt werden, die hier wohl noch niemals lange am Leben geblieben sind. Man weiht diese Tiere also durch Überführung wissentlich dem Untergange, und es wird selbst dadurch daran Nichts geändert, daß man jedes Mal von Neuem behauptet: nun seien die Bedingungen gefunden und vorhanden, die nöthig wären, um ihm das Leben hier zu erhalten´."

Simone Guski

Mustafa Haikal: "Master Pongo. Ein Gorilla erobert Europa". 2013 Berlin TRANSIT Verlag, 128 S. 16,80 Euro