Wie man einen Amoklauf verhindert

Chemische Reinigung

Ein Kritikpunkt an Weihnachten ist der Konsumrausch, in den nicht nur die westliche Gesellschaft kollektiv verfällt. Diese Kritik ist nicht nur ein Symptom einer saturierten Wohlstandsgesellschaft, in der einzelne gut Situierte dem Rest Verzicht predigen – ein klassisch christlicher Topos übrigens.

Wer genau hinsieht, wird gerade im Zwang zum Schenken und der weihnachtlichen Zwangsharmonie Phänomene sehen, die die soziale Ungerechtigkeit einer Gesellschaft auf die Spitze treiben. Ein früher Beobachter dieses Symptoms war Erich Kästner. Er schrieb 1928 mit "Weihnachtslied chemisch gereinigt" einen alternativen Text zu "Morgen, Kinder wird's was geben", einem weiteren Lied, das Amokläufe zu provozieren geeignet ist:

Morgen, Kinder, wird's nichts geben!

Nur wer hat, kriegt noch geschenkt.

Mutter schenkte Euch das Leben.

Das genügt, wenn man's bedenkt.
Einmal kommt auch Eure Zeit.

Morgen ist's noch nicht so weit.

 

Sympathisch an dieser Interpretation ist, dass sie so falsch gesungen ist wie meist aus Kinderkehlen unterm Christbaum.

Ein vergessenes Juwel

Eher vergessen ist eines der Lieder, das die gesellschaftlichen Umstände anprangert, die die sozialen Ungleichheiten erst erzeugen. Die "Arbeiter-Stille-Nacht", auch bekannt als "Stille Nacht, traurige Nacht", entstand nach 1890 und kann als Mutter der kritischen Weihnachtslieder gesehen werden.

Es zu singen war nicht ungefährlich. Im Deutschen Kaiserreich, und vermutlich auch in Österreich, wurde es immer wieder verboten.

Stille Nacht, traurige Nacht,
rings umher Lichterpracht!

In der Hütte nur Elend und Not,

kalt und öde, kein Licht und kein Brot,

schläft die Armut auf Stroh,

schläft die Armut auf Stroh.

Stille Nacht, traurige Nacht,
hast du Brot mitgebracht,

fragen hungrige Kinderlein.

Seufzend spricht der Vater: Nein.

Bin noch arbeitslos,

bin noch arbeitslos.

Stille Nacht, traurige Nacht,
drunten tief in dem Schacht

schlagen Wetter, welch' gräßliche Fron!

Gräbt der Bergmann für niedrigen Lohn

für die Reichen das Gold,

für die Reichen das Gold.

Stille Nacht, traurige Nacht,
Henkersknecht hält die Wacht

in dem Kerker gefesselt, geächt',

leidet schmachtend für Wahrheit und Recht.

Mutige Kämpferschar,
mutige Kämpferschar.

Stille Nacht, traurige Nacht,
Arbeitsvolk, aufgewacht!

Kämpfe mutig mit heiliger Pflicht,

bis die Weihnacht der Menschheit anbricht.

Bis die Freiheit ist da,

bis die Freiheit ist da.

 

Wie vergessen das Lied ist, zeigt die Tatsache, dass es auf Youtube kaum Versionen gibt.)* Das sollte niemanden abhalten, es zu singen. Und sei es nur, um das kitschige Original aus dem Kopf zu bekommen.

Christoph Baumgarten

Wer mehr Material braucht, um Weihnachten zu ertragen, findet es in den bisherigen Weihnachtsglossen unseres Österreich-Korrespondenten:
Der Weihnachtsmann beißt nicht
Ich kaufe nie wieder Ölsardinden

)* Wir danken unserem Leser, der dieses Video aufgestöbert hat.