Legende von christlich-abendländischer Kultur

Bergmeier geht dezidiert auf die Wirtschaft und das Wirtschaften ein, beides ja die Grundlage für soziale Gemeinschaften und die Staatenbildung: hie eine hochentwickelte arabisch-islamische (Groß-)Stadtkultur mit Bewässungslandwirtschaft (mit globalen Wirtschaftsbeziehungen), dort primitive "fränkische Landwirtschaft", unterentwickelte Kleinstädte und unterentwickeltem Handwerk und Handel... Denn auch hier galt: "Kirchenpartikulare Interessen gehen vor Gemeinwohl." (S. 117) Was dazu führte, daß "die Kirche" vor allem im deutschen und im italienischen Sprachraum zum größten Grundbesitzer und von leibeigenen Bauern wird!

Das alles führt zur Not der Städte, die zu antiken Zeiten noch wirtschaftlich-kulturelle Zentren waren. Not der Städte – das ist in erster Linie die Not der einfachen Menschen. Und auch daraus strickt die Priesterkaste eine Legende, die Legende ihrer Barmherzigkeit und Mildtätigkeit.

In einer Fußnote merkt Bergmeier dazu an: Es "stellt sich bei allem Respekt für die Mildtätigkeit aber die Frage, wo die Mittel herkommen, zumal die mittelalterlichen Armenhäuser vielfach vor allem durch Spenden am Leben gehalten werden. Im Übrigen ist durch Aufzeichnungen, u. a. des Klosters von Cluny nachgewiesen, daß die Rücklagen für die Almosenkasse lediglich ein Zehntel der Spenden und Pachtgelder beträgt." (S. 120) – So wie auch heute "die Kirche" nur Gutes tut – allerdings wie damals mit fremder Leute Geld...

Das dritte Kapitel gibt unter der Überschrift "Nord und Süd. Lichtes und Dunkles" eine Zusammenfassung des Wesens der beiden untersuchten Kulturkreise; mit den Abschnitten: "Von Kalifen, Mäzenen und ihrem Wissensdurst" sowie "Religiöse Toleranz. Das Fundament des des arabischen Erfolges" - "Gegensatz. Kaiser Karl und die christlichen Herrscher" sowie "Die mittelalterlichen Klöster. Inseln kultureller Glückseligkeit?"

Allerdings teilte die islamisch-arabische Welt auch eine Tendenz mit anderen Großreichen in der Geschichte: Nach Aufstieg kam es zu Stagnation und schließlich Verfall. Bergmeier geht darauf im vierten Kapitel ein: "Zwölftes bis 15. Jahrhundert. Stiftung und Tod". Die Abschnitte hier sind wie folgt überschrieben: "Der Transfer griechisch-arabischen Wissens nach Mitteleuropa" / "Europa erwacht. Die Renaissance" / "Das Ende. Die andalusische Hochkultur im Würgegriff der Fundamentalisten". Gemeint sind hier islamische Fundamentalisten...

Schlußfolgernd und zusammenfassend heißt das fünfte Kapitel: "Christlich-abendländische Kultur? - Zwischen Anspruch und Wirklichkeit".

Rolf Bergmeier resümiert, daß grundlegend für unsere heutige europäische Kultur die antike griechisch-römische Kultur sei. Verschwiegen wurde und werde aber der äußerst bedeutsame Beitrag der arabisch-islamischen Kultur. Nach wie vor aber prägend und die öffentliche Meinung beherrschend sei die Legende von der "christlich-abendländischen" Kultur. Und der Autor nennt auch Gründe dafür. Wie kann es anders sein, es geht um Macht. Macht über Mensch, Staat und Gesellschaft. Hier die Macht der christlichen Priesterkaste, die eben auch und das nicht zuletzt Eigentümer unermeßlichen Reichtums ist (Grundbesitz, Banken, Unternehmen, Wertpapiere...)

Auf die Legende und ihre Hintergründe näher eingehend, heißt es bei Bergmeier deutlich und ohne falsche Rücksichtnahme auf den Punkt gebracht u.a.:

"Man kann es kaum fassen: Eine Kirche, die Hunderttausende von Menschen wie Brikett verbrennt (…) diese Kirche nimmt überall Einfluß auf das politische und kulturelle Geschehen im Deutschland des 21. Jahrhunderts. Im Deutschen Ethikrat sitzen weit mehr Theologen als Philosophen, obwohl Ethik eine philosophische Domäne ist und in den Fernsehräten wachen Priester mit Moralkatalogen aus einer Zeit, in der man sich noch mit Buschtrommeln verständigte, über die ausgestrahlte Moral. (…) Der Anspruch der christlichen Kirchen auf eine spezifische, gar einzigartige Wertelehre ist weder historisch noch empirisch berechtigt und schon gar nicht aus der dunklen Kirchengeschichte ableitbar. Sie wird nur penetranter vertreten." (S. 196)

Bergmeier läßt es mit seiner Kritik aber nicht beim Katholizismus bewenden, sondern bezieht die evangelisch-lutherischen Landeskirchen ein. Er zitiert dazu einen Mathematik-Professor: "Wer seine Freude an moralisch garnierten Banalitäten hat, der darf sich bei Frau Margot Käßmann gut aufgehoben fühlen." (S. 197) Er läßt auch eine Büchner-Preisträgerin so zu Wort kommen, die von Käßmanns 'haltloser Faselei' spreche und Käßmanns öffentliches Auftreten als 'Plapperismus' bezeichne, 'der den Wunsch nach Kirchenaustritt übermächtig' mache." (S. 197)

Europa sei dreifach geboren worden, so Bergmeiers Resümee, - "ein erstes Mal entsteht Europa, als im klassischen Athen das Wort des Bürgers und die Sprache der Vernunft an die Stelle der Sprüche von Orakeln und Wahrsagern gesetzt werden. (...) - Europa entsteht ein zweites Mal, als eine überlegene arabische Kultur Mitteleuropa befruchtet und damit die Renaissance einleitet. (...) - Und ein drittes Mal wird Europa geboren, als sich in humanistischer Empörung über den feudalistischen Dünkel einer kirchlich-weltlichen 'Elite' eine philosophische Gegenwelt bildet und in Paris die fortschrittlichsten Denker Europas dafür sorgen, daß Anathema und Kirchenbann einem neuen Selbstbewußtsein des Bürgers weichen müssen. Die Aufklärung, der Höhepunkt europäischer Geistesgeschichte, leitet die Geburt der Revolution für mehr Freiheit und Menschenrechte ein." (S. 207/208)

Denn, so Bergmeier weiter, in den "heiligen" christlichen Schriften kommen Begriffe wie "Denk-, Glaubens- und Meinungsfreiheit", "Freiheit" oder "Menschenrechte" nicht vor. Und in einem "Epilog" schreibt er:

"Fünfhundert Jahre nach dem Untergang des letzten dieser beiden [mediterranen; SRK] Imperien stehen wir drängender denn je vor der erneuten Herausforderung, die Länder rund ums Mittelmeer in einer Verantwortungs-, Kultur- oder Wirtschaftsunion zusammenzuführen. Mit der Betonung religiöser Unterschiede und der öffentlichen Inszenierung von Abgrenzungsritualen ist das gewiß nicht zu schaffen. Auch sollten wir nicht vergessen, daß das Kreuz bei Muslimen zum Haß-Symbol geworden ist. Nicht nur in den berüchtigten Kreuzzügen und Diffamierungskampagnen während der Reconquista, sondern auch, weil das 'christliche' Europa Afrika als Kolonialbesitz mißbrauchte, Ägypten zum Ziel englisch-französischer Interventionstruppen machte, der Iran unter seinem Premier Mossadegh von den USA und Großbritannien durch Wirtschaftsboykott und CIA-Operationen in eine Wirtschaftskrise geführt wurde und der 'christliche' Westen kürzlich im Irak einen 'Kreuzzug gegen das Böse' (George W. Bush) vom Zaune brach..." (S. 213/214)

Und deshalb gelte es: "Die Zivilgessellschaftlichen Kräfte zu stärken, auch unter Betonung der gemeinsamen Tradition und in Anerkennung des bedeutenden arabischen Beitrags zur europäischen Kultur, ist ein Gebot der Stunde. Dazu bedarf es auf ALLEN Seiten des Zurückdrängens religiöser Kräfte aus dem Staatsgeschäft." (S. 214)

 


Rolf Bergmeier: Christlich-abendländische Kultur. Eine Legende. 238 S. m.Abb. kart. Alibri-Verlag. Aschaffenburg 2013. 18,00 Euro. ISBN 978-3-86569-164-4

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