Evidenz ohne Ethik

Ethikabilität

Nun ist es nicht im gleichen Maße unplausibel, dass ein verhornter, vorhautloser Penis besser vor Ansteckungen schützt. [Eine Kritik der berühmt-berüchtigten AIDS-Studien findet sich hier.] Es könnte auch argumentiert werden, dass der geringe Schaden, den die einzelnen Menschen hätten, durch den kollektiven Vorteil aufgewogen würde, weil ansteckende Krankheiten dadurch unwahrscheinlicher würden.

Ob wir allerdings bei einzelnen Personen einen Schaden verursachen oder ihre Rechte verletzen dürfen, um einen kollektiven Vorteil zu gewinnen, ist eine ethische Frage, die wir für gewöhnlich verneinen. Sie wird in der Moralphilosophie mit Gedankenexperimenten wie dem berühmten Trolley-Experiment auf die Spitze getrieben.

Dort, wo die Beschneidung also nicht die Frage der Szientabilität aufwirft, stellt sich – analog formuliert – die der Ethikabilität.

Einige Beispiele:

  • Im letzten Jahr hat Angelina Jolie Schlagzeilen gemacht, als bekannt wurde, dass sie sich beide Brüste hat amputieren lassen. Sie hatte ein genetisch bedingtes Brustkrebsrisiko für sich entdeckt und daraufhin rational und selbstbestimmt gehandelt. Das ist völlig in Ordnung. Was aber würden wir sagen, wenn sie aus den gleichen Gründen die Brustdrüsen ihrer neugeborenen Tochter hätte amputieren lassen? Was würden wir zu einer allgemeinen Politik der prophylaktischen Entfernung von Brustdrüsen bei neugeborenen Mädchen sagen?
  • Gerade wurde bekannt, dass die Zahl der Organspender auf einen historischen Tiefpunkt gesunken ist. Zumindest für Nieren könnten wir das leicht ändern, indem wir eine Zwangsnierenspende einführen. Sollte dann die eine verbliebene Niere des „Spenders“ versagen, würde dieses System sicherstellen, dass immer eine gesunde Niere zur Transplantation zur Verfügung steht. Wir müssten einfach nur das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit in Bezug auf Nieren einschränken, und schön könnten wir beliebig zugreifen.
  • Hier ein Szenario, das Brian Morris gefallen dürfte: Bei der Musterung wird bei allen jungen Männern festgestellt, ob sie beschnitten sind. Falls nicht, werden sie zwangsweise beschnitten. Das ist leider kein rein fiktives Beispiel. In den USA fand zu Beginn des 20. Jahrhunderts genau das statt. Und obwohl alle offiziellen Stellen in Afrika bei ihrer Werbung für die Beschneidung als Maßnahme gegen AIDS immer die Freiwilligkeit betonen, verstehen allzu viele Soldaten und Polizisten diese Empfehlung als Befehl. Auch in kriegerischen Konflikten ist Zwangsbeschneidung oft bedrückende Realität. (Noch bedrückender allerdings ist die Tatsache, dass ihre Kategorisierung als Kriegsverbrechen politisch umstritten ist, wie der Bericht von Michael Glass zeigt.)
  • Und da wir gerade bei der Zwangsbeschneidung sind: Es könnte sich durchaus herausstellen, dass einige Formen der zwangsweisen Beschneidung junger Mädchen und Frauen dazu beitragen, die Verbreitung ansteckender Geschlechtskrankheiten einzudämmen. Trotz der Entfernung erogen-sensiblen Gewebes könnten Studien herausfinden, dass diese Operation keine Auswirkungen auf das sexuelle Empfinden hat. (Das Rätsel wäre dabei genauso groß wie im Falle der männlichen Beschneidung.) Wäre das ein gutes Argument für die flächendeckende Durchführung weiblicher Genitalverstümmelung?

All diese Maßnahmen finden bei uns nicht statt, weil niemand von uns in einer Welt leben möchte, in der wir einfach so beiseite genommen und operiert werden können, weil jemand anderes eine neue Niere braucht oder weil damit ein Krankheitsrisiko reduziert wird. Wir würden die Politik der Zwangsabgabe unserer Nieren auch dann nicht akzeptieren, wenn das Gesetz eine Operation nach modernsten ärztlichen Standards vorschreiben würde. Tatsächlich hätte eine solche Politik deshalb keine Chance, weil sie an unseren ethischen Standards scheiterte. Daher wäre es auch müßig, die Vor- und Nachteile all dieser Maßnahmen unvoreingenommen in wissenschaftlichen Studien zu untersuchen. Sie sind nicht ethikabel.

An diesen Fällen wird aber vor allem deutlich, dass die methodische Prämisse, die Pekárek seiner Untersuchung voranstellt, falsch ist. Er schreibt: "Die Frage, ob die nicht medizinisch indizierte Zirkumzision das Kindeswohl negativ beeinträchtigt, ist primär keine rechtliche Frage, sondern nur durch die Erkenntnisse anderer Disziplinen, insbesondere der Medizin und der Psychologie beantwortbar."

Aber Medizin und Psychologie beantworten nicht die Frage, ob ein Kind ein Grundrecht auf die Unversehrtheit seines Körpers hat. Auch die obigen Beispiele sollten hinreichend deutlich gemacht haben, dass die aufgeworfenen ethischen Fragen Vorrang haben, und dass Medizin und Psychologie für solche normativen Entscheidungen lediglich den Status von Hilfswissenschaften haben können.

Komplikationen und Todesfälle

Nach allen Studien, die Pekárek gelten lässt, sind „einfache Komplikationen selten und schwere Komplikationen sehr selten.“ Zu den schweren Komplikationen zählen auch entstellte oder amputierte Penisse. Insofern kann mit Fug und Recht behauptet werden, dass „sehr selten“  bei einer medizinisch nicht-indizierten Operation „zu oft“ ist, dass jede Komplikationsrate größer als Null zu groß ist. Um eine solche Rate festzustellen, reichen anekdotische Belege aus. Diese Seite listet mehr als genug auf.

Im Übrigen werden Männer, die mit der Amputation ihrer Vorhaut nicht einverstanden sind, wohl auch ihr Leben ohne Vorhaut als „Komplikation“ einstufen.

Zur Frage der Sterblichkeit schreibt Pekárek:"In Abwesenheit entgegenstehender aktueller Daten ist mithin davon auszugehen, dass die tatsächliche Sterblichkeitsrate bei der neonatalen Beschneidung extrem gering ist."

Sollten wir eine „extrem geringe tatsächliche Sterblichkeitsrate“ bei einer medizinisch nicht-indizierten – sprich: unnötigen – Operation akzeptieren, die größer als Null ist? Und dafür, dass sie größer als Null ist, sprechen zwei Argumente, die sich nicht in den Studien finden.

Erstens ist gerade in den USA der Anreiz zur Vertuschung überwältigend. Dort sind Krankenhäuser aus rechtlichen und finanziellen Gründen gut beraten, für jeden Todesfall durch Beschneidung andere Gründe zu finden, so dass wohl die „extrem geringe Sterblichkeitsrate“ nur die Spitze eines Eisbergs sein dürfte. Es dürfte nicht schwer sein, eine pre-existing condition zu finden, die dann offenbar gar nichts mehr mit der Operation zu tun hat.

Zweitens geraten trotzdem immer wieder Nachrichten von fatalen Konsequenzen in die Medien, seit die Sensibilität für dieses Thema geschärft ist. Auch wenn diese Fälle keinen Eingang in Studien finden oder sich dort nur zu einer „extrem geringen“ Rate addieren, reichen hier die anekdotischen Belege aus, um festzustellen, dass die Sterberate eindeutig größer als Null ist.

Historisch gesehen gibt es im Übrigen einen untrüglichen Beleg anderer Art dafür, dass Beschneidung immer schon ein hohes Sterblichkeitsrisiko mit sich brachte. Im Talmud streiten Rabbis darüber, wie viele Söhne eine Mutter durch Beschneidung bereits verloren haben muss, damit sie ihr die Beschneidung des jüngsten erlassen. Sie schwanken zwischen zwei und drei. (Leonard Glick, Marked in Your Flesh, S. 49) Schätzen Sie selbst, wie häufig die Todesfälle gewesen sein müssen, damit es überhaupt zu einer solchen Regelung kommen konnte. Die Zwangsbeschneidung Neugeborener ist eben ein rituelles Relikt aus einer Zeit, in der der Einzelne, und das einzelne Kind zumal, nicht viel zählte.

Auch später waren Befürworter der Zwangsbeschneidung immer wieder bereit, für die „Vorteile“ auch Todesopfer zu akzeptieren. So schrieb der Chirurg John Bland-Sutton im Jahr 1907 achselzuckend: "In seltenen Fällen wurden jüdische Kinder aufgrund einer bestimmten rituellen Variante mit Syphilis und Tuberkulose angesteckt. Kinder starben durch Blutverlust und Sepsis, ob die Operation von einem Mediziner oder von einem Mohel durchgeführt wurde. Diese Dinge beweisen lediglich, dass jeder menschlichen Handlung ein Element des Risikos innewohnt.“ (John Bland-Sutton, „Circumcision as a rite and as a surgical operation“, British Medical Journal, 15. Juni 1907, S. 1412, eigene Übersetzung)

Protest

Schließlich gibt es noch einen weiteren starken Beleg dafür, dass Zwangsbeschneidung von Kindern in erster Linie kein medizinisches, sondern ein ethisches Problem ist. Auch dieser Beleg kann bei einem allzu engen „evidenzbasierten Blick“ auf die Studienlage leicht ignoriert werden: Dieser Beleg ist die Debatte selbst! Die Tatsache, dass es weltweit eine wachsende Bewegung von Männern gibt, die ihr Schweigen gebrochen haben, die nicht mehr still vor sich hin leiden, die protestieren und politisch aktiv werden. Dagegen gibt es aber keine Bewegung von Männern mit intakten Genitalien, die sich darüber empören und dagegen demonstrieren, dass ihnen als Säugling die Vorhaut gelassen wurde.

Aktivismus hinter einer Fassade der Neutralität

Es gibt Fälle, in denen auch der bereits voreingenommen ist, der vorgibt, unvoreingenommen an die Sache heranzugehen. Die Zwangsbeschneidung von Kindern ist ein solcher Fall. Die ethische Frage nach den Grundrechten der Kinder ist unabweisbar, und sie lässt keine neutrale Antwort zu. Pekárek aber versteckt seine Antwort und seinen Beschneidungsaktivismus hinter einer Fassade der unvoreingenommenen Neutralität. Auf einem politisch heiß umkämpften Schlachtfeld betreibt er szientistische Camouflage und gibt vor, unparteiisch – nach Aktenlage quasi – entscheiden zu wollen. Die Akten sortiert er danach, ob sie zu seiner Antwort passen. Sein Beitrag ist tendenziös und – gerade weil er die wissenschaftliche, „evidenzbasierte“ Medizin so stark betont, die ethische Frage aber völlig ignoriert – ein Beispiel für schlechte Wissenschaft.