Die Sonne auf der Spitze des Nashorns

(hpd) Den bis jetzt ältesten gemeinsamen Vorfahren von Mensch und Menschenaffen, die ältesten Felszeichnungen Afrikas – 30.000 Jahre alt – und geschätzt 100.000 Felsmalereien entdeckte man in Namibia. Eine Reise durch immense Zeiträume ermöglicht der “Archäologische Reiseführer NAMIBIA” von Peter Breunig. Der Frankfurter Wissenschaftler verfügt selbst über jahrelange Grabungserfahrung vor Ort.

In einem Land, in dem man an einem Tag mit dem Geländewagen unterwegs auf weniger Menschen treffen kann als beim morgendlichen Brötchenkauf in einer deutschen Großstadt, stößt man auf Steinwerkzeuge auf Schritt und Tritt. Wie kann das sein? Nimmt man an, in ganz Namibia lebten zwischen 1,5 Millionen Jahren und 200.000 Jahren vor der Zeitenwende, also während der zweiten Hälfte der afrikanischen Altsteinzeit, gleichzeitig nur etwa 500 Menschen, die jedes Jahr einen neuen Faustkeil anfertigten, dann kommt man schon auf 250 Millionen Faustkeile, die im und in dem kahlen Land häufig auf dem Boden herumliegen. Wir haben es mit gewaltigen Zeiträumen zu tun.

13 Millionen Jahre alt ist ein rechter Unterkiefer, den der französische Paläoanthropologe Martin Pickford am Nachmittag des 4. Juni 1991 in einer mit verkrusteten Kalkausspülungen gefüllten Felsspalte des Minengeländes im Berg Aukas nach nur einer Viertelstunde Suchen auflas. Er stammte von einem 15 bis 20 Kilo schweren Primaten, bald Otavipithecus namibiensis getauft, der zum Zeitpunkt seines Todes, das besagt der Zustand der Zähne, etwa zehn Jahre alt war; er ist der älteste bekannte gemeinsame Vorfahre aller Hominiden.
Vor sieben bis acht Millionen Jahren trennten sich die Entwicklungslinien von Menschenaffen und menschlichen Vorläufern. Davor aber gab es schon lange aufrecht gehende Affen mit enorm geschickten Händen und einem nach vorn zentrierten Blick.

Sich überschneidende, meist horizontale Linien aus näpfchenartigen Vertiefungen am “Krokodils-Felsen” von Gai-As nördlich des Brandbergs zählen zu den frühesten Zeugnissen eines symbolischen Verhaltens der Menschen des afrikanischen Mittleren Steinzeit überhaupt. Einen einzelnen Stein mit solchen Näpfchen fanden Paläoarchäologen auf dem Grab eines Neanderthalers in La Ferassie in Frankreich. Ähnlich punktierte Liniengeflechte wurden in Tsodilo Hills in Südafrika von Nick Walker, der vergleichbare Funde in 22 Ländern Afrikas machte, auf 60.000 Jahre geschätzt.

Nur etwa 10 Zentimeter groß ist die monochrome dunkle Silhouette eines Wesens, das vorn eine Großkatze und deren hinterer Teil ein Mensch zu sein scheint. Der Kölner Chemiker Wolfgang Erich Wendt fand sie auf einer Tonschieferplatte, deren einer Teil 1969 und der andere 1972 in der Apollo–11-Grotte in Humsbergen, im Südwesten Namibias, zum Vorschein kam. Steinwerkzeuge und Knochenreste aus zwei Meter tiefen Ablagerungen bot Indizien dafür, dieses schlichte Kunstwerk auf ein Alter von 30.000 Jahren zu datieren.

Doch warum schufen die Menschen damals diese Zeichnungen, warum die 50.000 Felsbilder am Brandberg? Es gehört zu den Stärken des Buches, verfasst von einem Spezialisten, darauf eben keine eindeutige Antwort zu liefern. Nur soweit: Jagdzauber scheidet aus. Die Bilder zeigen meist Nashörner, Giraffen, Zebras und Antilopen. Die Untersuchung der Ablagerungen an den überhängenden Felswänden, wo die Menschen wohnten, erwiesen, dass sie, neben einem größeren pflanzlichen Anteil der Nahrung, meist Hasen, Klippschliefer und Felsenratten aßen. Auch die Schamanen-Trance-Theorie des südafrikanischen Archäologen David Lewis-Williams kann Breunig wenig überzeugen. In Sibirien, wo schamanistische Trance-Praktiken bis heute üppig belegt sind, gibt es keine derartigen Felsbilder. Und selbst wenn die Deutung auf einige Bilder in Südafrika zutrifft, wegen ihren Linienmustern und überlängt dargestellten menschlichen Körper, die mitunter auch Masken zu tragen oder zu fliegen scheinen, wie im Delirium entstanden - Warum sollte über Zigtausende von Jahren der Beweggrund für die Kreation der Felskunst auf dem so riesigen Kontinent Afrika überall derselbe sein, oder gar über einen ganzen Zeithorizont wie den der Felskunst bei der gesamten Menschheit? Alles Hippies auf LSD-Tripp, das klingt unwahrscheinlich.

Fragt man heute die San, so erinnern sie sich nicht mehr an die Bedeutung der Bilder. Aber im dritten Viertel des letzten Jahrhunderts erkundete der Kölner Sprachwissenschaftler Oswin Köhler noch die stellvertretende Rolle des Nashorns in einem Sonnenmythos bei den Kxoé, einem San-Volk im Südwesten des Landes. Bei jedem Sonnenuntergang verwandelte das Gestirn sich dem Hörensagen nach in jenes imposante Tier. Die auf Felsbildern immer wieder auftretende, oft meterlange Schlange mit großen Ohren könnte mit einem Mondmythos zusammenhängen, in dem die Häutung des Reptils mit der Wiederkehr des Gestirns in Verbindung gebracht wird, der Mond aber auch mit einem Hasen. Mischwesen aus Mensch und Tier erklären sich vielleicht mit Schöpfungsmythen über den Anfang der Welt, als Mensch und Tier noch nicht voneinander geschieden waren. Totemtiere kommen ebenso in Betracht.

Deutlich die Mehrheit der Felsmalereien in Namibia zeigen jedoch Menschen, meist in Gruppen und gerade nicht in spektakulären Jagd- oder Kampfszenen. Sie scheinen in langen Reihen nebeneinander weit auszuschreiten, etwas vom Boden aufzusammeln oder zu tanzen. Männer sind von Frauen kaum zu unterscheiden. Viel Sympathie und Wahrscheinlichkeit vermag Peter Breunig dem Vorschlag seines Kölner Kollegen Tilman Lenssen-Erz abzugewinnen, der jahrelang am Brandberg arbeitete. Lenssen-Erz glaubt, die Steinzeitkünstler beschworen mit ihren Werken die Werte ihrer kleinen Gesellschaft: Gemeinschaft, Gleichheit, Mobilität.

Die Archäologie ist zurückhaltend geworden. Auch von Datierungen anhand von konstruierten einander ablösenden Stilmerkmalen ist man abgekommen. Ja, man mag sich nicht einmal mehr darauf festlegen, ob die gravierten schematischeren Felsbilder älter sind als die naturalistischer Gemalten oder umgekehrt. Oft liegen sie nahe beieinander, wenn auch Gravierungen im Osten und Malereien im Westen des Landes leicht überwiegen. Sie könnten von unterschiedlichen Ethnien stammen oder eine jeweils andere Bedeutung haben. Sicher ist nur: die Felsbilder sind 30.000 bis 100 Jahre alt, die meisten 6000 bis 2000, wobei diese Kunst ihre Blütezeit in den Jahren zwischen 2000 vor bis zur Zeitenwende erlebt haben mag.

Mit GPS-Angaben bis auf die fünfte Stelle hinter dem Komma genau gibt Peter Breunig an, wo die prägnantesten archäologischen Relikte zu finden sind. Dann wieder lesen sich seine Wegbeschreibungen abenteuerlich wie zu Zeiten Livingstones, besonders wenn es um den kaum erschlossenen Nordwesten des Lands geht. Er beschreibt, welche Pisten er befuhr, und berichtet, wie manche ein oder zwei Jahre später nicht mehr existierte … Tipps, wie sie Forscher einander geben. Das reich bebilderte Buch funktioniert als Reiseführer für archäologische Exkursionen. Weil es aber über eine allgemeine fachkundige Einleitung hinaus an den einzelnen Fundstellen die unterschiedlichsten wissenschaftlichen Theorien und Methoden erläutert, ist es viel mehr als das: Ein Buch über die eindrucksvolle Erkundung der Entwicklung des Menschen im südlichen Afrika, dem Kontinent, von dem aus er in mindestens zwei Wellen, vor zwei Millionen Jahren und vor 100.000 Jahren, auszog in die Welt.

Ein Buch, das dabei immer wieder mit mehr Fragen als Antworten konfrontiert, kann kein schlechtes Buch sein.

 


Peter Breunig, Archäologischer Reiseführer NAMIBIA, Africa Magna Verlag Frankfurt a.M 2014, 328 S. 29,80 Euro