Geschichten der Entfremdung

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Lisz Hirn, Fotos: © Christoph Baumgarten

WIEN. (hpd) Eine sich selbst entfremdete Gesellschaft. Wie sich eine marginalisierte Disziplin im Alltag bewähren will. Warum sich Menschen das antun. Und warum sie sich wehren, als Hofphilosophen vereinnahmt zu werden. Zentrale Fragestellungen bei der Fachtagung “Was ist philosophische Praxis” am Wochenende in Wien.

 

Es sind Geschichten aus einer Gesellschaft, die sich selbst entfremdet scheint, die man im Festsaal der Sigmund-Freud-Universität zu hören bekommt. Mehr vielleicht, als den Teilnehmenden der Fachtagung “Was ist philosophische Praxis” des Vereins für praxisnahe Philosophie bewusst ist.

Praktische Philosophen verstehen sich als Hilfsangebot für Menschen in meist schwierigen Lebenssituationen oder einer Sinnkrise. Wenn man so will, als Alternativangebot zwischen Psychotherapie, Seelsorge und Eso-Fallen. Die Menschen, die zu ihnen kommen, nennen sie Kunde, Klient oder manchmal auch Gast. Je nach persönlichem Geschmack des oder der betreffenden Philosophen bzw. Philosophin.

Es gehe darum, Menschen nachhaltig zu unterstützen und ihnen zu helfen, hochstehende ethische Werte zu etablieren. “Wir bewegen uns in Abgrenzung zu Shamanismus, Alternativmedizin und Theologie”, beschreibt Lisz Hirn, Sprecherin des Vereins für praxisnahe Philosophie. “Eine wichtige Aufgabe ist, Mystizismen und Vorurteile zu reduzieren.”

"Vielen Menschen fehlt Gefühl, ernst genommen zu werden

Die Umstände, die Menschen bewegen, dieses Angebot in Anspruch zu nehmen, sagen viel aus über die Gesellschaft. Oft seien sie die ersten, die wirklich auf ihre Kunden eingehen würden, hört man von einigen hier. “Vielen Menschen, die zu mir kommen, fehlt das Gefühl, ernst genommen zu werden, akzeptiert zu werden, ohne, dass man von ihnen einen Nutzen aus ihnen ziehen will”, beschreibt es eine praktische Teilnehmerin.

Andere Teilnehmende beschreiben Klienten, die auf der Sinnsuche sind, nachdem sie ihr ganzes Leben gearbeitet haben und jetzt in Pension sind. Oder Jugendliche, die keine Freunde haben und nicht einordnen können, warum.

Diskussionen am Rande der Konferenz

Schwierige Grenzziehungen

Dass sich die Kunden häufig in schwierigen emotionalen Zuständen befinden, bringt die philosophische Praxis zwangsläufig in die Nähe zu anderen Angeboten wie Lebensberatung und vor allem zur Psychotherapie. Das erfordert Abgrenzung – allein schon aus rechtlichen Gründen. Wer in Österreich Psychotherapie anbieten darf, ist streng geregelt.

Die meisten praktischen Philosophen erfüllen die Anforderungen nicht – und wollen es auch bewusst nicht. Sie sehen sich als Ergänzung, nicht als Konkurrenz.

Die Grenzen zu ziehen, ist häufig schwierig. “Die kognitiven Probleme, mit denen unsere Klienten zu uns kommen, stammen oft aus der Biographie und dem Lebensumfeld”, beschreibt eine Teilnehmerin. “Es ist sinnvoll, das mitzureflektieren”.

“Den Menschen egal, welches P vor ihnen sitzt”

Heißt: Häufig gibt es eine psychische Komponente. Ist die gravierend, darf sie nur von einem Psychotherapeuten behandelt werden. Gleichzeitig ist sie Teil eines Gesamtproblems, das ohne die Bewältigung nicht sinnvoll gelöst werden kann. Das bringt ein gewisses Dilemma mit sich: Ethisch und rechtlich gesehen sollten philosophische Praktiker den Kunden überzeugen, parallel die Hilfe der Psychotherapie in Anspruch zu nehmen. Das muss so geschehen, dass die Vertrauensbasis zum Klienten erhalten bleibt. Eine Aufgabe, die viel Fingerspitzengefühl erfordert.

Als Schwierigkeit kommt hinzu, dass es häufig die Kunden sind, die die rechtlich erforderliche Abgrenzung nicht machen. “Den Menschen, die Hilfe suchen, ist es oft egal, welches P vor ihnen sitzt: Philosophie oder Psychotherapie”, schildert ein Tagungsteilnehmer.

Das mag einer allgemeinen Begriffsverwirrung geschuldet sein. Wenn man den Weg zur Fachtagung auf der privaten Sigmund-Freud-Universität beim freundlichen Empfangspersonal empfangen wird, bekommt man zu hören: “Die Psychologen-Tagung ist im zweiten Stock. Am besten nehmen Sie den Lift”. Dieser Lapsus mag freilich auch darauf zurückzuführen sein, dass sich die SFU auf Psychotherapie spezialisiert hat.

Der neue Hofphilosoph? Kein Interesse

Nicht immer kommen Kunden, die in schwierigen Lebenssituationen sind. Auch mancher Manager sucht philosophische Beratung. Nicht selten ginge es darum, dass der Kunde so den eigenen sozialen Status heben wolle, hört man von Teilnehmenden. Verdienstmöglichkeiten hin, Verdienstmöglichkeiten her – für die meisten hier hat die Rolle des neuen Hofphilosophen wenig anziehendes an sich.

Auch um das Finanzielle geht es in der Regel nicht. Von philosophischen Beratungen alleine kann niemand hier leben. Praktisch jeder und jede hier hat einen Brotberuf. Teils im akademischen Bereich wie Margarete Maurer. Sandra Amtmann ist Legasthenietrainerin. Andere sind Künstler oder Coaches. Rene Tichy, einer der bekanntesten philosophischen Praktiker in Österreich, ist “nebenbei” Unternehmer.

“Menschen begleiten, das kann nicht jeder”

Ob man angesichts dessen überhaupt Geld verlangen soll, ist auch eine der Fragen, hier auf dieser Tagung im Raum stehen. “Menschen auf ihrem Weg zu begleiten, das kann nicht jeder”, bejaht Manfred Rühl die Frage. “Ich habe eine lange Ausbildung gemacht und viele Fähigkeiten erworben, um das zu können.” Er bringt das Beispiel eines Boxers: “Wenn jemand für einen 5-Minuten-Kampf eine Million Dollar bekommt, wird er auch nicht für die fünf Minuten bezahlt sondern für die Jahre, in denen er für diesen Kampf trainiert hat.”

Bei Klienten, die kein Geld haben, verzichte er aufs Honorar, sagt Rühl. Hier steht die Hilfe im Vordergrund.

“Mein Gast ist Experte für die eigene Geschichte”

Mitunter reichen auch Studium, Lebenserfahrung und diverse Zusatzausbildungen nicht aus, um auf Anhieb helfen zu können. “Zu mir ist ein Gast gekommen, der Angst vor dem Tod hatte”, beschreibt Tichy. “Um das nachvollziehen zu können, musste ich vor unserem nächsten Gespräch erst damit befassen, wie es sein kann, dass der Tod ein Problem sein kann.”

Oberste Tugend für einen praktischen Philosophen: Zuhören. Oder wir es Tichy formuliert: “Mein Gast ist Experte oder Expertin für die eigene Lebensgeschichte.”

Anton Grabner-Haider

“Wichtige Aufgabe, Aufklärung zu verteidigen”

Aus Sicht von Anton Grabner-Haider von der Uni Graz geht es bei der praktischen Philosophie nicht nur um den einzelnen Klienten. Er sieht in dieser relativ jungen Disziplin in mehrfacher Hinsicht eine gesellschaftspolitische Aufgabe. Eine besteht für ihn darin, die Philosophie wieder in der Öffentlichkeit zu verankern. “Wir Philosophen haben uns in den vergangenen Jahrzehnten selbst marginalisiert”, kritisiert er vor allem die akademische Philosophie.

“Für die philosophischen Praktiker ist es eine wichtige Aufgabe, auch politisch, die Aufklärung zu verteidigen”, sagt er. “Wir vermitteln, warum es vernünftig ist, Intoleranz nicht zu propagieren”. Trotz einer gewissen Grundskepsis gesellschaftlichen Entwicklungen gegenüber sieht er auch Anlass zu Optimismus. Unter anderem nennt er Michael Schmid-Salomons Buch “Hoffnung Mensch”.

Keine Einigkeit über Methoden

Es wären vermutlich nicht Philosophen, würde Einigkeit über die Methoden herrschen, mit denen die Errungenschaften der Aufklärung am besten verteidigt werden können. Grabner-Haider sieht vor allem die kritische Philosophie gefragt und kann augenscheinlich mit Lebensphilosophie, Existenzialismus oder Nietzsche wenig anfangen.

Was heftigen Widerspruch bei anderen Tagungsteilnehmenden auslöst. Lisz Hirn etwa stützt ihre philosophischen Arbeiten häufig auf Camus und Nietzsche. Manfred Rühl ist Lebensphilosoph und zeigt sich der Meinung, dass Grabner-Haider seine Schule etwas pauschal abtut.

Einigkeit wird sich vermutlich auch nicht herstellen lassen. Oder, wie es Hirn formuliert: “So viele philosophischen Praktiker, so viele philosophischen Praktikern.” Es wäre der Philosophie auch wesensfremd, wenn es anders wäre. Vorgefertigte und voreilige Antworten auf wichtige Fragen anzubieten überlasst man lieber der Konkurrenz.

Christoph Baumgarten