Das Exilland China

BERLIN. (hpd) Wenn vom Exil deutscher und österreichischer Juden zu Zeiten des faschistischen “Großdeutschen Reiches” die Rede ist, dann fallen dem hiesigen Durchschnittsbürger in der Regel nur die Fluchtländer Frankreich, Großbritannien, USA, Palästina oder einige lateinamerikanische Staaten ein. Dass aber auch China, insbesondere die Stadt Shanghai, geflüchteten Juden – darunter nicht wenigen Intellektuellen, Schriftstellern, Künstlern – eine sichere Zuflucht bot, das ist eher unbekannt.

 

Wie sich emigrierte deutschsprachige jüdische Autoren mit ihrem Exilland während der Jahre 1933 bis 1945 und insbesondere danach auseinandergesetzt haben, das hat Ulrike Jestrabek in ihrer kulturwissenschaftlichen Dissertation untersucht. Diese Arbeit liegt inzwischen als gedrucktes Buch, erschienen in der Edition Spinoza des Verlages Freiheitsbaum, vor.

Die Autorin stellt allerdings fest, dass in ihre Forschungen zahlreiche Publikationen aus der DDR nicht einbezogen werden konnten. Warum? Weil diese nach 1990 von den neuen Machthabern in bilderstürmerischen Aktionen aus den DDR-Bibliotheken entfernt worden seien bzw. weil die herausgebenden Verlage und deren Archive größtenteils liquidiert worden sind. So konnte sie auch nicht auf ein Standardwerk aus jener Zeit, “Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933–1945 in sechs Bänden”, hg. v. der Akademie der Wissenschaften der DDR, Reclam-Verlag Leipzig 1979ff., nicht eingehen. Darin auch ein Abschnitt “Shanghai – eine Emigration am Rande”. Jestrabek konnte hier nur die später erschienene bundesdeutsche Lizenzausgabe zitieren.

Zunächst streift die Autorin die Geschichte der jüdischen Einwanderung in China bereits seit dem 8. Jahrhundert. Diese konnte stattfinden, weil das Alte China keine Staatsreligion kannte, sondern weil hier die verschiedensten Religionen und Moralphilosophien koexistieren konnten. Das führte zu gegenseitigen geistigen Befruchtungen. Und auch im 20. Jahrhundert konnten jüdische Emigranten das kulturellen und wissenschaftliche Leben Chinas bereichern.

Im Zusammenhang damit untersucht Jestrabek, wie es um die China-Rezeption in Deutschland vom 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts bestellt war. Nicht immer seriös. Christlich-koloniale Vorurteile standen neben romantisierenden Idealisierungen. Ein realistisches China-Bild nach dem Sturz der Mandschu-Dynastie zu gewinnen, war daher nicht leicht. Nach wie vor überwogen Klischees, Vorurteile und Idealisierungen. Als Beispiele für eine intensive Beschäftigung und positive Einstellung führt sie anhand von Textanalysen marxistisch orientierte Autoren, wie Egon Erwin Kisch, Heinz Grzyb und Friedrich Wolf, an. Passend hierzu die Titelgestaltung der gedruckten Dissertation. Sie zeigt einen Holzschnitt von Conrad Felixmüller zu Friedrich Wolfs “Professor Mamlock”. Wolfs Theaterstück aus dem Jahre 1933 war das erste Kunstwerk, das die Judenverfolgungen durch die deutschen Faschisten thematisierte.

Es folgt ein umfängliches Kapitel über die “Exil- und Kriegszeit” als reale Erfahrung für die nach China geflüchteten Juden (überwiegend aus großbürgerlichen Kreisen stammend bzw. zur geisteswissenschaftlichen Intelligenz zählend), Stichworte hierzu: ausländische Aggressionen gegen China, Bürgerkriege in China selbst; Lebensbedingungen für Ausländer in Shanghai, jüdisches kulturelles Leben in dieser Stadt, die von ausländischen Mächten politisch und ökonomisch dominiert wurde; antifaschistischer Widerstand auch in Shanghai.

Die Untersuchung geht dann anhand einer Werkauswahl und von Textanalysen auf die bürgerlichen Exilanten im “Wartesaal” China ein. Stichworte hier: Auswirkungen des ersten Kulturkontaktes mit dem Gastland, Auseinandersetzung mit der Fremde, insbesondere unter dem Eindruck einer so völlig anderen Sprache/Schrift und Kulturtradition. Jestrabek beschreibt, wie sich Chinabilder infolge der Anwesenheit – als Nichtprivilegierte – im Lande veränderten, wie die Exilanten als Außenstehende die chinesische Kultur für sich verarbeiteten. Dann, welche Traumata entstanden in diesen Jahren? Wie und wohin erfolgte der Aufbruch nach dem Ende des Faschismus und auch der japanischen Besatzung? Welches Heimatverständnis kennzeichnete die bürgerlichen Flüchtlinge, die sich primär als Opfer sahen? Und wie standen sie zur jüdischen Religion vor der Flucht und danach?

Jestrabek konstatiert im Vergleich zu dieser Gruppe, dass sich linke, kommunistische und sozialistische Emigranten weniger als Opfer sahen, sondern als solidarische Teilnehmer am internationalen Freiheitskampf, auch am Freiheitskampf der chinesischen Kommunisten gegen die volksfeindliche Guomindang und gegen die japanischen Aggressoren. Stichworte hier: der doch heterogene Blick dieser Intellektuellen auf das Gastland, ihre intensive Betonung des gemeinsamen antifaschistischen Widerstands als Sinngebung für ihr Leben und Engagement, Verarbeitung der chinesischen Kultur als Appell, die neuen Freiheiten der weiblichen Exilanten. Herausgearbeitet wird auch die positive Beurteilung des eigenständigen politischen chinesischen Kampfes der chinesischen Kommunisten. Und nicht zuletzt wird angesichts von Faschismus und Exil die Auseinandersetzung dieser säkularen Emigranten mit dem jüdischen Erbe thematisiert. All das anhand einer sehr ausführlichen Werkauswahl und Textanalyse.

Im abschließenden Kapitel geht es um das “Chinabild in der Nachkriegszeit und im Gesellschaftsmodell der gelenkten Utopie”. Hier konzentriert sich die Autorin auf marxistisch orientierte Autoren und deren Werke. Stichpunkte sind hier: literarische und künstlerische Reflexionen zur Politik der 1949 proklamierten Volksrepublik China. Jestrabek scheut sich nicht – bei aller Sympathie für die Volksrepublik, Volk und Kultur, sich deutlich mit den fatalen Umerziehungskampagnen (Großer Sprung, Kulturrevolution) auseinanderzusetzen. Positiv hebt sie die weitgehende Gleichstellung der Frau hervor und sie bietet auch den Entwurf eines diskutierbaren Mao-Zedong-Bildes (in verschiedenen Übersetzungen einiger Mao-Texte) an.

Nicht ausgespart werden Tiefpunkte in den Beziehungen zwischen der DDR und der Volksrepublik, bedingt vor allem durch den Druck seitens der sowjetischen Führung, nachdem sich Mao geweigert hatte, sich Chruschtschow (und später Breshnew) zu unterwerfen.

Dennoch erlebten nicht nur in den 1950er Jahren, sondern auch in den nachfolgenden drei Jahrzehnten Bücher deutsch-jüdischer Kommunisten über China hohe und höchste Auflagen und wurden auch zu keiner Zeit aus den Bibliotheken entfernt. Man denke nur an Alex Weddings Kinderbuch “Das eiserne Büffelchen” oder an Ruth Werners Verarbeitung ihres Einsatzes für die sowjetische Aufklärung in “Der Gong des Prozellanhändlers”.

Nicht unerwähnt bleiben soll, dass nach 1949 nicht wenige Exilanten in China blieben und dort z.T. hohe und höchste Ehrungen erfahren haben, einschließlich der Wahl zu Mitgliedern der Politischen Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes – einem Beratungsgremium neben dem nationalen Parlament.

Die Autorin hat nicht nur Materialstudien betrieben, sie führte auch viele Zeitzeugeninterviews mit noch lebenden Persönlichkeiten bzw. deren Nachkommen. Von Vorteil war insbesondere, dass Ulrike Jestrabek die chinesische Sprache beherrscht und somit sich ein direktes Bild vom diesem Land machen kann. Es ist ihr gelungen, viele Autoren dem Vergessen zu entreißen, was insbesondere für die alte Bundesrepublik gilt. Denn für DDR-Bürger, auch Schüler, waren Namen wie Egon Erwin Kisch, Friedrich Wolf, F.C. Weiskopf und seine Frau Alex Wedding oder Ruth Werner durchaus geläufig. Anderen Namen, wie Emi Siao oder Fritz Jensen, konnte man auch noch Ende der 1980er Jahre in DDR-Bibliotheken begegnen.

Ulrike Jestrabeks Arbeit ist ebenso wie die von ihr analysierten Werke bürgerlicher und marxistisch orientierter Autoren durchdrungen vom Geiste des Humanismus. Und nicht minder kommen in den untersuchten Werken wesentliche humanistische Werte, kommt Humanität, zum Ausdruck: Mensch bleiben unter unmenschlich gewordenen politischen Bedingungen, Solidarität, Barmherzigigkeit, Mitmenschlichkeit, Internationalismus. Und das trotz vieler persönlicher Resignationen und Depressionen. Kulturelle und künstlerische Betätigung zur Stärkung des Lebens- und Überlebenswillens. Beschäftigung mit dem Gastland und seiner Kultur, die dazu führte eurozentristische Weltsichten zu überwinden. Und nicht zuletzt: Nicht nur Juden waren Opfer, sondern andere Menschen/Völker auch; hier im konkreten Fall China und die Chinesen.

Alles in allem: Ulrike Jestrabeks Arbeit ist – obwohl sehr umfangreich und nicht unbedingt “populär” geschrieben - ein sehr wichtiges Werk. Es enthält eine ganze Reihe von neuen Forschungsergebnissen und Themen, die bisher mit diesem Schwerpunkt in Deutschland noch nicht veröffentlicht wurden. Denn es werden wichtige Themen des 20. Jahrhunderts beleuchtet: jüdische Identitiät und Literatur im deutschsprachigen Raum - besonders auch bei assimilierten und nichtreligiösen Juden, diverse Literaturdebatten, Marxismus in Deutschland, Sowjetunion und China, “Realsozialismus”, die sogenannte “Dritte-Welt”-Frage und der Antifaschismus. Erfrischend ist, dass die Autorin fast ausschließlich die Begriffe Faschismus, deutscher oder Hitler-Faschismus verwendet und nicht den demagogischen Begriff “National-Sozialismus”. Denn auch der deutsche Faschismus war nicht national und erst recht nicht sozialistisch; er war antihumanistisch, rassistisch, nationalistisch!

Für die Autorin als Humanistin war es auch wichtig, dass trotz aller wissenschaftlichen “Neutralität” natürlich ihre Sympathien immer bei den laizistischen, atheistischen und sozialistischen deutschsprachigen jüdischen Autoren liegen. Und sie grenzt den Untersuchungszeitraum auch nicht eurozentristisch auf die Jahre 1933 bis 1945. Denn der Widerstandskrieg gegen das faschistische Japan begann bereits etliche Jahre früher und der Bürgerkrieg um die Befreiung von aus- und inländischer Ausbeutung endete erst 1949/1950. Daher ist es lobenswert, dass Biographien und Werkananalysen auch noch die Nachkriegszeit und die frühe Zeit der Volksrepublik mit erfassen; also Zeitspannen, die in beiden deutschen Staaten bisher nicht ausreichend erforscht worden sind.

Eine kleine Anmerkung sei aber noch gestattet: Die Autorin, Jahrgang 1981, ist westdeutsch sozialisiert, was sich leider in manchem Zungenschlag äußert, der reale Gegebenheiten in der DDR, aber auch in China, nicht immer genau trifft, sondern offiziöser bundesdeutscher Sprachregelung folgt…

Zur Autorin selbst: Ulrike Jestrabek hat Sinologie und Germanistik studiert. Ihre Masterarbeit schrieb sie über Richard Wilhelm, dem ersten und bis heute wohl wichtigsten Übersetzer chinesischer philosophischer Werke ins Deutsche (“Die positive Rezeption der geistigen chinesischen Welt bei Richard Wilhelm. Versuchter Wandel des Chinabilds in Deutschland durch die literarischen Werke, die Übersetzungen und das reale Wirken des Kulturvermittlers”, Tübingen 2010). Unter ihrem chinesischen Namen Ji Yali war sie Ko-Autorin des Buches “Die Wahrheit in den Tatsachen suchen – Aufklärung, Rationalismus und freies Denken in der chinesischen Philosophie” (Reutlingen-Heidenheim 2011). 


Siegfried R. Krebs

Ulrike Jestrabek: Deutschsprachige jüdische Autoren in der Auseinandersetzung mit dem Exilland China. 392 S. m. Abb. Paperback. Edition Spinoza im Verlag Freiheitsbaum. Reutlingen-Heidenheim 2013. 28,00 Euro. ISBN 978–3–922589–54–9