Die Kunst, zu sein

(hpd) Ein optimistisches Werk mit philosophischem Tiefgang, aber dennoch leicht und flüssig lesbar. Mit seinem nicht nur geisteswissenschaftlichen, sondern auch naturwissenschaftlichen Kenntnisreichtum ist es geeignet, einen Pantheisten positiv zu stimmen und vielleicht manchen Evolutionsbiologen zu verwirren.

In zwei Teile gegliedert, befasst sich das Werk im ersten Teil mit “Die Kunst, das Leben in seiner einzigartigen und universalen Größe bewusst zu entdecken und zu erleben”. Es erwartet vom Leser die Bereitschaft, sich mit so abstrakten Phänomenen wie Bewusstsein und Geist auseinanderzusetzen. Der zweite Teil, “Die Kunst, mein Sein zu gestalten und zu vollenden”, enthält dann für eine Orientierung im Dasein mehr praktische Lebenshilfen. Jetzt im Sinne von relegere, - sorgfältig bedenken und nachdenklich sein angesichts einer wichtigen Sache. Dabei steht nicht Gott, sondern das Sein im Mittelpunkt von religiösen Überlegungen.

Der erste Teil beginnt mit der Frage: “Fördert das Bewusstsein die Schönheit und Intensität des Lebens?” Die Antwort wird in einem erlebnis-immanenten Bewusstsein gesucht, was auf das nächste Kapitel überleitet: “Wie entdecke ich den Lebenswert eines ganzheitlichen Weltbewusstseins?” Nach Hinweisen auf Kontemplation und Spiritualität führt es zu Friedrich Nietzsche: “Denn alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit”. Hierauf folgt die Feststellung: “Ich mache mir bewusst, dass ich bin, dass ich lebe”. Dieses Kapitel empfiehlt, das Leben als Kunstwerk zu sehen. Die Einleitung greift wieder auf Nietzsche zurück: “Die Welt ist tief und tiefer als der Tag erdacht”. Aus dieser Perspektive wird dem Grund eines mangelnden Tiefenbewusstseins nachgegangen. Das Kapitel endet mit dem Bekenntnis: “Ich habe nicht das Leben aus mir selbst, ich habe es empfangen, es ward mir zuteil”. In dem Kapitel, “Ich entdecke weitere Dimensionen des universellen Seins”, empfiehlt der Autor den dogmatischen Schutzpanzer zu verlassen und fordert diskursives Denken mit den Worten “bis an unser Lebensende sind wir nie nur rationale Verstandeswesen, vielmehr ist unser Denken immer in Erfahrungen, Gefühle und Bilder eingebettet”. Mit dem Kapitel “Aufstieg zur geistig-ethischen Dimension meines Lebens” endet der erste Teil. Es befasst sich mit dem Geist als einem Systemphänomen des Lebens.

Cover: Die Kunst zu sein

Der zweite Teil beginnt mit der Frage: “Gibt es einen inneren Lebensplan? Wie erkenne ich und verwirkliche ich ihn?” Dem sog. Überlebens-Ich der Evolutionsbiologie wird die steuernde Instanz eines Ethischen Ichs gegenübergestellt. Dieses orientiert sich jedoch nicht nur an Immanuel Kants moralischem Gewissen in mir, sondern mehr noch an Konrad Lorenz, der das moralische Gesetz in uns nicht als etwas a priori Gegebenes, sondern als etwas in natürlichem Werden Entstandenes sieht. Ein Stufenschema zur Selbstfindung führt vom Massen-Ich über das Rollen-Ich und Begierde- sowie Geltungs-Ich zu dem Ziel eines Ethischen Ichs. Hieraus wird eine Struktur des Selbst abgeleitet, bei dem über dem Ethischen Ich das Gewissen steht und darüber als Identität der individuelle Geist. In ständiger Wechselwirkung wird über allem dann das Axiom eines universellen Geistes gedacht. Spätestens hier taucht aber das Gespenst von Hegels “Absolutem Geist” auf. Jedoch die Feststellung in Kapitel fünf, “jede biologische Existenz ist eine untrennbare Einheit von Körper und Geist”, wird wieder einem Kritischen Rationalismus gerecht. Trotzdem bleibt diese Konnexion ambivalent und bietet ausgiebigen Diskussionsstoff für die moderne Gehirnforschung. Es bleibt durchaus offen, ob damit eine Selbstständigkeit des Geistes im Sinne Rudolf Euckens Noologie gemeint ist, oder die Überlegung im Sinne des Kritischen Rationalismus verläuft, für den Geist ohne materielle Trägerschicht nicht mehr existieren kann. Phänomenologisch können aber auch, in einer monistischen Weltsicht, die partiellen Selbständigkeiten souveräner geistiger Leistungen, die in die intellektuellen Ergebnisse Dritter einfließen, als noologisch bezeichnet werden. Dieser Interpretation von Geistigkeit, welche eine naturalistische Position nicht ausschließt, könnte man dann quasi als eine Vorstufe zu dem Dawkins´schen Mem verstehen. Das ist aber nicht unumstritten und nur aus einer ganz bestimmten Perspektive heraus zu vermitteln. Dieses fiktive Intervall muss dann aber zwischen dem Geist, der nur über das menschliche Gehirn wirksam werden kann und dem sog. Mem gedacht werden. Soweit scheint aber Mynarek nicht gehen zu wollen.

“Die Kunst, gesund zu sein”, lautet dann das nächste Kapitel. Es wird eingeleitet mit der Feststellung, dass auf “humanem Niveau” der Evolution das Leben eine geistig-psychisch-körperliche Wirklichkeit ist und deshalb die Gesundheit keine rein körperliche Angelegenheit mehr sein kann. Vor diesem Hintergrund kommt es nicht nur zu einer Begründung von ganzheitlicher Medizin, sondern dem Biologismus wird Sinnlichkeit plus Sinn für ein gelungenes Leben gegenübergestellt.

Darauf folgt das Kapitel “Die Prüfsteine der Lebenskunst: Leid, Schmerz, Angst und Enttäuschung als Risiken und Chancen der eigenen Seinswerdung”. Eingeleitet mit der Feststellung, dass in dem Lebensplan eines jeden Menschen auch Leid und Schmerz ihren unaufhebbaren Platz haben, kommt es zu der Hoffnung, dass Urvertrauen und der Glaube an Visionen ein rational erstrebenswertes Ziel ist, was auch für den Realitätsuntüchtigen gilt. Gleichzeitig wird Meister Eckhart bemüht: “Das Leid ist das schnellste Ross zur Vollkommenheit” und Religion nicht nur als Ehrfurcht und Bewunderung empfunden, sondern - frei nach Mahatma Gandhi - auch als die Überzeugung von der Kraft des Geistes und deren steten Realisierung. Als positive Seite von Ent-täuschung wird nachgewiesen, wie sie von einer Lebenslüge befreit und damit hilft der Wahrheit näher zu kommen. Das Kapitel schließt mit der Forderung nach Selbstdisziplin und weist dazu auch auf die Methode der Meditation hin.

Der nächste Abschnitt befasst sich mit “Erotik und Lebenskunst oder Mein Seinswachstum durch die Ästhetik und Ethik von Partnerschaft, Freundschaft, Ehe, Liebe und Sexualität”. Es wird dokumentiert, dass die Kunst zu sein nicht lustfeindlich sein darf, wie es das Christentum mit all seinen hässlichen Konsequenzen fordert. Hier fehlt natürlich der bereits schon klassisch zu nennende Satz nicht: “Die Physik der sexuell-erotischen Anziehung kann in die Meta-Physik der Liebe übergehen”. Die Empfindung von Liebe als Grenzüberschreitung wird ergänzt durch Dostojewskis launischen Aphorismus “Wer verliebt ist, liebt nicht”. Sexualität ohne Liebe ist Selbstbefriedigung mit Hilfe des anderen. Dahinter steht die tiefer gehende Forderung: “Wahre die Weltrangordnung des Lebens, wonach die Seele mehr ist als der Körper und der Geist mehr ist als die Seele”. Der Begriff Seele ist dabei als poetische Bezeichnung für den Begriff Psyche zu verstehen. So wird nachvollziehbar, wenn die denkende, wollende und fühlende Intimität des Geistig-Seelischen in einer lyrischen Sprache als im herrlichen Gewande den Geist widerspiegelnde Leiblichkeit gesehen wird. Am Ende folgt die Warnung vor einer falschen Auffassung von Liebe, ergänzt durch ein Zitat nach Max Frisch: “Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich spannende, dass wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertig werden: weil wir sie lieben; solange wir sie lieben”.

Das Schlusskapitel trägt die Überschrift: “Die Kunst des Alterns und Sterbens - Die grenzüberschreitende Perspektive meines Seins”. Für die Religion des Ethischen Humanismus ist das Rätsel des Todes das letzte Geheimnis in einer entzauberten Welt und spätestens nach Ludwig Feuerbach, auch die Quelle aller religiösen Fragen. In einer anderen Überlegung wird der Natur als einer geglückten Konstellation von Zufällen, der Glaube an ein Wunderwerk des Geistes gegenübergestellt. Kurz, das voluntative Wunsch-Ich gewinnt an Bedeutung. Hier ist die geistig-ethische Selbstverwirklichung Sinn menschlichen Lebens und der innerste personale Kern überlebt nicht nur den Tod, sondern kann von ihm gar nicht angetastet werden, denn das Leben des Geistes endet niemals. Nachvollziehbarer dann wieder der Hinweis: “Wer das Geist-Selbst in sich realisiert, bleibt länger geistig-psychisch-körperlich jung”. In der Entfaltung der ästhetischen Seite des menschlichen Wesens kann eine spirituelle Note gefühlte Qualität des Lebens steigern. Bei allen Fragen und Antworten bleibt jedoch das ehrfurchtgebietende Mysterium des Todes unangetastet. Wichtig für liberal Gestimmte, Suizid erfährt trotzdem eine ethische Rechtfertigung.

Verzichtet man auf den Einwand eines immanent-transzendenten Pantheismus, weil auch eine solche Weltsicht Fortschritt in der klerikalen Verkrustung unserer Gegenwart bedeutet, kann man in dieser Kunst zu sein eine agnostische Methodologie herauslesen, welche eine Brücke vom Kulturchristentum zum wissenschaftlichen Atheismus bilden könnte.

 


Hubertus Mynarek, Die Kunst zu sein - Philosophie, Ethik und Ästhetik sinnerfüllten Lebens. Zweite, überarbeitete Auflage, Angelika Lenz Verlag, 355 S., 22,00 Euro, ISBN: 978–3–943624–06–9