Das Große Sommerinterview

Freidenker und Freidenken in der Schweiz

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Andreas Kyriacou, Reta Caspar, Valentin Abgottspon
Andreas Kyriacou, Reta Caspar, Valentin Abgottspon

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Valentin Abgottspon, Reta Caspar, Andreas Kyriacou
Valentin Abgottspon, Reta Caspar, Andreas Kyriacou

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Carsten Frerk
Carsten Frerk

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Reta Caspar
Reta Caspar

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Bern

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BERN. (hpd) Ein Blick über die Alpen und eine lange Unterhaltung mit dem Vorstand des Freidenkerverbandes. Über die Schweiz und seine Kantone, die Freidenker, den „Röstigraben“ und die fortschreitende Säkularisierung, auch in der Schweiz, und die Frage, welche Herausforderungen sich für die Freidenker ergeben.

Ein Gespräch mit Reta Caspar, Leiterin der Geschäftsstelle der Freidenkervereinigung, Andreas Kyriacou, Zentralpräsident (Ressort Wissenschaft), Valentin Abgottspon, Vizepräsident (Ressort Politik) und Claude Fankhauser, Aktuar (Ressort Humanismus).

 

hpd: Ich möchte zu Beginn etwas vorlesen: „Trittst im Morgenrot daher, seh' ich dich im Strahlenmeer, Dich, du Hocherhabener, Herrlicher! Wenn der Alpenfirn sich rötet, betet, freie Schweizer, betet! ..." – ich muss gar nicht weiter vorlesen, als Schweizer kennt ihr das, das ist der so genannte Schweizerpsalm, die Nationalhymne. Das lernen die Kinder schon in der Schule, das lernen die Menschen in der Schweiz, dass das ihre Nationalhymne ist. Den Text gibt es auch in allen Sprachen. Ist das so eine Art religiöse Grundidentifikation, wenn ich diese bereits als Kind eingetrichtert bekomme?

Reta Caspar: Das wird nicht eingetrichtert. Die Hymne ist nur in ganz wenigen Kantonen Pflichtstoff in der Schule. Erstmals wurde das 2008 mit Blick auf die Euro 2008 im Kanton Aargau gefordert und letztes Jahr hat der Kanton Tessin das ebenfalls beschlossen. Es waren jeweils Motionen der SVP (konservative Schweizer Volkspartei), die verlangen, dass die Hymne schulstoffverpflichtend wird. Ich habe das als Kind in der Schule nicht gelernt.

Valentin Abgottspon: Die meisten Fußball-Nationalspieler können den Text, glaub' ich, auch nicht. Wir haben ja wirklich eine multikulturelle, eine Fußball-Nationalmannschaft mit Migrationshintergrund. Und es ist m. M. nach schon komisch, dieses Gebet, das wir dort haben – ein Psalm als Nationalhymne. Es sagt wenig über die tatsächliche Schweiz aus. Es läuft gerade ein Wettbewerb der schweizerischen gemeinnützigen Gesellschaft, ein Ideenwettbewerb für eine neue Hymne. Vielleicht kommt dabei etwas raus.

Aber mit Hymnen ist das immer so eine Sache. Die Österreicher diskutieren gerade auch, ob ihre Hymne geschlechtergerecht ist oder nicht, bzw. ob sie es werden soll. Und wenn man sich das in Deutschland anschaut: Nach der Wiedervereinigung hätte man sich auch überlegen können, ob es nicht etwas Neues geben soll. Die Hymnen sind wohl immer veraltet und hinken dem Gesellschaftlichen 50 Jahre vielleicht sogar 100 Jahre hinterher.

Reta: Witzig ist ja, wie die Schweiz zu dieser Hymne kam. Lange Zeit hatte das Lied „Rufst Du mein Vaterland”, ein Kriegslied aus dem 19. Jahrhundert den Status einer inoffiziellen Nationalhymne – mit der Melodie der britischen Hymne „God save the Queen”. Wegen der immer häufigeren Begegnungen dieser Hymnen zu offiziellen internationalen Anlässen hat man 1961 provisorisch, als Verlegenheitslösung, den als patriotisches Kirchenlied beliebten „Schweizerpsalm“ eingesetzt, aber erst 1981 offiziell als Hymne der Schweiz bestimmt.

Tatsache ist: Viele religiöse Strukturen, von denen wir das Gefühl haben, die sind veraltet und die müssten wir jetzt endlich abschaffen, sind eigentlich erst etwa 50 Jahre alt. Aus den 60er Jahren stammt z. B. auch die Kirchensteuerpflicht juristischer Personen. Ich denke, damals begann der Exodus aus den Kirchen. Und so haben die Kirchen rechtzeitig ihre „Pflöcke” eingeschlagen, damit sie Verbindlichkeiten schaffen, solange sie noch Mehrheiten an der Urne finden.
Vieles, was wir heute bekämpfen, stammt also nicht etwa aus dem 19., sondern aus dem 20. Jahrhundert. Die Freidenker gab es damals auch, aber ich denke in den 60er Jahren haben sie ein bisschen gepennt. Sie wurden dann in den 70er Jahren wieder wach und haben auch verschiedene Dinge angepackt. Aber es ist ein mühsamer, langwieriger Prozess, all diese Mythen über den Nutzen der Kirchen zu entlarven und alle die Gesetze zu Gunsten der Kirchen abzuschaffen.

Wenn man mit Leuten etwa über die Kirchensteuerpflicht juristischer Personen spricht, dann finden das fast alle schräg. Nur ist mittlerweile eine Allianz der Kirchen mit den Sozialdemokraten entstanden, die Steuern tendenziell immer gut finden, deshalb wird es nochmals 20 Jahre brauchen, bis auch diese Allianz keine Mehrheit mehr haben wird.

 

Ich habe gelernt, die Schweiz hat keine Bundeshauptstadt. Es gibt nur die Konvention, dass das Bundeshaus in Bern steht? Dabei ist Bern nicht die Hauptstadt.

Valentin: Es heißt offiziell Bundesstadt. Aber faktisch hat das dieselbe Bedeutung wie eine offizielle Hauptstadt.

Die Kantone, 26 gibt’s davon, schauen darauf, dass ihre Selbständigkeit erhalten bleibt, dass keiner bevorzugt oder benachteiligt wird. Führt diese Grundmentalität zu mehr Toleranz in der Schweiz oder zu mehr Eifersüchtelei oder Eigenbrötelei – könnte man sagen, man wird schon toleranter  ...

Reta: Die Schweiz ist nicht besonders tolerant. Sie funktioniert, indem jeder sein Gärtchen sauber abgrenzt. Die Zäune sind wahrscheinlich wichtiger als das Land.

Valentin: Positiv könnte man sagen, dass es einen Finanzausgleich gibt und das ist schon Solidarität. Die reichen Kantone geben den ärmeren, den strukturschwächeren Kantonen Geld. Wenn das nicht so wäre, würde vieles anders aussehen. Es gibt schon eine positive Seite. Es gibt aber nach wie vor diesen Kantönligeist à la: Wir sind dieser Kanton und wir haben jene Eigenheiten... Es gibt schon Verbindendes, trotz der starken Individualität.
Die Befindlichkeiten, die grobe Selbstwahrnehmung und die Darstellung nach außen sind von Kanton zu Kanton halt einfach unterschiedlich. Zürich hält sich für die wirkliche Hauptstadt, Basel hält sich auch in gewissen Dingen dafür. Es ist plural.

 

Wenn ich so in die Statistik schaue, ich habe Zahlen zur Religionszugehörigkeit von 1970 – 2000, da ist die evangelisch reformierte Kirche um 13 Prozentpunkte zurückgegangen, die röm.-kath. Kirche auch um 8 Prozentpunkte, die Konfessionsfreien/keine Zugehörigkeit sind um 10 Prozentpunkte angestiegen.

Reta: 2010 ist keine gleichartige Erhebung mehr gemacht worden. Es gab eine Stichprobenerhebung, die nun alle 2 Jahre wiederholt werden soll. Nach den Daten von 2010 hat sich die Zahl der Konfessionsfreien nochmals verdoppelt, die Landeskirchen liegen noch bei 70 Prozent, der Rest sind Muslime und andere religiöse Bekenntnisse.

Andreas Kyriacou: Wobei die Zugehörigkeit zu einer Staatskirche nicht viel aussagt über religiöse Befindlichkeiten. Es gibt eine Studie von 2011, wo Religiosität, das persönliche Empfinden untersucht wurde. Danach haben etwa 2/3 ein distanziertes Verhältnis zu Religion, von denen sind aber noch viele Mitglied einer Staatskirche.

Die glauben nicht mehr an einen personalen Gott, eher vielleicht noch an eine diffus definierte höhere Macht. Aber nicht mehr an Gott, was aber das Fundament der monotheistischen Religionen ist. Dass es sich aber auch von den Strukturen her angleicht, dauert eben noch.

Die Reformierten sind im Sinkflug. Ein Teil der Leute treten zu den Freikirchen über, haben sich also in eine fundamentalistischeren Ecke umorientiert, oder sind ausgetreten, weil sie vom Glauben abgekommen sind, aber der größte Rückgang ist, weil ihnen die Mitglieder wegsterben.

Bei den Katholiken ist es etwas abgeschwächt, weil sie Migrationsgewinne vorweisen können. Jeder der sich in der Schweiz niederlässt, wird nach seiner Religion gefragt, und die Gemeindeverwaltungen schieben dann alle Protestanten den Reformierten Kirchen zu, die Katholiken eben zur röm. katholischen Kirche der Schweiz. Bei ihnen macht dies etwas mehr Sinn, weil die sich tatsächlich als Weltkirche verstehen. Wir haben sehr viel Immigration aus Ländern mit hohem Katholikenanteil : Portugal, Spanien, Italien, Osteuropa aber auch Süddeutschland.

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Wenn ich mir ansehe, was in den Städten ab 1970 passiert, dann wird deutlich, dass der Anteil der Konfessionslosen in den Städten höher ist, als in der gesamten Schweiz. Es gibt Gipfelpunkte in Genf 23 % und Basel 31 %. Es gab einen alten Grundsatz, aus dem Mittelalter, als es um Leibeigenschaft ging, der hieß: „Stadtluft macht frei!“

Reta: Das funktioniert immer noch. Das einfachste ist, wenn junge Leute in die Stadt zum Studieren gehen, dann haben sie die Möglichkeit aus der Kirche auszutreten, ohne dass dies im Heimatdorf bekannt wird.

 

Wird dies nicht zurückgemeldet!?

Reta: Nein, wenn sie in Zürich abgemeldet sind, gehören sie zur Zürcher Staatskirche, dann wird das nicht weiter gemeldet.

 

Ich habe Beispiele von Österreichern gehört, drei Frauen aus einem Verlag wollten aus der Kirche austreten, aber wenn sie dies getan hätten, würde es im Heimatdorf sofort von der Kanzel verkündet werden. Und um die Großmütter und Eltern zu verschonen, bleiben sie lieber formal in der Kirche.

Valentin: Das ist auch von Kanton zu Kanton verschieden. Im Wallis ist das Austreten nicht leicht. Ich nenne das Wallis gern scherzhaft Vati-kan-ton. Wir hatten den Fall einer Freidenkerin, bei welcher der Austritt bis zur vorliegenden Bestätigung der Pfarrei mehr als ein Jahr dauerte. Sie musste mehrere Briefe schreiben, telefonisch nachfragen usw. Und wir als Sektion der FVS mussten behilflich sein und Druck machen. Schließlich haben wir sogar die Medien darüber informiert.

Es gibt schon Hürden, die aufgebaut werden, wie ein Zaun, weil man die Schäfchen nicht gehen lassen will. Andere Kantone machen dies viel sauberer. Es ist eben teilweise wirklich ein Problem.

Reta: Es sind nicht eigentlich die Kantone, sondern die kantonalen, staatskirchenrechtlich verfassten Kirchgemeinden oder die Bistümer.

Valentin: Die Katholiken lassen ihre Schäfchen weniger gern ziehen. Es ist bei uns, wie sicher auch anderswo, so, dass es sich ein selbständiger Schreinermeister sehr gut überlegen muss, ob er austritt. Denn in einem kleineren Dorf wird es doch bekannt, dass er nicht mehr dabei ist. Und dann fehlen eben nicht nur die Renovationsaufträge der Kirchen selber, sondern auch die privaten Dienstleistungen für die Leute im Dorf. Und aus diesen wirtschaftlichen Gründen sind sicher ganz viele Karteileichen in der Kirchenkartei begraben.

Das wird besser. Die Leute kaufen jetzt vermehrt einfach Dienstleistungen ein und nicht mehr nur, weil ein Firmeninhaber in derselben Kirche ist. Aber das dauert.

 

In 26 Kantonen gibt es 13 Sektionen der Freidenker. Korrespondiert dies auch mit dem Schwerpunkt in den Städten? Oder sind zwei Kantone in einer Sektion zusammengefasst oder gibt es Gebiete, die so schlecht zu organisieren sind, dass man dort nur eine Sektion bildet?

Valentin: Es gibt beides. Es gibt Kantone wo es mehr als eine Sektionen gibt. Die sind dezentral entstanden und die „Gebietsabtrennungen” sind auch nicht so genau definiert. Im Kanton Zürich gibt es die Sektionen Zürich und Winterthur und die Leute werden Mitglied bei der Sektion, wo sie sich tagsüber häufiger aufhalten oder wo sie eher zu Abendveranstaltungen hinkommen.
Es gibt leider auch weiße Flecken auf der Freidenker-Karte. Gebiete, wo eine Sektion versucht, zuständig zu sein, die aber tatsächlich nur sehr wenig aktive Mitglieder hat, wo es kaum lokale Aktivitäten gibt.

Andreas: Wir haben die beste Vertretung in den urbanen Räumen – die Sektionen in Zürich, Basel und Bern sind mit Abstand die stärksten Sektionen und dort dominieren auch die Mitglieder aus städtischen Räumen.
Dafür gibt’s sicher zwei Gründe: Einerseits ziehen die Städte säkular denkende Leute eher an, andererseits ist es einfacher, in dichtem urbanen Raum Veranstaltungen zu organisieren, die dann als Gegenwert einer Mitgliedschaft aufgerechnet werden. Und in den ländlichen Kantonen, wo dies schwieriger ist, müssen wir eingestehen, dass wir weniger bieten können. Da ist vielleicht der Anreiz, Mitglied zu werden, auch der Beitrag, um die Aktivitäten mitzufinanzieren etwas kleiner.

Valentin: Auch da gibt’s noch was zu ergänzen. Es gibt Kantone wo der „Leidensdruck“ höher ist. Die Walliser Mitglieder bei den Freidenkern sind vielleicht mehr sensibilisiert, weil die Kirche in so viele Bereiche des Lebens hineinspielt. Dagegen sagt ein Zürcher Stadt-Freidenker – wenn es so was typischerweise gibt – wohl eher, ich will Gleichgesinnte treffen, ich will Abendveranstaltungen. Der ist vielleicht viel humanistischer drauf. Es gibt Kantone, wo es leichter fällt sich zu engagieren.
Wir haben im Wallis auch nicht viele Mitglieder und es gibt noch viel zu tun. In Basel auch, aber es lebt sich als Freidenker schon ganz angenehm dort.

 

Basel ist ein Phänomen. In Basel gibt es die höchste Quote an Konfessionsfreien. Gibt es einen von außen benennbaren Grund? Demnach wäre in Basel der „Leidensdruck“ am geringsten. Gleichzeitig ist ja ein größeres Angebote in den Großstädten an anderen Veranstaltungen, gegen die man dann konkurrieren muss. Wie kommt das Phänomen Basel zustande?

Andreas: Basel hat eine besondere Geschichte. Es ist die einzige Stadt in der Schweiz, in der es eine sehr lange Uni-Tradition (seit 1460) gibt, die Universität in Zürich ist dagegen erst 180 Jahre alt. Aus Sicht des Vereins gibt es noch eine Besonderheit. Über Jahrzehnte gab es Sektionen, weil es mal eine Rechtsabspaltung von einer eher links ausgerichteten Sektion gab. Die Wiedervereinigung kam erst dieses Jahr nach sehr langer Vorbereitungszeit zustande. Mindestens während der Zeit, als sich beide Sektionen gegenüber der anderen positionieren wollten, waren sie sehr aktiv. Dass die Basler so einen relativ hohen Organisationsgrad haben, hat also vielleicht sowohl mit der Stadtgeschichte wie mit der lokalen Freidenker-Geschichte zu tun.

 

Konfessionsfrei zu sein heißt ja nicht, Freidenker zu sein. Das Problem, welches ich auch in Deutschland sehe, ist, dass viele Säkulare, die ich kenne, sagen: Warum soll ich mich organisieren. Ich habe doch gerade das Brett vorm Kopf an die Kirche abgegeben. Warum soll ich mir ein neues drauf legen. Das Prinzip dass sich Freidenker prinzipiell nicht organisieren wollen und eher sagen, das brauche ich nicht, ich bin selbstverantwortlich, bin selbstbestimmt, ist ein Problem in der Organisationsstruktur. Wir leben in einer Verbändedemokratie, wo nur die Verbände gehört werden. Wenn man sich nicht organisiert, hat man im politischen Raum weniger Darstellungsmöglichkeiten.

Valentin: Man muss ja verschiedene Dinge abzudecken versuchen. Man sollte möglichst positiv sein. Die Freidenker sind auch nicht einfach nur kirchenkritisch und antiklerikal. Der Humanismus ist ein wichtiger Punkt, auch dass wir Dienstleistungen für unsere Mitglieder anbieten, wie beispielsweise weltliche Rituale. Die sind inzwischen sehr gefragt. Und man muss vieles unter einen Hut bringen und den Leuten aufzuzeigen versuchen, warum es sich lohnt, dabei zu sein. Und das fällt eben mitunter schwer, weil es wie mit einer Herde Katzen ist, wenn man Freidenker, Humanisten, Atheisten hat. Es sind eben alles Einzelgänger. Die meisten sehen aber dann doch ein, dass es notwendig ist, sich irgendwie zu organisieren, mit einer Stimme zu sprechen und gehört zu werden. Aber es liegt an uns, dass wir den Leuten begreiflich machen, was für einen Mehrwert es für sie darstellt, wenn sie einen finanziellen Beitrag beisteuern oder sich aktiv einbringen.

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Ein deutscher, konservativer Politiker, der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU im Bundestag, von dem wurde gesagt, dass es sein Kindheitstraum war, Zirkusdirektor zu werden. Die Frage ist, ist er heute als Fraktionsvorsitzender da angelangt, wo er als Kind hin wollte? Deshalb die Frage an Reta Caspar, hast Du als Geschäftsführerin mit der Tagesarbeit, mit Anfragen und Mitgliederbetreuung mehr zu tun, als die beiden anderen Gesprächspartner? Ich will nicht sagen, dass Du die Zirkusdirektorin der Freidenker der Schweiz bist, aber ich habe das Gefühl, Leute gibt’s nicht auf einfach.

Reta: Ich fühle mich manchmal eher wie die Mutter und Psychologin des Vereins, weil immer die komplizierten Leute bei mir landen. Das ist vielleicht auch ein Charakteristikum, dass wir attraktiv sind für Leute, die eine etwas spezielle Persönlichkeit haben … und dann mit ihrer eigenen Agenda kommen und versuchen, diese bei uns unterzubringen.

Ich möchte aber zur Aussage, Rituale seien gefragt, noch etwas präzisieren. In den letzten Jahren ist die Nachfrage ziemlich konstant geblieben. Zwei Drittel der Rituale, die wir durchführen, werden von Nicht-Mitgliedern nachgefragt. Eher typisch für unsere Mitglieder ist, dass sie dieses Angebot nicht nutzen. Das hat zum Teil damit zu tun, dass die Vereinigung immer noch ziemlich überaltert ist. Viele der älteren Generation lehnen das Rituelle eher ab. Nicht unbedingt als Reaktion gegen eine religiöse Prägung aus der Jugend, sondern weil es ihnen genügt, dass ihre Asche von der Familie irgendwo deponiert wird, ohne große Worte.
Ich denke aber, da ist ein Generationenwechsel im Gange, es wird deutlich, dass jüngere Leute eher wieder das Gefühl haben, dass etwas mehr Festlichkeit gut tut.
Als Geschäftsführerin fällt mir in der täglichen Arbeit vor allem das grandiose Nichtwissen über das Verhältnis Staat-Kirchen auf, bei Politikern, Journalisten etc. und ihr Staunen, wenn man sie mit ein paar Fakten konfrontiert. Ich erkläre ihnen dann jeweils, dass sie mit Mythen geimpft wurden …

Gegen diese Mythen anzukämpfen ist unsere Aufgabe, aber es ist sehr anstrengend.

Ich habe mal geschaut, welche Dienstleistungen die Freidenker anbieten - Lebenshilfe, Rechtsberatung, Rituale Willkommen, Heirat und Abschied, Wegbegleitung, Kirchenaustritt, Versorgung, Testament, Organspende usw. Es ist ja ein ganzes Paket, was da angeboten wird. Und wenn 2/3 von denen, die das in Anspruch nehmen, nicht Mitglied bei den Freidenkern sind (und es scheinbar auch nicht werden wollen), wieso folgt dann bei so Wenigen die logische Konsequenz: „Wenn das für mich gut war, dann möchte ich dies unterstützen, damit diese Organisation das auch für andere Leute anbieten kann.”

Andreas: Ich finde das aber auch nicht sonderlich empörend. Es ist wohl einfach die etwas bequeme Einstellung vieler Menschen. Natürlich, es wäre für uns hilfreich, wenn wir doppelt so viele Mitglieder hätten. Das Wenige an Bezahlarbeit, was wir vergüten, können wir uns rein rechnerisch kaum leisten.
Ich finde es nicht sonderlich schlimm, wenn jemand etwas berechnend ist und sich die Frage stellt, was er oder sie davon habe. Ich bin auch bei -zig Organisationen nicht Mitglied, obwohl ich denke, dass die was Sinnvolles machen. Einfach weil ich nicht bei Dutzenden Vereinen dabei sein kann.

Es liegt tatsächlich an uns, auf diese eine Marketingfrage, die sich die Leute stellen: „What’s in it for me?” eine gute Antwort zu haben. Wir haben uns in einem Workshop darüber unterhalten und eine Schlussfolgerung war, vielleicht streichen wir zu sehr, auch in unserer aktuellen Image-Broschüre, heraus, was wir denken, wie wir weltanschaulich ticken und erzählen zu wenig, was wir tun. Das betrifft das Dienstleistungsangebot, das betrifft aber auch die Politarbeit, auch die, welche nicht immer gleich Schlagzeilen produziert, Stellung nehmen bei politischen Prozessen, versuchen Einfluss zu nehmen.

Wenn wir den Leuten besser erklären, was wir tun, dann ist vielleicht die Motivation auch höher. Aber grundsätzlich sprechen Freidenker an, dass sie nicht unbedingt als erstes das Bedürfnis haben, sich mit anderen Freidenkern zu organisieren. Das finde ich nicht erstaunlich.

Valentin: Das ist eben ein bunter Haufen. Manche suchen das. Wir haben ja auch „Abendhock” und Stammtisch. Es gibt durchaus eine Klientel von treuen Leuten, die stets gerne dabei sind. Wer nicht glaubt, ist eben auch nicht alleine. Das ist in manchen Regionen ganz gut, wenn man das weiß. Es gibt auch „Skeptics in the pub”. Es gibt diese Socialevents, die sind wichtig, aber die sind nicht ritualisiert. Es ist also nicht jeden Sonntag dieses Socialevent, was auch schon auf soziale Kontrolle hinausgeht. Der katholische Glaubensgottesdienst ist eben auch Kontrolle, zumindest gewesen.
 

Es ist beides – Geborgenheit und Kontrolle. Das sind zwei Facetten… Ich habe manchmal den Eindruck, bei den Religionen werde ich als Kind zwangsläufig da hineingetragen, werde getauft, ich wachse in den Strukturen auf und bin einfach Mitglied, kenne die Rituale, nehme sie auch für mich in Anspruch in dem Bedürfnis wichtige Abschnitte im Leben, Partnerschaft, Kind, Sterben rituell zu überhöhen und dem einen besonderen Charakter zu geben. Und es gibt viele Gründe für ihn, nicht auszutreten. Die Tatsache, dass 2/3, der Menschen, welche diese Dienstleistungen in Anspruch nehmen, nicht die Konsequenz ziehen, Mitglied der Organisation zu werden, zeigt eigentlich, dass sie sich (noch) nicht dazugehörig fühlen, obwohl sie sich ja eigentlich als Freidenker bekennen.

Andreas: Es gibt unzählige freie Ritual-Anbieter. Ein Teil davon ist noch stark im religiösen Umfeld verhaftet, aber es gibt auch solche, die sehr klare, säkulare Angebote machen. Und es gibt ein esoterisches Angebot, das seine Kundschaft findet. Die Zahl der Leute, die ein Ritual suchen, das nicht traditionell kirchlich geprägt ist, ist relativ groß. Nur sind wir da letztlich ein kleiner Anbieter unter vielen.

Valentin: Thema Mitgliedschaft. Da müsste man das Ganze mal umdrehen. Was wir nicht tun, ist, auf Jugendliche in diesem Sinne losgehen. Wir veranstalten das Camp Quest, ein humanistisch-wissenschaftliches Sommerlager, aber da geht es nicht um Freidenker-Indoktrination. Bei weitem gefehlt. Wir kritisieren da auch nicht Kirche. Es ist einfach eine spaßige Woche, ein interessantes Angebot.

Ich habe das mal in einer Kolumne geschrieben und einen Fragebogen dazu kreiert. Alle 3-4 Jahre  müssen die  Kirchenmitglieder einen Fragebogen ausfüllen und belegen, dass sie immer noch in ausreichendem Maße mit den Grundsätzen und Ideen der jeweiligen Kirche übereinstimmen, bei den Katholiken z. B. Fragen aus dem Katechismus. Falls sie nicht die nötige Punktzahl erreichen, werden sie aus der röm.-kath. Kirche ausgeschlossen oder automatisch in die evangelisch-reformierte Landeskirche umverteilt. Das würde die Reihen der Kirchenmitglieder ganz schnell lichten. Und das würde dann eben auch den politischen Einfluss der Kirchen zurecht stutzen.

Wie viele Leute sind einfach dabei, weil sie reingeboren wurden? Es ist keine willentliche und wissentliche Entscheidung bei ganz, ganz vielen dieser Leute.
 

Ich hatte mal so eine Idee, dass Kinder, die mit der Firmung oder der Konfirmation, wenn sie also religionsmündig werden, das Glaubensangebot der Eltern nicht bestätigen, bei den Kirchen automatisch aus den Registern gestrichen werden müssten. ... Es sind ca. 20 Prozent eines Jahrgangs, die sich nicht firmen lassen. Da müsste der Staat, denn durch die Taufe wird ja eine zivilrechtliche Mitgliedschaft hergestellt, die Streichung verlangen können.

Reta: Der Staat lässt sich als Erfüllungsgehilfe für die Kirchen instrumentalisieren, weil bei Religionsmündigkeit (in der Schweiz mit 16 Jahren) die registrierte Konfession nicht bestätigt werden muss. Es gibt viele junge Leute, die erst später aufwachen, wenn sie mit 18 erstmals die Kirchensteuer auf ihrem Steuerformular sehen.  Denen dann erst klar wird, dass die Mitgliedschaft auch etwas kostet.
Man sieht es auch beispielsweise im Kanton Neuenburg, wo es eine Kirchensteuer gibt, die keine Pflicht ist. Da ist die Zahl der Kirchenmitglieder überdurchschnittlich. Es gibt dort sowohl die staatliche als auch die kirchliche  Steuerrechnungen. Der Staat verschickt beide, treibt aber die Kirchensteuern nicht ein.

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Das ist wie in Österreich, die Kirche muss den Beitrag selber einbringen.
        
Reta: Nein, der Kanton Neuenburg verschickt die Rechnung für die Kirchensteuer sogar und zwar gratis. Aber sie ist gemäß Kantonsverfassung freiwillig, d. h. die Kirchen könnten zwar Mahnschreiben schicken, aber rechtlich haben sie keinerlei Handhabe. Wo aber die Kirchensteuer freiwillig ist, fällt auch eine Motivation zum Austreten weg.

Andreas: Ich meine, so lange der Staat dann nicht Einnahmen von den weltlichen Steuern umleitet auf die Kirchen, kann es uns ja egal sein, wie sich die Leute privat organisieren und wir nicht einfach ihr Hobby über Gebühr mitfinanzieren müssen ...
         
Reta: Die Neuenburger müssen zwar die Kirchensteuer nicht bezahlen, aber sie zahlten indirekt über allgemeine Steuern mit, wenn die Kirchen für jede Abdankungsfeier 1000 Franken vom Kanton erhielten. 2011 hat dann die Regierung beschlossen, dass solche religiöse Feiern nicht im öffentlichen Interesse seien und deshalb nicht mehr subventioniert würden. So gibt es in jedem Kanton ganz verschiedene Verflechtungen. Von außen sieht es manchmal relativ liberal aus, aber genau besehen werden fast überall unter unterschiedlichen Titeln allgemeine Steuermittel an die Kirchen transferiert.

Andreas: In vielen Kantonen gibt es solche versteckte Beiträge. Der Kanton Zürich leitet z. B. jedes Jahr 50 Mill. Franken aus den Steuereinnahmen von Privatpersonen und Unternehmen, an die Kirchen um. Begründet wird das beispielsweise mit Seelsorgetätigkeiten in Spitälern und Gefängnissen. Dort haben aber die beiden großen Staatskirchen eine Monopolstellung. Man könnte dort gar kein säkulares Angebot beziehen, weil da kein anderer geduldet wird. Es gibt dort also ein gesichertes Einkommen, weil nur der Kirche diese Nische zugestanden wird. Damit rechtfertigt dann der weltliche Staat diese Dauerfinanzierung.

Valentin: Unsere Aufgabe ist in dem Sinne auch, Sprachrohr zu sein, also zu kritisieren, wenn einer auftritt, z. B. ein Bischof und so tut, als ob er fast für alle spräche. Ich denke fast, das mag überheblich klingen, aber wenn ich im Wallis das „Maul” aufmache, dann spreche ich mehr Leuten aus dem Herzen und dem Hirn, als das der Bischof tut. Und trotzdem lassen ihm Journalisten viele Äußerungen unkritisch durchgehen, auch die Gesellschaft insgesamt lässt es durchgehen, als ob kirchliche Funktionäre wirklich, kraft ihres Amtes eine besondere ethische Stellung hätten. Und unsere Aufgabe ist es, zu vermitteln, dass das Gegenteil der Fall ist.
Wir sprechen mehr Leute an, indem wir gleiche Rechte für Homosexuelle fordern. Wenn wir sagen, dass es egal ist, ob jemand geschieden ist oder nicht und so weiter. Ebenfalls was Sexualmoral und Rechte am Lebensende betrifft.

Es ist für mich sonnenklar, dass wir da für einen riesigen Teil der Bevölkerung sprechen. Es ist unsere Aufgabe, auch Politikern beizubringen, dass sie nicht nur nichts verlieren, wenn sie sich säkular geben, sondern dass sie sogar etwas zu gewinnen haben.

Wir müssen den Leuten die Angst nehmen, kirchenkritisch zu sein. Das muss sich dann in unserer Demokratie und in Wahlergebnissen widerspiegeln. Und irgendwann in den nächsten 20 Jahren wird es so sein, dass dieser Damm bricht. Und dann werden viele politischen Parteien behaupten, sie wären ja schon lange oder sogar schon immer für die Trennung von Kirche und Staat gewesen. Das wird irgendwann kommen. Und vielleicht werden dann sogar die Kirchen versichern, sie hätten das auch schon lange gewollt, Religiöse seien ja eigentlich auch irgendwie verkappte Humanisten. Ich freue mich schon drauf.

 

Gibt es Prominente in der Schweiz, die man nutzen könnte, zumindest mit dem Promi-Faktor. Zum Beispiel in Schweden gibt es Björn Ulvaeus, der 2005 Mitglied des schwedischen Humanistenverbandes geworden ist. Er ist als Sänger von ABBA einer der großen Musiker und sehr bekannt in Schweden. Der hat mal gesagt, wenn ich mir so anschaue, wie die Religionen wieder Fuß fassen und auch Diskurse bestimmen, auch der Islam als Sondervariante, muss ich mich auch klar gesellschaftlich bekennen, wozu ich stehe. Ich stehe für die Friedliebenden und das sind die Humanisten. Das will ich mit meiner Prominenz befördern. Das haben wir auch in Berlin gesehen. In der Pro Reli/Pro Ethik Auseinandersetzung haben dann die ProReli-Leute ihren Willen mit Prominenten wie Günter Jauch u. a. plakatiert. In wieweit ist das auch für Freidenker eine Chance, wenn es denn 2-3-4 prominente Freidenker gibt (Schauspieler, Wirtschaftsleute) diesen Dammbruch, diese Schwelle, dass man nicht darüber spricht säkular zu sein, aufzuweichen.

Valentin: Ich kenne Radio- und Fernsehmoderatoren und wenn man bei denen war, sagen die danach im Gespräch, ich bin ja auch..., aber ich darf nicht! Dann müssen wir eben mithelfen, dass denen wieder Hoden wachsen oder dass deren Rückgrat stärker wird. Wir sollten es hinbekommen, dass diese Promis auch sagen können: Ich glaube nicht, ich bin säkular. Dass man vielleicht sogar einen Fußballstar dazu bewegen könnte, öffentlich zu sagen, dass es für ihn ganz selbstverständlich ist, dass er Humanist und Freidenker sei. Es ist wohl einfach eine Frage der Zeit.
           
Reta: Es gibt immer wieder Prominente, die sich als nichtreligiös outen – aber sich für die Freidenker einspannen lassen, das ist eine andere Geschichte. Das hat auch mit dem Image der Freidenker zu tun. Ich bin ja mit den Freidenkern in Berührung gekommen, als ich etwa 20 Jahre alt war. Damals bin ich praktisch gleichzeitig mit meinen Eltern aus der Kirche ausgetreten. Mein Vater hatte damals Bedürfnis, sich irgendwo anzuschließen, und ging zu den Freidenkern. Ich mit meinen 20 Jahren hatte dieses Bedürfnis nicht. Er hat mir viel erzählt, und er hat mich später immer zitiert, dass ich damals gesagt hatte, ja das ist schon gut, aber ihr seid ja eine Negativvereinigung.

Das höre ich heute immer noch, dieses Image haben die Freidenker. Die meisten Menschen möchten „für-etwas-sein”. Das habe ich damals auch so empfunden mit 20. Heute habe ich eher eine Haltung, die sich an einer negativen Ethik orientiert und denke, „gegen etwas sein” ist schon sehr gut, wenn man weiß wogegen man sein muss.

Wir haben schon oft über andere Vereinsnamen diskutiert. In der Schweiz ist der Name Humanist ein bisschen blockiert, weil es die Humanistische Partei gibt. Wenn man im Internet schaut, erscheint die noch, praktisch läuft aber nichts. Sie blockieren nur den Namen. Mittlerweile sind wir auch unter dem Namen Freidenker durch verschiedene Aktionen bekannt geworden, da macht ein Namenswechsel wenig Sinn.

Die Namensfrage ist aber vor allem eine Frage der Ausrichtung. Was die Freidenker bisher vereint, ist die Frage der Trennung von Staat und Kirche. Sobald es darum geht, positiv weitere, z. B. humanistische Ziele zu setzen, dann ist der Konsens schwieriger.

Positiv zu sagen, wie etwas sein muss, ist sehr schwierig, da gibt es viele Möglichkeiten. Es ist einfacher zu fordern, ein bestimmter Missstand z. B. die Verflechtung von Kirche und Staat, muss weg.

Ich habe aber schon vor 2 Jahren angemahnt, dass man in unserem Verband die Diskussion führen müsste, ob wir uns thematisch erweitern. Ich finde es nicht gut, wenn wir uns schleichend zu einem Humanistischen Verband entwickeln, das muss strukturiert gehen, das müsste mit klaren Papieren verbunden sein, damit man auch weiß, was man darunter verstehen will. Bisher wollte man lieber keine großen Diskussionen.

Solange wir uns auf die Frage Trennung Kirche und Staat beschränken, haben wir intern keine Probleme. Sobald wir positiv irgendwelche sozialen Fragen angehen, kommen wir auch mit den Libertären, die es unter den Freidenkern gibt, in Konflikt, weil die den Staat zurückdrängen wollen. Und damit wird es sehr, sehr schwierig.

Valentin: Es gibt meiner Erfahrung nach schon Bereiche, wo es einen guten Konsens gibt, auch als Teil in der Auseinandersetzung mit traditionellen religiösen Positionen, wo man humanistische Positionen als Kerngeschäft ansieht, wie z. B. der Einsatz für die Sterbehilfe. Da gab es auch Druckversuche, die in der Schweiz zu erschweren. Es gab den Versuch, das Recht auf Abtreibung zu erschweren und die Hürden höher zu setzen.

Wir haben eine Sammlung der Eigendeklarationen gestartet, was die Freidenker sind oder was sie sein sollen. Es ergaben sich drei Felder - Trennung von Staat und Kirche, Kirchenkritik, als traditionellstes Kerngeschäft. Als zweites den Säkularismus, Humanismus, Wissenschaft, kritisches Denken usw. Das dritte ist schon unser Dienstleistungsangebot, das sind die Rituale und Veranstaltungen. Und bei den Veranstaltungen ist es wichtiger, Debatten über aktuelle Themen zu ermöglichen und zuzulassen, statt pfannenfertige Positionen zu präsentieren.

Andreas: Wir haben begonnen, neben dem Welthumanistentag auch den Menschenrechtstag mit einem Veranstaltungsprogramm zu versehen. Und da führen wir eher Debatten, als dass wir vorgeben, die abschließende Lösungen zu kennen. Auch beim Denkfest wird präsentiert, debattiert und der Wissenschaft eine Bühne gegeben. Themen und Fragestellungen um Speziesismus, Transhumanismus und  Biotechnologien sind kontroverse Fragen, bei denen die Freidenker keine abschließende Grundposition haben müssen. Wir sollten uns darum kümmern, dass die relevanten Fragen überhaupt diskutiert werden.

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Mir hat der frühere Vorsitzender vom Bund für Geistesfreiheit Bayern mal erzählt, dass sie eine Gesinnungsgemeinschaft mit einem Set von gemeinsamen Grundsätzen seien und wer die teilt, ist willkommen. Er sagte, wir hüten uns, unsere Grundgesinnung und Grundsätze in kleine politisch-praktische Umsetzungen umzumünzen. Das kann und soll jedes Mitglied tun, wie er es für richtig hält. Innerhalb der Organisation würde es sonst riesige Diskussionen geben mit dem Resultat, dass es nur noch zwei Mitglieder geben würde, welche sich dann auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner einigen.

Andreas: Die evangelische Volkspartei und die Grünliberalen, eine im säkularen Spektrum angesiedelte Partei, haben bei den Wahlen im Kanton Bern eine Koalition vereinbart und da sei Reta zitiert, die sagt, «ich kandidiere dort nicht, sondern ich kandidiere auf der Liste Trennung von Staat und Kirche für den Großen Rat.» Das sind zwei Beispiele, wo sich verschiedene politische Optionen auch verschieden politisch darstellen.

Valentin: Grundsätzlich sind wir parteipolitisch neutral, wir sind überparteilich. Wir haben FDP-Mitglieder, wir haben Grüne, rote Mitglieder usw. Diese Breite ist wichtig. Tatsächlich gibt es in unseren Reihen aber wohl nur sehr wenige CVP-Mitglieder (Christliche Volkspartei)...

Da gab es mal eine Gruppe „Alpenparlament“, im Sommer 2013, und da hat der Freidenkerverband ganz explizit erklärt, mit denen weder personell noch sonst wie etwas zu tun zu haben....

Reta Einwurf: ... ja da gab es ein öffentliches Dementi. Die haben sich als Gruppe von Freidenkern bezeichnet. Und da wurde eine Abgrenzung nötig.

Andreas: Wir können ja auf gewöhnliche Begriffe im deutschen Sprachgebrauch kein Monopol beanspruchen. Aber da war es nötig, dass verstanden wird, dass die keine Affinität zu unserer Organisation haben. Das Alpenparlament ist ein Kreis von Verschwörungstheoretikern.
 

Ich finde das sehr spannend, einerseits die Abgrenzung von Trittbrettfahrern...
               
Reta: Ich glaube nicht, dass das Trittbrettfahrer sind, das Wort Freidenker ist im Schweizer Sprachgebrauch verbreitet für Leute, die ein bisschen quer denken, ohne dass die Leute, die das schreiben irgendein Bewusstsein darüber haben, dass es eine Freidenkervereinigung gibt.

Es gibt auch Leute, die uns anfeinden, weil sie aus dem Namen schließen, wir dächten, dass nur die Freidenker frei denken und andere nicht. Dann muss ich jeweils erklären, dass das ein rein historischer Name ist und nicht irgendetwas aussagt über die generellen Denkaktivitäten.

Ich möchte noch mal auf die Gesetze zurückkommen. Die Schweiz hat ja eine Gesetzgebung, die der Sterbehilfe einen Raum gibt. Obwohl sich die Kirchen mit der Sterbehilfe schwer tun, gibt es in der gesetzgebenden Körperschaft wie auch in der Bevölkerung eine Mehrheit, die sagt: Ich möchte über mich selber auch selber entscheiden. Das ist doch ein riesiges Potential von einer Grundstimmung eines Selbstbestimmungsrechtes, was die Menschen für sich beanspruchen, jenseits von Parteien und Religionen.

Valentin: In diesem Bereich tickt die Schweizer Bevölkerung mehrheitlich sehr gesellschaftsliberal. Da, wo es um sehr persönliche Entscheidungen, das eigene Leben geht, da ist das Verlangen, selbst bestimmen zu können sehr groß. Man weiß aber auch, dass es keine große Not hat, sich da zu engagieren. EXIT hat etwa 70.000 Mitglieder. Die werden durchaus als Dienstleister angesehen. Ich denke aber nicht, dass da jedes Mitglied aus persönlicher Vorsorge dabei ist, sondern weil man weiß, die tun was für andere und engagieren sich in der Debatte und im politischen Prozess. Sie haben viel weniger Schwierigkeiten sich zu erklären, weil sie sich nur auf dieses eine Thema beschränken und sich nicht nur positionieren, sondern auch ein entsprechendes Dienstleistungsangebot haben. Da weiß man ganz genau, was in dem Paket drin ist und was nicht.

Reta: EXIT hat insofern bessere Voraussetzungen, weil sie einen status quo verteidigen, während wir einen status quo ändern wollen. Es ist immer einfacher zu sagen, dass der status quo gut ist und es ist einfacher diesen politisch zu transportieren, als eben zu sagen, dass man etwas ändern muss, weil es schlecht ist.
 

Ich sehe ein Problem bei Single-purpose-movements, also, so wie „EXIT” nur ein Thema zu haben, in Deutschland ist es gerade so, dass dann die evangelischen Leute sagen, aber irgendwo sind wir doch alle Humanisten. Aber evangelische Gläubigen haben eine Grundkonsistenz religiös zu sein, an bestimmte sittliche Normen zu glauben, die nicht im weltlichen Diskurs entstanden sind, sondern durch irgendeine autoritäre Instanz gesetzt worden sind. Man muss sich dagegen zur Wehr setzen, dass man vereinnahmt wird, dass wir alle irgendwie Humanisten sind. Die Frage ist, ob es den Freidenkern nicht genauso geht, dass eine Zustimmung da ist, sei es punktuell oder generell, aber dafür muss man sich ja nicht organisieren. Es geht ja auch so.

Reta: Es ist ja auch eine gewisse Spannung. Eigentlich bin ich als Freidenkerin der Meinung, dass es niemanden etwas angeht, was ich persönlich glaube oder nicht. Wenn ich mit Leuten, die aus der Kirche austreten wollen, spreche, sehen sie dies als ihre persönliche Frage an. Das ist ihr Recht. Ich versuche sie dann darauf hinzuweisen, dass es da immer noch eine politische Dimension gibt, weil eben die Situation noch nicht so ist, dass es eine rein persönliche Frage ist. Das ist für uns eine der schwierigsten Hürden, dass die Menschen verstehen, dass mit dem eigenen Kirchenaustritt zwar die eigene, direkte Verbindung mit der Kirche gekappt wird, dass sie aber über das politische System eben doch noch sehr stark verbunden bleiben. Es braucht also immer auch die politischen Bewegungen.

Wir sahen auch bei der Mitgliederbefragung, die in Zürich gemacht wurde: Mitglied ist man nicht, weil man persönlich vom Verein viel will. Sie wollen, dass wir politisch aktiv sind und ihre Interessen vertreten. Menschen, die ausschließlich eine Sonntagsversammlung oder gesellige Zusammenkünfte suchen, die werden bei uns nicht Mitglied, die schließen sich eventuell eher esoterischen Kreisen an. In Zürich könnte man probieren, eine Sonntagsversammlung zu organisieren, aber vielleicht etwas anders als in England, wo die „Sunday Assembly” extrem nah an einen Gottesdienst angelehnt ist.

Dass es in Städten, wo viele Leute stranden, viele sozial schlecht integriert sind, ein Bedürfnis gibt nach Treffpunkten von ähnlich Denkenden, wo man hin gehen, sich einfach mal anschließen, mal einfach rein schauen kann, das scheint mir klar.
Ich denke, dass man dies auch für Konfessionsfreie anbieten muss, dass man z. B. am Welthumanistentag etwas Leichteres anbieten könnte. Ich finde es gut, wenn ihr in Zürich zum Menschenrechtstag ein paar kernige Fragen stellt, aber zum Welthumanistentag dürfte es auch ein bisschen relaxter sein. Letztes Jahr hat die Sektion Bern zum Beispiel „Sangrìa und Geschichten“ am Bielersee angeboten. Einfach eine Gelegenheit, an der man ungezwungen zusammen kommt, interessante Leute trifft, ein paar Geschichten hört, die man selber noch nicht gelesen hat, und sich unterhalten kann. Die Teilnehmenden waren begeistert und wünschten eine Wiederholung. Die Veranstaltungen, die in Zürich laufen sind alle gut, aber alle intellektuell anspruchsvoll. Manche Leute suchen eben mehr das gesellige, das heimelige Gefühl.

Valentin: Wir im Wallis haben ja jeden Monat den „Stamm am Abend”. Der ist sehr unterschiedlich besucht, je nachdem was sonst so läuft, ob Fußball ist oder wie das Wetter ist. Das ist ein sehr unaufgeregtes, gemütliches Beisammensitzen und Diskutieren.

Aber der entscheidende Unterschied ist, bei den Sunday Assemblies, das ist wie ein Gottesdienst. Da sind Leute die sich das angenommen haben, so etwas wie Priester, das zu zelebrieren, die Leute kommen, nehmen daran teil, es ist ein Event, sie werden unterhalten, fühlen sich angesprochen und bestätigt und gehen wieder. Dann geben sie sogar noch eine kleine Spende. Dieses aktiv sein, sich einbringen ist da ganz weit zurückgegangen… Wenn man den ganzen Tag arbeitet, auch die ganze Woche gearbeitet hat, hat man ein ganz legitimes Interesse unterhalten zu werden, Entspannung zu haben.

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Reta: Für Singles ist an Sonn- und Feiertagen das Angebot an Treffpunkten deutlich schmaler. Zürich wäre für mich schon mal einen Test wert, ob man Leute ansprechen kann. Es gibt auch ein Bedürfnis bei älteren Leuten, die das jahrelang nicht vermisst haben, aber eben als ältere Menschen, wenn sie allein sind und die Freunde weggestorben sind, wieder suchen. In Winterthur gab es eine Zeitlang ein Sonntagsfrühstück und die alten Leute fanden das toll. Die alten Berner Mitglieder schwärmen auch von jenen Zeiten, als es im Freidenkerhaus in Bern gemeinsame Essen gab. Da ist heute eine Lücke entstanden.

Valentin: Es gab mal einen Versuch, ein Sommerfest zu machen, aber das wurde dann sehr schlecht besucht. Der Welthumanistentag war jetzt auch wieder an einem Samstag und schlechter besucht als bisher. Das kann aber auch mit der Fußballweltmeisterschaft zusammenhängen. Aber Samstag scheint Familientag zu sein. Unsere Mitgliedschaft ist sehr divers und es ist sehr verständlich, dass die Familie dem Vereinsleben vorgezogen wird.

Andreas: Ich würde von Sunday Assemblies wohl weit weg rennen. Also, wenn ich gezwungen würde in einen Raum mit anderen zu singen, dann fühlte ich mich sehr unwohl. Aber ich lehne mich überhaupt nicht dagegen auf, so was anzubieten. Bei uns würde dies wohl zu viele Ressourcen binden. Aber ein Sonntagsbrunch, wieso nicht. Vielleicht nicht gerade im Wochen-, aber im Monatsrhythmus. So etwas eher Niederschwelliges, aber dazu brauchen wir erst mal ein passendes Vereinslokal.... Wir machen ziemlich viel in Zürich, das bindet natürlich unsere Ressourcen. Ich bin mir nicht sicher, ob wir jetzt als erste Zuständigkeit das reine Unterhaltungsangebot auf uns nehmen müssen, was ja in Zürich auch sonst nicht allzu schmal ist.

Valentin: Es gibt ja die Chringles, eine christliche Singlebörse in der Schweiz. Vielleicht müssten wir die Fringles haben, also die Freidenker-Partnerbörse. (Lachen) Tabulos. Offen. Philosophische und fleischliche Höhepunkte garantiert ...
Die Nationalbibliothek ist jetzt dabei, die alten Jahrgänge unserer Vereinszeitschrift zu digitalisieren. Heute heißt unsere Zeitschrift “frei denken”, früher Freidenker und Freigeistiges Magazin. Wenn man in früheren Ausgaben blättert, findet man tatsächlich Partnerinserate, wie etwa “freigeistige Frau im Raum Basel sucht…” Es hat sich eben alles geändert. Die Bedürfnisse und das Engagement ganz allgemein, die Vereinsvorstände haben Mühe, Leute zu bekommen. Das geht vom Fußballverein, die händeringend einen Präsidenten suchen bis zum Quartierverein. Es ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen.

Die Leute kaufen sich die Freizeitbeschäftigung vermehrt ein, es wird weniger über Vereine und Gratis-Arbeit organisiert. Darüber müssen wir uns im Klaren sein. Mir jedenfalls bereitet ganz vieles in der Bewegung Spaß. Es bereitet mir Spaß mit Leuten zusammen zu arbeiten, es sind interessante Leute, interessante Begegnungen und wir sind ja nicht die ganze Zeit bierernst, es ist auch Humor da.

Es ist mittlerweile eigentlich schon sexy genug, neutral und religionsfrei zu sein, die junge Generation ist das schon. Es ist bedauerlich, dass wir das nicht so gut organisieren können, und dann mit einer Stimme oder wenigstens in einem einigermaßen organisierten Sprech-Chor reden können und unsere Interessen vertreten. Wir sind aber eben nicht Kirche. Und gerade aus der Kirche laufen die Leute ja weg und raus.

Ich weiß jedenfalls, dass ich im richtigen Zug hocke, vielleicht sogar im vordersten Wagen mit im Führerlokal, wo wir die Geschwindigkeit des Zuges mitbestimmen. Die Säkularisierung ist unaufhaltsam. Die Schienen sind gelegt. Es geht jetzt nur noch um die Geschwindigkeit.

Reta: Ich habe mich eine Weile mit den philosophischen Cafés beschäftigt, als die so vor etwa 15 Jahren als Bewegung in der Schweiz aufgekommen sind. Ich bin da an verschiedenen Orten hingegangen und habe schon gemerkt, es gibt Leute, die suchen einen leicht strukturierten Rahmen, wo man reflektieren kann. Die philosophischen Cafés leiden jedoch darunter, dass sich profiliersüchtige Hobby-Philosophen in Szene setzen und die Diskussion dominieren.
Und deshalb haben diese Assemblies für mich ihre Berechtigung.

Valentin: Es gibt ganz verschiedene Leute, die ganz verschiedenes wollen. Es gibt junge Leute, die diese Schiene fahren wollen und andere haben andere spezielle Interessen und es hat Vieles Platz. Es geht ganz einfach darum, dass es jemand macht. Und wenn Ideen kommen und man fragt, ob sie das selber in die Hand nehmen wollen, dann ist plötzlich das Interesse weg. Man darf Interessen durchaus anmelden, aber darf nicht von den Freidenkern erwarten, dass die das dann auch alles umsetzen. Zu viel kann man als Einzelner nicht bewerkstelligen, es muss dann auch von anderen mitgetan werden.          

In Deutschland gibt es auch verschiedene Vereinigungen mit verschiedenen Profilen. Und der KORSO versucht ja auch die Profile zu schärfen, dass Interessierte auch merken, wer am besten wo Mitglied werden sollte und welches die Kernthemen der Organisationen sind. Die Schweiz ist wahrscheinlich zu klein, um in ihr eine kampfatheistische Volksfront und daneben noch die Volksfront der Antiklerikalen zu haben. In der Schweiz müssen die verschiedenen Strömungen und Meinungen irgendwie Platz haben bei den Freidenkern, denn hätten wir in der Schweiz 17 verschiedene säkulare Organisationen, würde das dann wohl irgendwie sektiererisch.
 

Wie seid Ihr selber zur Freidenkerbewegung gekommen?
           
Reta: Mein Vater hat sich in den 1970er Jahren, nach seinem Kirchenaustritt, den Freidenkern in Winterthur angenähert und dann macht man bei den Freidenkern relativ schnell Karriere... (Allgemeines Lachen) Für die, die etwas machen wollen, gibt es sofort freie Posten und so ist er bald Präsident von Winterthur geworden. Dann wurde die Geschäftsstelle frei und meine Mutter hat diese Aufgabe übernommen, alles ehrenamtlich.

Ich bin dann 1995 dazu gekommen. Nachdem der damalige Redakteur des „Freidenker“ wegen eines antisemitischen Artikels gefeuert wurde, wurde ich gefragt, ob ich dies nicht übernehmen könnte. Ich hatte das vorher noch nie gemacht und so bin ich ins kalte Wasser gesprungen.

Damals hat der Verein mehr oder weniger nur das Vermögen verwaltet. Und dann kam 9/11. In meiner Funktion als Redakteurin und Mitglied des Zentralvorstandes der Freidenker, habe ich dann gefordert, dass endlich etwas getan werden muss. Wenn man gesehen hat, wie die Kirchen im Zuge von 9/11 plötzlich mobilisiert und das Heil gegen den Terrorismus im Bekenntnis zur christlichen Konfession proklamiert haben, dann war klar, wir müssen an die Öffentlichkeit. Ich habe gesehen, dass man mit nur Freiwilligen einfach nicht weiterkommt. Es geht auch um eine tägliche Präsenz, man muss auch ansprechbar sein oder reagieren können. Da habe ich diese Stelle entworfen und jemanden gefunden, der das mit einer selbständigen Erwerbssituation kombinieren konnte.  Im Laufe der Zeit wurde er aber zu sehr von seiner Tätigkeit involviert, dass er für die Freidenker einfach zu wenig machen konnte. Im Jahr 2007 war ich gerade mit meinen Jura-Studium fertig und so haben sie mich gefragt, ob ich das nicht machen würde. Nach einer schlaflosen Nacht habe ich mich dafür entschieden.

In den dann folgenden Jahren habe ich viele junge Menschen gesehen, die sich mit neuen Ideen der Bewegung anschlossen. Das Thema „Trennung von Kirche und Staat“ ist ein Thema, das einen langen Atem braucht. Uns kam dabei zugute, dass wir in den 1940er Jahren ein Haus in Bern geschenkt bekommen haben, welches das Erscheinen der Zeitschrift  als Sprachrohr garantiert hat.

Ein Haus heißt, ihr habt Mieteinnahmen und die Differenz Mieteinnahmen vs. Bauerhalt ist dann der Betrag, der für die politische Arbeit zur Verfügung steht?
               
Reta: Ja. Es braucht einerseits Geld, aber es braucht auch Gestaltungswillen. Es gab zwischendurch eine jüngere Gruppe innerhalb der Freidenker, die auch verschiedentlich Vorschläge eingebracht haben, die aber von den Alten meist abgelehnt wurden. Die jungen Leute, die zum Teil einen großen Elan hatten, sind dann natürlich weg geblieben.

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Der Zentralvorstand ist aber vor allem ein Verwaltungsorgan, da geht es auch um Budgetfragen, was junge Leute weniger interessiert. Die wollen eher Aktionen machen und wollen sich meist nicht längerfristig engagieren.

Das ist eine meiner Fragen: Kann man auch eher projektorientiert arbeiten, wo junge Leute sich für ein paar Monate engagieren können und dann auch wieder in Ruhe gelassen werden. Das scheint mir eher das Lebensgefühl vieler jüngerer Leute zu sein. Trotzdem braucht es aber eben im Vorstand auch Leute, die für eine gewisse Kontinuität stehen.

Ein Problem ist, wenn langjährige Vorstandsmitglieder weggehen, dass ein Teil des historischen Wissens verloren geht. Wir sind zwar inzwischen durch das Internet wesentlich besser dokumentiert, aber es geht dennoch immer mal wieder etwas verloren. Ich hatte vor Jahren Jean Kaech, den früheren Co-Präsidenten, gebeten, etwas von seinem historischen Wissen aufzuschreiben, aber nun ist er bald 90 Jahre alt und ich kann ihn nichts mehr fragen. Er hat sich zurückgezogen und interessiert sich nicht mehr so.

 

Ich hatte auch einmal einen speziellen Eindruck, als ich mir die Staaten Europas anschaute, die so überschuldet sind, dass sie es nicht durch eigene Wirtschaftsleistung ausgleichen können. Portugal, Spanien, Italien und auch Frankreich – alle katholisch. Gibt es da irgendeine spezielle religiöse Dimension von Arbeitsethik, von Verantwortungsmoral? Ich habe einmal versucht, das Phänomen Berlusconi zu ergründen, und bekam von Italienern die Antwort, dass in Italien Macht und Moral nicht miteinander in Verbindung gebracht werden. Das sei eine typisch nordeuropäische, evangelische Moral, dass man als Besitzer von Geld und Macht ein Vorbild zu sein habe. Gibt es da eine Trennung zwischen katholisch und evangelisch? Der Katholik geht zur Beichte, ist nach Buße von seinen Sünden befreit und macht neue Schulden, während der Evangelische nur in die Einöde seines schlechten Gewissens gehen könnte und das mit sich selber klar bekommen muss?

Valentin: Das ist aber so eine Art Salon-Katholizismus. Man trifft sich dann gerne mit dem Abt von Einsiedeln, und gibt sich ein ethisches, ein spirituelles Mäntelchen, ein moralisches Feigenblatt, ... das kauft man sich dort ein, wenn man dem Kloster Tausende von Franken spendet. Zum anderen – ich bin kein Historiker – es ist so eine ‚what if’-Frage, was wäre geschehen, wenn Lenin, der hier ja im Berner Oberland war, seine Ideen hier umgesetzt hätte, wenn wir eine Sowjetrepublik der Schweiz gehabt hätten... Es ist schwierig, dazu etwas zu sagen.

Mich stört zum Beispiel in der aktuellen Finanzkrise, dass in Griechenland alle sparen müssen, aber die Kirche nicht. Es liefen da echt skandalöse Dinge, welche die konventionellen Medien viel zu wenig beachtet haben. Und wie das in der Zukunft aussieht, ob es einen speziellen, katholischen Weg eines Unternehmens gibt oder einen protestantischen ‚mind set’ im Business, das wage ich zu bezweifeln. Die Leute gehen doch heute, egal  ob sie aus einem traditionell katholischen Kanton stammen oder aus einem reformierten, an die Hochschulen und dort wird Ökonomie gelehrt. Ich bezweifle, dass Religiöses dort jetzt noch so viel Einfluss hat. Natürlich ist es ein anderer Startpunkt, wenn du in einer reichen Familie geboren bist und schon Millionen im Rücken hast, dann fällt es dir sicher leichter, etwas aufzubauen. Aber das hat mit Religion ja nun nicht wirklich viel zu tun.

Das ist sicherlich richtig.
           
Reta: Ja, aber historisch ist es wohl richtig, dass die Reformierten damit begonnen haben, als sie noch relativ arm waren, gegenüber einer reichen katholischen Kirche. Das war sicherlich eine Motivation, diese Armut zu überwinden.
Und es gibt, wenn es um die staatlichen Zuschüsse an die Kirchen geht, manchmal hinter vorgehaltener Hand, manchmal offener, auch innerhalb der Kirchen die Auffassung, dass die Kirchen in der Schweiz zu reich sind. Und Reichtum macht faul, stimuliert keine Innovationen, und so gibt es auch innerhalb der Kirchen einige Leute, die meinen, dass es der Kirche nicht schade, wenn diese Pfründen einmal wegfallen würden und man sich wieder etwas mehr anstrengen müsste.

Vielleicht sollte man einmal nach Rom schreiben... (Lachen)
               
Reta: Wir haben in der Schweiz den berühmten Bischof Huonder und der spielt in der Frage der Trennung von Kirche und Staat durchaus auf unserer Linie – natürlich mit völlig anderer Motivation. Und das ist der alte, nicht sichtbare Geldadel in der Schweiz, der dann die Kirchen schon noch stützen würde. Man sieht es immer, wenn irgendwo ein Kloster renoviert werden muss, da werden Unsummen gespendet. So wie Daniel Vasella, auch wenn es nicht sein eigenes Geld ist, er hat es geschafft, dass Ciba-Geigy immer dabei ist.

Diese Netzwerke haben die Reformierten nie so ganz hinbekommen. Ich sage immer: Katholiken sind schlauer, nicht gescheiter, aber schlauer. Sie haben 2000 Jahre Erfahrung, wie man Macht aufbaut und verteidigt. Und die Reformierten die jammern einfach immer nur. Sie haben keine Strategie, sie springen auf jede Provokation an, während die Katholiken ganz souverän sagen, „Auch das geht vorbei!“

 

Wie ist es in der Schweiz? In Deutschland haben wir über Artikel 140 Grundgesetz die Gleichstellung von Religionsgesellschaften und Weltanschauungsgemeinschaften, und auf diesem ‚Ticket’ macht der Humanistische Verband erfolgreich die parallele Finanzierung sozialer Dienstleistungen. Und die Körperschaften des öffentlichen Rechts, wie der Bfg in Bayern, bekommen auch Staatsleistungen. Gibt es das in der Schweiz auch?

Andreas: Es ist alles kantonal geregelt. Es gibt fast nichts zu Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in der Bundesverfassung. Es gibt dort lediglich ein Verbot, Menschen zum Religionsunterricht zu zwingen. Und die Gewissensfreiheit ist auf nationaler Ebene festgeschrieben, ...

Reta: ... und das Minarettverbot ...

Andreas: ... ja, das steht jetzt auch dort.

Eine Nachfrage: Moscheen dürfen gebaut werden, aber ohne Minarette?

Andreas. Genau. Das war jetzt der jüngste Zusatz zu dem Artikel über Glauben, aber alles, wo es um operative Vorgaben geht, ist kantonal geregelt. So gibt es in Zürich in der Kantonsverfassung Regelungen, welche Religionsgemeinschaften als staatlich anerkannt gelten. Das müsste man über eine Verfassungsänderung neu regeln. Und dann gibt es das Staatskirchengesetz, welches diese ganzen Zuwendungen ermöglicht.

 

Es gibt also staatlich anerkannte Religionsgemeinschaften, die diese Zuwendungen bekommen, und andere, das sind Vereine ...

Andreas: Es gibt drei Stufen. Es gibt drei christliche Kirchen, bei denen der Staat die Mitgliedsbeiträge als Steuern einzieht, dann gibt es zwei jüdische Organisationen, die, wie die drei Landeskirchen, einen Anteil der jährlichen 50 Millionen Franken, die der Kanton pro Jahr an Religionsgemeinschaften ausgibt, erhalten. Alle anderen unterstehen dem gewöhnlichen Vereinsrecht.

Welche Organisationen anerkannt sind, ist auch rein kantonal geregelt. Aber in Zürich geht es ausdrücklich nur um Religionsgemeinschaften. Um die Freidenker rechtlich den anerkannten jüdischen Organisationen gleichzustellen, brauchte es eine doppelte Verfassungsänderung, da dort die anerkannten Gemeinschaften abschließend aufgeführt sind. Der einleitende Artikel erwähnt ausdrücklich nicht Weltanschauungsgemeinschaften sondern nur Religionsgemeinschaften. Die Säkularen sind nicht genannt und nicht gemeint.

Beispielbild

 

Reta: In verschiedenen Kantonen gab es Versuche, das zu verändern, aber das ist bisher gescheitert, dass man das etwas öffnet. Meist auf Gesetzesebene, wo man keinen Volksentscheid braucht, oder nur fakultativ. Jedoch gibt es Kriterienkataloge, was eine Gruppe erfüllen muss und die sind in der Regel dann so abgefasst, dass nur die bestehenden überhaupt eine Chance haben. Man muss eine bestimmte Anzahl von Leuten aufweisen, man muss eine bestimmte Anzahl von Jahren bestehen, dann muss man sein Budget offen legen,... und bis jetzt hat es bisher niemand ‚Neues’ geschafft.

Es gibt aber Bestrebungen, zum Beispiel im Kanton Neuenburg, da kann man als Kirche anerkannt werden, aber das ist dann keine öffentlich-rechtliche Angelegenheit mit Steuerfolgen, sondern es bedeutet eine quasi soziale Anerkennung als Gruppierung von besonders hohem Status.
In Basel sind sie derzeit eigentlich am Weitesten. Dort hat man die meisten Gruppen anerkannt, das nennt man dann ‚kleine Anerkennung’ und das ist mit kleineren Privilegien verbunden, wie dem Zugang zum Gefängnis- oder zur Spitalseelsorge. Bis zur Steuerhoheit werden dort zurzeit alle Zwischenstufen ausprobiert. Und das wichtige an diesen Kriterien ist, dass sie genau auf die katholische Kirche zutreffen, und explizit die Frage der Geschlechter-Gleichbehandlung ....

... Ist kein Kriterium?

Reta: Doch, aber nur im staatskirchenrechtlichen Bereich, dort, wo sich die Kirchengemeinde staatskirchenrechtlich formiert, aber nicht im liturgischen Teil oder auf den Klerus bezogen.

Valentin: Es ist ganz einfach gemauschelt. (Lachen) Wenn man objektiv nicht den ‚Status Quo Bias’ hätte, mit einer Rechtfertigung der bestehenden Verhältnisse, und es sich einmal von außen anschauen würde, dann müssten die Politiker sagen: „Die katholische Kirche wird natürlich nicht anerkannt“. Es ist ein rein politisches Argument, welches der Anerkennung von muslimischen Gemeinschaften entgegensteht. Bei den Muslimen hört man sie sagen: „Ah, das ist uns zu wenig transparent“, oder: „Die haben nicht alle Menschenrechte unterzeichnet“. Dieselben Punkte lassen sie bei der katholischen Kirche aber einfach willentlich unter den Tisch fallen. Und das finde ich schon sehr, sehr unredlich.  In meinem Kanton [Wallis] müsste der Große Rat, das ist die Legislative des Kantons, entscheiden: „Nun nehmen wir die Muslime als dritte Konfession oder die Hindus...“. Der Katalog ist im Kanton Wallis eigentlich egal, es geht um den politischen Entscheid. Man müsste auch keine Religionsgeschichte von mindestens 100 Jahren nachweisen können, ...
Also ganz Vieles in diesem Bereich ist einfach schräg und wenn man unbefangen darauf los ginge, dann würde das ganz anders aussehen, als es jetzt aussieht. Es ist eine ausgeprägte Trägheit im System. Viele Politiker denken: „Ja ich muss noch meine schützende Hand über die Kirche halten“ und das ist sehr unaufrichtig und unfair. Im Hintergrund laufen die Fäden und so Sachen wie Traditionsrecht, da dürfen wir nicht naiv sein. Für jemanden, der jung ist und unbefangen darauf schaut, ist das alles höchst erstaunlich. Der schüttelt so lange mit dem Kopf, dass er fast ein Schleudertrauma hat.
           
Reta: Was man aber noch sehen muss ist, dass es in der Schweiz Finanzskandale wie im Bistum Limburg eigentlich nicht geben kann, weil alle Kirchen bei uns von unten nach oben organisiert sind. Die Kirchensteuer geht nicht ans Bistum, sondern an die Kirchengemeinden und die geben dann einen bestimmten Anteil hinauf.

 

Das gibt es in Deutschland auch bei der Evangelischen Kirche im Rheinland. Das ist erst 1949 geändert worden.
           
Reta: Das hat zur Folge, dass Machtstrukturen bei den Reformierten nicht vorhanden sind, denn die höheren Chargen sind eigentlich arm. Die Machtstrukturen der Katholiken sind ebenfalls abhängig von den Spenden und Vermächtnissen, die sie bekommen, denn die gehen meist an das Bistum und nicht an die Kirchengemeinde. Und deshalb ist das so ungleich. Bei den Katholiken ist das Bistum stark, weil es viele private Finanzierer hat, und die Reformierten streiten sich, ob sie überhaupt einen schweizerischen Sprecher wollen oder basisdemokratisch in den Kirchengemeinden organisiert bleiben.

 

Die Freidenker sind von der Struktur her doch eher bei den Reformierten als bei den Katholiken?

Reta: Ja. Ich sage den Reformierten immer: „Hört doch mal auf mit euren Märchen, seid einfach sozial, frei, kümmert euch um die Menschen in den Gemeinden, das ist gut. Aber solange ihr diese komplizierten Dinge des Glaubensbekenntnis und anderer Fragen pflegt, wird das nichts.” Sie haben es wieder versucht, aber ein reformiertes Glaubensbekenntnis gibt es nicht – sie können sich einfach nicht einigen. Die Reformierten in der Schweiz haben schon seit dem 19. Jahrhundert kein offizielles Glaubensbekenntnis mehr.

Aber weißt du, was ich bei den Katholiken immer bewundere: Sie haben ein sehr realistisches Menschenbild: Sie spielen zwar mit den verrücktesten Dingen, aber sie wissen eigentlich genau, dass die Leute das alles nicht einhalten können und sie haben alle Strukturen entwickelt, dass man das irgendwie unterbringt.

Valentin: Mit Ablass und Beichte.

Ich stelle zehn Regeln auf, die kein Mensch einhalten kann, und bin dann die einzige Organisation, die einen von diesen ‚Sünden’ wieder befreien kann...
           
Reta: Ja, so haben sie das Problem doch gelöst. Und offenbar ist diese Spannung, die Menschen haben, nicht spezifisch religiös, sondern Menschen haben so ein unangenehmes Empfinden wie ein schlechtes Gewissen und das ist nicht so leicht zu ertragen. Wenn einem dann jemand diese Last abnimmt, so dass man sich keine weiteren Gedanken darüber machen muss, was nicht in Ordnung war, das ist doch genial?

Aber: Was ich als Schuld empfinde, haben die mir vorher eingeblasen und die behaupten dann, sie könnten mich davon befreien... der Zirkelschluss ist eine perfekte Geschäftsidee.

Valentin: Das ist so wie bei einer Beziehung oder Ehe. Man sagt, man löst gemeinsam die Probleme, die man allein gar nicht hätte. (Lachen)
Das ist bei Religionen teilweise auch so. Sie gibt vor, Probleme zu lösen, die sie dir eingebrockt hat. Das ist Furcht einflößend und das läuft in den Freikirchen teilweise immer noch, mit ausgeprägt sozialer Kontrolle, neben Angstmacherei, aber auch in den stärker katholikalen Gebetsgruppen, in den charismatischen Bewegungen, etc. und auch in der Pius-Brüderschaft. Das sind dann schon rigide Regeln, wo du konkret an eine Hölle denkst. Nicht so ein Salon-Katholizismus, wie das viele jetzt leben: „Das ist ja nicht mehr so schlimm!“ „Wir haben den Limbus abgeschafft!“ Da gibt es immer noch Hardcore-Einstellungen, die echt schädlich sind. Für die betroffenen Individuen, und dadurch halt auch gesamtgesellschaftlich.
           
Reta: Aber für viele gibt es immer noch die Sinnfrage. Damit wird heute mehr gespielt. Weniger mit der Schuldfrage, das hat sich abgeschwächt. Aber wo immer man über Schule oder über Kinder spricht, heißt es: „Ja, Kinder haben viele Fragen und da müssen wir etwas darauf antworten. Aber diese Sinnfragen werden ihnen doch von den Kirchen eingeflüstert! Die meisten Kinder im Primarschulalter haben die Fähigkeit, die Welt zu beobachten, wie sie ist, und sie fragen nicht nach Gott.

 

In Deutschland gibt es ein Antidiskriminierungsgesetz, das den Religionsgesellschaften das Recht einräumt, ihren MitarbeiterInnen besondere Loyalitätsrichtlinien vorzuschreiben. Gibt es so etwas auch in der Schweiz?

Valentin: Die GerDiA-Kampagne hat ja prima aufgezeigt, dass das komische Blüten treibt in Deutschland…

Ja. In Deutschland ist eine EU-Richtlinie, die derartige Loyalitätspflichten für Leitende und Verkündigungs¬positionen erlaubt, auf alle Mitarbeiter ausgeweitet worden.

Andreas: Das Gesetz verbietet solche Anstellungen ja nicht. Es verhindert nur ein Klagerecht derjenigen, die nicht an eine Stelle kommen oder entlassen werden. Bei der Heilsarmee wurden zwei angestellte Frauen hinaus geschmissen, weil irgendwie bekannt geworden war, dass sie ein Paar sind.

Es ist aber aus zwei Gründen nicht so gravierend wie in Deutschland. Erstens gibt es keine Gesetzeslage und Rechtsprechung, die so einseitig zu Gunsten der Kirchen ist, und es gibt viel, viel weniger kirchliche Angestellte. Diese unendlichen vielen Krankenhäuser und Heime mit religiöser Fassade, das gibt es nicht in der Schweiz.

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Reta: Die explizit religiösen Betriebe sind Privatbetriebe und die bekommen zum Teil Zuschüsse, beispielsweise für Schulen. Traditionell haben die Kirchen ihre sozialen Einrichtungen selber finanziert. Aber da muss man genauer hinschauen und es ist mittlerweile so wie in Deutschland, dass die kirchlichen Einrichtungen nur in geringen Maße aus Kirchenmitteln finanziert werden. Ich habe es einmal für die beiden großen Hilfswerke angeschaut, das HEKS der Evangelischen Kirchen und die katholische Caritas, und bin dort auch auf die drei bis fünf Prozent gekommen, große Anteile sind Steuergelder: kommunale, kantonale und Bundesgelder.

Andreas: Wobei man aber noch zu Gunsten der Schweizer Caritas sagen muss, dass sie nicht in die katholischen Strukturen eingebunden sind. Die Caritas in Deutschland ist ein Werk der Diözesen, die dort das sagen haben. Die Caritas Schweiz hat einen Stiftungsrat und eine Geschäftsführung, die sehr stark von kirchlichen Strukturen losgelöst ist. Die sind erheblich säkularer unterwegs als die Caritas Deutschland.
             
Reta: Na ja. In ihrem Selbstporträt bezeichnet die Caritas Schweiz sich zwar als „eigenständiges katholisches Hilfswerk”, aber auch „tätig im Auftrag der Schweizer Bischofskonferenz”.

 

Ich habe vor einiger Zeit mit Conny Reuter gesprochen, dem Generalsekretär der europäischen SOLIDAR, dem Dachverband der Wohlfahrtsverbände von Sozialisten und Sozialdemokraten in der EU, und er ist auch Präsident der europäischen Social Platform aller NGOs in diesem Bereich. In diesem Netzwerk sind auch kirchliche Organisationen Mitglied und Vizepräsidentin der Social Platform ist die Schottin Heather Roy, die Generalsekretärin der Eurodiaconia. Es geht generell um eine sachgerechte politikbezogene Zusammenarbeit, egal aus welcher weltanschaulichen Begründung. Auf europäischer Ebene ist die Frage „Konfession / Konfessionslose“ kein Thema. Es wird für die Sozialpolitik eine breite Allianz gebraucht und die wird auch mit den konfessionellen Organisationen erreicht. Die deutsche Vor- und Aussortierung nach religiösem Bekenntnis ist auf der europäischen Ebene nicht bekannt.
               
Reta: In der Schweiz treten Caritas und HEKS betont überkonfessionell auf. Caritas dominiert das Thema „Armut in der Schweiz“. Wer aber eigentlich dynamisch ist und auch neue soziale Dienstleistungen aufbaut, das ist die Heilsarmee. Sie betreibt etliche Asylbewerberheime.

Und wird das dann auch staatlich gefördert?

Reta: Das wird entschädigt und auf dem Markt verschiedener Anbieter ist die Heilsarmee recht erfolgreich, weil sie vermutlich auch eine Querfinanzierung macht.

Haben die Freidenker schon einmal daran gedacht, als Sozialverband aktiv zu werden?

Andreas: Ich glaube, das ist ein Bereich, in dem die politische und weltanschauliche Heterogenität der Freidenker dagegen spricht, aktiv zu werden. Die Frage, außerhalb der Trennlinie Staat-Kirche: Was soll der Staat in Eigenregie tun und wo ist es gut, wenn etwas nicht staatlich organisiert ist? beantworten die Mitglieder höchst unterschiedlich.

Ich denke, man kann sehr gute Argumente für einen Parallelbetrieb im Schulwesen und im erweiterten Gesundheitswesen einbringen und gleichzeitig gibt es sehr gute Argumente dafür, dass im Normalfall die staatliche Schule für jeden Schüler gut genug ist.

Ich denke, dass eine säkulare Organisation zu einem Träger wird, ist nur dann angebracht, wenn es die Heterogenität in diesem Markt bereits gibt.

Ich würde eher davor zurückschrecken, quasi einen Beitrag zu leisten, das staatliche Schulwesen zu schwächen, damit man in dem Bereich, der jetzt bereits privat organisiert ist, keine Übermacht der Kirchen hat.

Grundsätzlich meine ich, ist erst einmal der Staat im Bildungswesen zuständig, ein genügend gutes Angebot zu machen und bei privaten Trägerschaften soll der Staat in Fragen der Bewilligung großzügig sein, aber dass die dann umfangreich gefördert werden, das sehe ich sehr skeptisch. Wir würden uns wahrscheinlich völlig überflüssig streiten, wenn wir in der Weise aktiv werden wollten.

Valentin: In Richtung Schule gibt es ja gerade aus Zürich den Fall, dass es untersagt wurde, einen islamischen Kindergarten zu eröffnen. Und zwar mit der Begründung, dass das Curriculum zu sehr auf das Lernen des Korans und das Erlernen der arabischen Sprache hinginge und die Vermutung nahe läge, dass das normale Schulprogramm zu kurz käme.

Reta: Es ist kein Gesetz, sondern eine Verfügung für diesen Fall.

Valentin: Im Zuge dieser Ablehnung ist nun die Frage einer jüdische Privatschule in Zürich aufgekommen, die auch ein starkes Talmud-Studium macht und Hebräisch lernen groß schreibt. Jetzt soll evaluiert werden, ob diese Schule die Minimalvorgaben an Bildung erfüllt.

Es ist auch meine Meinung und Überzeugung, dass vorhandene gute, neutrale Volksschulen Freidenker-Kindergärten oder Freidenker-Schulen überflüssig machen. Wir kämpfen dafür, dass beispielsweise der Evolutionsunterricht in den Stoff des obligatorischen Schulunterrichts hinein kommt. Und das geht jetzt auch mit dem Lehrplan 21 für die deutschsprachigen Schulen; da haben wir unsere Meinung gesagt, haben uns vernehmen lassen und unseren Input als Verband gegeben. Vieles geht in diesem Bereich in eine gute Richtung. Abgesehen vom Religionsunterricht, der in Zürich und im Wallis sehr schlecht erteilt wird, gehen die Empfehlungen in die richtige Richtung. Bei der Evolution ebenso wie bei der Ethik. Auch das kritische, wissenschaftliche Denken soll vermehrt gefördert werden. Wir sehen diese Impulse sehr positiv. Wir werden aber auch darauf achten, dass die Vorgaben des neuen Lehrplans in den einzelnen Kantonen nicht allzu stark verwässert werden, z. B. durch die Einflussnahme der religiösen Lobby.

 

Ist das, was du jetzt gerade erwähnt hast, Ausdruck einer allgemeinen, stärkeren Säkularisierung der Gesellschaft?

Valentin: Einerseits ist es problematisch, da der Lehrplan 21 noch nicht beschlossen ist. Es gibt Bestrebungen, einiges wieder zurück zu nehmen und es wieder religiöser zu gestalten. Die Kirchen haben ein riesiges Trara gemacht: „Da ist zu wenig Christentum in diesem Lehrplan drin!“ Und die Politiker hören halt sehr schnell und gerne auf die Kirchenlobbys.

Insgesamt denke ich, ja, es ist die Strömung und eine allgemeine Tendenz bei so vielen Glaubensgemeinschaften und Nicht-Religiösen, dass die Volksschule einfach nicht mehr katholisch oder reformiert sein kann. Der gesellschaftliche Wandel muss sich da immer mehr in Volksschule und Staat allgemein abzeichnen.
               
Reta: Generell muss man schon sagen, dass in der Schweiz eine stetige Säkularisierung vor sich geht. Auch heute gibt immer noch konfessionelle Schulen aber sie haben immer mehr finanzielle Probleme und es wird Zeit, dass es ausläuft. Es gab auch Neugründungen und das waren neben den Evangelikalen die Muslime, die jetzt dazu kommen, und das ist wirklich eine Frage der Integration. Das ist ein Grundthema, was ich immer wieder versucht habe zu platzieren: Es gibt keine Integration durch Religion, es gibt höchstens Integration trotz Religion.

 

Ich habe gerade noch ein anders Bild vor mir gehabt, wegen der Säkularisierung. Die Freidenker sind wie ein Boot, das hat die Segel gesetzt und die Ruder sind bereit gelegt und dann kommt die große Welle und die Freidenker stehen immer noch am Ufer und gucken (Lachen) und sehen die Welle der Säkularisierung... und irgendwie haben sie es verpasst, auf dieser Welle ihr Boot zu platzieren.

Andreas: Das stimmt ein Stück weit, allerdings hängt die ganze Politik der gesellschaftlichen Entwicklung massiv hinterher...

... und wenn es um die Verschiebung der Trennlinie zwischen Staat und Kirche geht, dann versuchen wir als politische Organisation – um im Bild zu bleiben - diesen Prozess etwas zu beschleunigen. Aber es ist so: Es gibt Bereiche, in denen die Politik in der Gegenwart angekommen ist, beispielsweise die Sterbehilfe, der Fristen¬lösung zum Schwangerschaftsabbruch und zunehmend bei der Präimplantationsdiagnostik. Es gibt aber eine starke Gegenwehr gegen Veränderungen, wenn es um institutionelle Bevorzugungen geht.

Beispielbild

 

Wenn es ums Geld geht oder nur um die institutionelle Bevorzugung?

Andreas: Vor allem geht es meist ums Geld, aber auch um Privilegien. Im Kanton Zürich ist jetzt beispielsweise das neue Aufgleisen des Religionskundeunterrichts sehr schief gelaufen. Der Religionsunterricht war früher konfessionell getrennt und pseudo-freiwillig, jetzt gibt es ein obligatorisches Schulfach und da waren christliche Dogmatiker am Werk, es ist eine Religionskunde mit verschiedenen Religionen. Die Leithammel waren natürlich alles Christen und das ganze Säkulare bleibt da außen vor – außer auf einer Doppelseite in dem Lehrbuch für die Oberstufe, da gibt es zwei Absätze zu Agnostikern und Atheisten, neben einem Interview mit einer jungen Ärztin, die vom Glauben angefallen ist, und der eine Absatz von den Zweien beginnt mit der Einleitung: „Im 20. Jahrhundert wurde der Atheismus in totalitären Staaten wie der ehemaligen Sowjetunion und der DDR sowie in China für verbindlich erklärt.“ Das heißt, die ganze Kontextualisierung des Nicht-Glaubens wird mit Totalitarismus gemacht, nichts von europäischer Aufklärung, nichts vom eigenen Nährboden für moderne Ideen... Da merkt man, die Kirchen sollen über staatliche Schulen und staatliche Lehrer den Schülern ihr Programm vermitteln können.
Da hätten wir eigentlich mehr herausholen müssen, mindestens die ganz schlimmen Fehler verhindern, das ist uns nicht gelungen. Das sind Bereiche, wo wir definitiv weder genügend Verbündete finden im politischen Lager noch selbst schlagkräftig genug sind.

 

Valentin hatte vorhin schon das Datum der Trennung von Staat und Kirche benannt : 2030!

Andreas: Auch das wird von Kanton zu Kanton verschieden sein. (Lachen)

Claude: Ich möchte dem noch beifügen, dass im Gegensatz zu Deutschland, wir in der Schweiz die Säkularisierung in 26 Ländern vorantreiben müssen.

In Deutschland sind es 16 Bundesländer ...

Claude: Aber ist es in Deutschland auch so, dass Religionsfragen auf Länderebene geregelt werden?

Ja. Religion ist Kultus und in einigen Ländern heißen die Ministerien für Kultur immer noch Kultusministerien.

Claude: Ich beobachte es in der Schweiz: Die Kirche hat vor allem eine starke Stellvertreterfunktion und zwar, um das eigenen Gewissen zu beruhigen. Man muss sich nicht mehr selber um Solidarität oder Empathie kümmern, nein, die Kirche macht das ja. Weil sie diesen Job hat, gesellschaftlich übertragen, wird sie genauso wahrgenommen.

 

Ich habe einmal versucht euch, als Freidenker der Schweiz, in die deutsche säkulare Szene einzugruppieren, wo würdet ihr stehen? Ich habe den Eindruck, ihr seid sehr stark beim IBKA (Internationaler Bund der Konfessionslosen und Atheisten) – Trennung von Staat und Kirche, als das wichtigste Thema – alles andere soll jeder für sich selber gestalten. Wir sind kein Bespaßungsverein für unsere Mitglieder.

Andreas. Mein Anspruch ist, dass wir nicht nur Kirchen-Bashing betreiben. Wenn man – zu Recht – sagt, die religiösen Welterklärungen, die taugen nichts – die bringen uns ethisch nicht weiter und sie erklären die Welt eben nicht – stehen wir in der Pflicht, die besseren Antworten, die klügeren Konzepte auf die Bühne zu holen. Und das machen wir ja schon, gerade auch beim Denkfest. Das Veranstaltungsprogramm hat kaum mit Religion zu tun.

 

Seht ihr euch eher irgendwo zwischen IBKA, GBS und ein bisschen HVD ...?

Valentin: In den USA machst du aus den Freidenkern der Schweiz drei Verbände, oder sogar vier, und hier versucht man, das einigermaßen unter einen Hut zu bringen. Was ich und andere im Wallis machen, ist die Schaffung eines Bewusstseins, dass es so etwas wie Freidenker, ethisches, freudiges Leben ohne Religion usw. überhaupt gibt. Es geht mitnichten nur um die Trennung von Kirche und Staat. Ich habe in vielen Briefen und Gesprächen mitbekommen, dass zugestanden wird, dass man auch (oder gerade?) ohne Gott gut sein kann. Man kann als Jugendlicher im Wallis mittlerweile recht gut sagen, dass es in Ordnung ist, schwul zu sein oder mit wenig Gegenwind, es sei in Ordnung, nicht gläubig zu sein. Es geht schon um den gesellschaftlichen Player in der Politik, in der Publizistik, in der Philosophie, wie auch immer.

Wir haben da mehrere Standbeine. Es wäre in Zerrbild, wenn man sagen würde, dass wir nur die Trennung möchten. Ich bin natürlich immer für die Trennung von Kirche und Staat, aber wieso? Weil die Antworten nicht genügen und ich tatsächlich kirchenkritisch bin. Wenn ich wählen kann, dann lehne ich die katholische Kirche ab, mit ihren Moralvorstellungen, ihrer Sexualmoral und den verqueren Bildern und Vorstellungen, welche sie den Kindern in den Kopf setzen wollen ... Es geht im ersten Punkt um diese Trennung, aber selbst wenn auch im Wallis und in der ganzen Schweiz diese Trennung durchgeführt wäre, würde ich gewisse katholische und islamische Vorstellungen als falsch und schädlich kritisieren. Und falls wir nach der Trennung von Staat und Kirche die Freidenkervereinigung der Schweiz auflösen würden, selbst dann würde ich mich weiterhin humanitär, humanistisch, altruistisch engagieren... Aber vielleicht bin ich in zehn Jahren weiser. (Lachen)

 

Also, ich mache einmal einen anderen Versuch. In Deutschland ist man jetzt dabei, unter Schwierigkeiten – vorwiegend durch die Genehmigungsbehörden – Bündnisse zu schaffen wie den KORSO (Koordinierungsrat Säkularer Organisationen), um verschiedene Organisationen unter ein Dach zu bekommen. Ihr habt das historische Glück, das ihr es bereits unter einem Dach habt.

Reta: Ja und Nein.

Claude: Ich finde dieses Bedürfnis der Schweizer nach Konsens schon wahnsinnig. Aber wir suchen immer den kleinsten gemeinsamen Nenner, um uns zu organisieren. Der Vorteil bei uns ist, dass wir das politische Spektrum von weit links außen bis relativ weit rechts außen unter einem Hut vereinen. Und das nur, weil wir uns aus Politik, die über den Themenkreis Trennung von Kirche und Staat hinausgeht, ganz bewusst heraushalten.

 

Sind denn die Schweizer überhaupt tolerant?

Reta: Nein, die Schweizer sind nicht tolerant. Sie leben in einem relativen Wohlstand gleichgültig aneinander vorbei.

Lass mich in Ruhe und ich tue dir auch nichts?

Claude: Genau.

Reta: Der Mythos der Schweiz ist die vielsprachige Schweiz. Aber die Welschen sprechen kein Wort Deutsch, ....

Und wie kommen die Ergebnisse der Volksabstimmungen zustande?

Claude: Wenn man sich die Resultate anschaut, dann verläuft eine imaginäre Grenze zwischen Ost und West in der Schweiz.

Reta: Wir nennen das den ‚Rösti-Graben’, weil auf dieser Seite die Kartoffeln ‚flach’ gebraten werden.

Valentin: Es gibt ganz viele Abstimmungen, die nicht mehr nach dem ,Rösti-Graben' gehen sondern eher nach Stadt-Land-Unterschieden. Es gibt typische Stadt-Kantone und typische Land-Kantone.

Und zur Frage der Volksabstimmungen ... Das ist vielleicht für die deutschen Leser nicht so bekannt. Es gibt auf nationaler Ebene die Möglichkeit, 100.000 Unterschriften zu sammeln; und wenn die zusammen kommen, dann muss über eine Verfassungsänderung entschieden werden, das ist eine Volksinitiative. Daneben gibt es noch die Möglichkeit des Referendums: Wenn einem eine vom Parlament beschlossene Gesetzesänderung nicht passt, wird nach Sammlung von 50.000 Unterschriften darüber abgestimmt, ob das Gesetz geändert wird oder nicht.
Und dann gibt es noch viele Möglichkeiten auf kantonaler Ebene. Im Wallis sammeln die Freidenker und andere politische Organisationen aktuell 6.000 Unterschriften auf kantonaler Ebene und wenn wir das innerhalb eines Jahres schaffen, dann wird darüber abgestimmt, ob wir im Kanton Wallis Kirche und Staat trennen.
Bei uns sind Volksentscheide etwas alltägliches und es ist ebenso normal, dass sich Interessenverbände zusammentun, um einen Input zu geben. Und manchmal ist dieser Input selbst auch schon genug. Mann kann eine Initiative auch zurückziehen, wenn beispielsweise das Parlament bereit ist, die Forderungen weitgehend umzusetzen. Bei der Wallis-Trennungs-Initiative geht es uns auch darum, dass die Diskussion vorankommt. Natürlich wollen wir auch die Abstimmung gewinnen, aber wir wollen zunächst, dass das Anliegen in die Diskussion kommt.
Es ist schon eine andere politische Kultur, dass man diesen ‚Hammer’ hat – und der ist nicht immer gut. Es gibt auch Initiativen, die angenommen wurden, die völkerrechtlich fragwürdig sind.

Beispielbild

 

Die Diskussion in Deutschland über Volksentscheide in den Bundesländern gibt es ja schon und es gibt dann ein Argument: Wenn es nationale Volksabstimmungen gäbe, dann hätten wir wieder die Todesstrafe...

Claude: Es gäbe bei uns, theoretisch, noch eine Notbremse. Das wäre, wenn die Bundeskanzlei oder das Parlament die Initiative als ungültig erklären würde. Das gäbe es noch...

Reta: Wird aber ungern gemacht.

Claude: Wurde es überhaupt schon einmal gemacht?

Andreas: Ja, mehrmals, es gibt aber eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Verstoß gegen zwingendes Völkerrecht – das wurde aber, meines Wissens, noch nie zur Ungültigkeitsbegründung verwendet -, und fehlende Einheit der Materie – wenn unterschiedliche Themen in einer Initiative behandelt werden.

 

Stehen die Freidenker zu jeder Volksabstimmung ganz speziell? Manchmal dafür, manchmal dagegen?

Andreas: Es gab in letzter Zeit nur zwei Abstimmungen, zu denen wir eine Parole herausgegeben haben.

Das erste Mal war bei der Minarett-Initiative, wo wir argumentiert haben, die stärkere Trennung von Staat und Kirche, die hängt man nicht am Baurecht auf. Erstens war die Initiative diskriminierend, weil sie nur eine Religion betraf, und sie war völlig ungeeignet, um Religionsgemeinschaften einen klar definierten Rahmen zu geben. Unsere Stellungnahme führte dann dazu, dass in Winterthur eine Gruppe ausgetreten ist, die sehr islamkritisch unterwegs war.

Und das zweite Mal war dieses Jahr im Februar, als das Recht auf Abtreibung erschwert werden und die Leistung vom Krankenkassenkatalog gestrichen werden sollte.

Aber da hatten wir, wie bereits erwähnt, Diskussionen mit Ultralibertären, die sowieso jegliche staatliche Gesundheitsvorsorge ablehnen. Für uns stand das Recht auf Selbstbestimmung im Vordergrund, dies verstanden auch jene, welche ein Krankenkassenobligatorium grundsätzlich ablehnen.
           
Valentin: Der gesellschaftliche Wandel ist sehr fortgeschritten. Wie hatten jetzt ein sehr positives Frauenrechts-Resultat. Das Recht auf Abtreibung war früher im Wallis noch abgelehnt worden, aber wir mobilisieren gut gegen Veranstaltungen wie den ‚Marsch für das ungeborene Leben’ und wir sind ganz klar auf der Gewinnerseite. Und, was ganz wichtig ist, die Kirchen schaffen es nicht mehr, die Menschen zu mobilisieren. Wenn sie sagen, sie sprechen für so und so viele Prozent – und die katholische Kirche war auch gegen das Minarett-Verbot und trotzdem kam es durch – haben sie die Deutungshoheit über viele Fragen halt schlicht und einfach verloren. Im journalistischen Diskurs sind sie noch Ansprechpartner und für die Medienarbeit haben sie ja auch Geld, da kann man sich ja auch ein bisschen Meinung ‚kaufen’, ...

Valentin: Was Andreas sagte, sind die beiden Stellungnahmen auf nationaler Ebene, wir haben aber kantonal beispielsweise Initiativen der Jung-Freisinnigen mit unterstützt, dass man die Kirchensteuerpflicht für Unternehmen abschafft. Jetzt im Wallis sind die Freidenker ja auch mit an vorderster Front mit dieser Initiative; wir sind schon auch politisch tätig...
           
Reta: Das Ganze ist aber auch zweischneidig, denn in Zürich hat man ein so schlimmes Resultat eingefahren – über 70 Prozent der Abstimmenden war gegen die Abschaffung der Kirchensteuer für juristische Personen. Mit solchen Ergebnissen erschwert man sich die eigene Arbeit.

Andreas: Ja, die  Ausgangslage war ungünstig. Die Jung-Freisinnigen lancierten die Initiative vor drei Jahren mit dem Titel “weniger Steuern fürs Gewerbe”. Es waren nationale Wahlen, und sie brauchten ein Vehikel für ihre Kampagne. An einem Bündnis waren sie damals nicht interessiert, nach den Wahlen mussten wir ihnen aber helfen, die Unterschriften zusammenzukriegen. Von den damaligen Initianten wurde im Vorfeld des Abstimmungs¬kampfes keiner aktiv. Vielleicht muss man rückblickend sagen, es wäre das Beste gewesen, sie hätten die Unterschriftenzahlen nicht zusammen bekommen, dann hätte es die Abstimmung unter diesen ungünstigen Voraussetzungen gar nicht gegeben. Immerhin haben sie es im Schlussspurt geschafft, dass sich zahlreiche junge Personen für die Trennung von Staat und Kirche einsetzten.

Reta: Ein Ergebnis ist natürlich, dass diese Themen dann auf Jahre hinaus blockiert sind. Und was man verstehen muss, ist das ganze Referendums- und Initiativrecht in der Schweiz. Ein Referendum kann man nur über neu beschlossene Gesetze der Parlamente machen. Wenn man ein geltendes Gesetz angreifen will, dann geht es nur entweder über das Parlament oder über die Initiative und letzteres bedeutet dann eine Änderung der Verfassung. In der Schweiz gibt es kein Verfassungsgericht. Was via Initiative den Weg in die nationale Verfassung schafft, gilt.

Valentin: Zur Erklärung, dass ihr es versteht: Das Schweizer Volk könnte eine Volksabstimmung machen: Alle Rothaarigen müssen fünf Prozent mehr Steuern bezahlen. Und es könnte passieren – wir haben kein korrigierendes Verfassungsgericht, die Einheit der Materie ist gegeben – das wir sagen: Ja, das gilt! Dann würde es gelten.
           
Reta: Man sieht aber, die Schweizer sind in der Praxis pragmatisch: Wenn problematische Artikel via Initiative in die Verfassung kommen, garantiert das Umsetzungsprozedere meist, dass es nicht so schlimm herauskommt, wie es könnte.

 

Das ist katholisch.

Reta: Was?

Da sagt der Priester: „So, wie das in der Bibel steht, dass muss man gar nicht so ernst nehmen...“ (Lachen)

Wir haben von euch gelernt! Danke.

Idee und Redaktion Evelin Frerk.
Die Fragen stellte Carsten Frerk.
Transkription: Elke Schäfer und Carsten Frerk.

Beispielbild

Das Gespräch wurde am 28. Juni 2014 aufgezeichnet.