Eine arabische Familie

(hpd) Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 erschien eine Reihe von Büchern über Osama Bin Laden. Immer wieder thematisierte

man darin seinen verwandtschaftlichen Hintergrund, entstammt der meistgesuchteste Terrorist der Welt doch einer einflussreichen und wohlhabenden Familie.

 

Die Bin Ladens gehören zu den bedeutendsten Bauunternehmen Saudi Arabiens und sind darüber hinaus im Bereich von Industrieprojekten und der Telekommunikation tätig - mit guten wirtschaftlichen Kontakten nicht nur in der arabischen, sondern auch in der westlichen Welt. Wie konnte es nun dazu kommen, dass mit Osama Bin Laden einer der 54 Söhne des Familien-Clan-Begründers zu einer so bedeutsamen Figur des islamistischen Terrorismus werden konnte. Dieser Frage geht der US-amerikanische Journalist Steve Coll, früher langjähriger Redakteur der „Washington Post" und zweifacher Pulitzer-Preisträger, gegenwärtig Präsident der überparteilichen Denkfabrik „New Amerika Foundation" - in seinem voluminösen Buch „Die Bin Ladens. Eine arabische Familie" nach.

Auf über 700 Seiten beschreibt er deren Entwicklung, die in einfachen Verhältnissen im Jemen begann und im Aufstieg zu einer der reichsten Familien Saudi Arabiens gipfelte. Colls Buch gliedert sich in vier große Teile: Zunächst beschreibt er den Aufstieg des Familien-Patriarchen Mohammed Bin Laden vom einfachen Hafenarbeiter und Maurer bis zum Bauherrn vieler Großprojekte von 1900 bis 1967. Danach geht der Autor auf die Entwicklung der Familie nach dessen Tod von 1967 bis 1988 anhand des Sohnes Salem als Erben, aber auch des seinerzeit noch bedeutungslosen Osama ein. Letzterer entstammte einer kurzen Beziehung seines Vaters und fand familiär nur eingeschränkt Anerkennung. Dem folgend widmet sich Coll den wirtschaftlichen Aktivitäten der weltweit aktiven Familie zwischen 1980 und 2001, wobei auch Osamas politische Aktivitäten besondere Aufmerksamkeit finden. Und abschließend geht es um die Folgen der Anschläge für das öffentliche Ansehen und die ökonomische Entwicklung der Familie zwischen 2001 und 2007.

Coll macht deutlich, dass der soziale Aufstieg der Bin Ladens auch ohne die Aktivitäten des bekanntesten Familienmitgliedes als exemplarischer Fall für die gesellschaftliche und ökonomische Entwicklung der arabischen Welt Beachtung verdient. Gleichwohl konzentriert er sich auf Osamas Weg, der bereits früh als überaus religiös galt und von der Ideologie der „Muslimbruderschaft" geprägt wurde. Durch die damit zusammenhängende Abgrenzung von seiner Familie sei es bereits 1994 erstmals zu einer öffentlichen Distanzierung durch sie gekommen. Gleichwohl habe Osama Bin Laden nach Coll etwas von seiner familiären Sozialisation auf seinen ganz anderen Weg mitgenommen: die „Bedeutung, die er Vielfalt und Offenheit beimaß, sein selbstbewusster Umgang mit Finanzen und Verwaltung, und seine Faszination für die Technologien der globalen Vernetzung" (S. 379). In der Tat spielte die hohe Bedeutung von Flugzeugen und Kommunikationsmöglichkeiten auch für die ökonomische und persönliche Entwicklung der Familie Bin Ladens eine große Rolle.

Colls Buch basiert auf zahlreichen Archivfunden und Interviews und stellt die bislang ausführlichste Beschreibung der Bin Ladens dar. Mitunter hat man gar den Eindruck, es handele sich um eine Art Familienroman. Der Autor geht dabei den unterschiedlichsten Handlungen und Verästelungen der Familienangehörigen nach. Häufig besteht aber der Eindruck, dass Weniger Mehr gewesen wäre. Auf den über 600 Textseiten gehen viele wichtige Informationen in der akribischen Darstellung unter. Darüber hinaus belässt es Coll weitgehend bei einer Beschreibung. Nur am Rande finden sich analytische Einschätzungen, die zu einer Deutung des Lebenswegs von Osama Bin Laden beitragen. Dafür liefert er zahlreiche aufschlussreiche Details, sei es zu dem Einfluss der Muslimbruderschaft auf Osama Bin Laden, dessen frühen verschwörungsideologischen Antisemitismus oder seiner Freude über die von den USA angeführten Invasion im Irak. Gleichwohl liefert auch dieses Buch keine Antwort auf die Frage nach den Ursachen des 11. September.

Armin Pfahl-Traughber

 

Steve Coll, Die Bin Ladens. Eine arabische Familie. Aus dem Englischen von Werner Roller, Stephanie Singh und Violeta Topalova, München, 2008 (Deutsche Verlags-Anstalt), 736 S., 24,95 €. ISBN-13: 978-3421043542