Demokratie als gelebte Praxis

(hpd) Anfang der 1990er Jahre konstatierte man angesichts des Zusammenbruchs der kommunistischen Staatenwelt ein „Ende der Geschichte"

(Francis Fukuyama) im Sinne eines endgültigen Sieges der liberalen Demokratien. Kurze Zeit später geriet aber gerade die Akzeptanz derartiger politischer Beteiligungs- und Ordnungsmodelle in eine bis heute anhaltende Legitimationskrise. Folgt man Meinungsumfragen in vielen westlichen Ländern, so sinken Vertrauen und Zustimmung.

 

Dieses Paradox von Krise und Triumph der Demokratie motivierte den in Florenz lehrenden Historiker Paul Ginsborg zu seinem Buch „Wie Demokratie leben". Darin greift er die politischen Ideen von Karl Marx und John Stuart Mill auf, um sie für die Gegenwart kritisch weiter zu entwickeln. Umrahmt ist denn auch Ginsborgs Essay von einem Prolog und Finale mit einem fiktiven Dialog der beiden Denker des 19. Jahrhunderts. Der Autor deutet Marx und Mill trotz mancher kritischer Aussage als innovative Stichwortgeber für die demokratietheoretischen Debatten des 21. Jahrhunderts.

Als grundlegende Ursachen für die Krise der repräsentativen Demokratie nennt Ginsborg erstens die Delegierung der Politik an eine separate Sphäre von Berufspolitikern und Bürokraten, zweitens die mit dem Konsumkapitalismus einhergehende Fixierung auf das Privatleben, drittens die wachsende Abhängigkeit der Demokratie vom großen Kapital und viertens das schlechte demokratische Vorbild der USA. Angesichts der damit verbundenen Entwicklungen und Gefahren geht der Autor davon aus, dass es neuer Formen und Praktiken der Demokratie bedürfe. Sie sollen die repräsentative und die partizipative Demokratie verbinden, um die Qualität der Ersteren durch den Beitrag der Letzteren zu verbessern. Demgemäß geht es Ginsborg um eine Stärkung der teilnehmenden Demokratie, also des persönlichen Engagements der Bürger. Sie sollten durch die Vereinigungen der Zivilgesellschaft - womit ganz allgemein Nichtregierungsorganisationen gemeint sind - zum Entstehen einer lebendigen und schöpferischen demokratischen Öffentlichkeit beitragen.

Ein damit angesprochenes deliberatives Modell setzt auf Diskussion und Entscheidung. Es will die Individuen aus der Privatisierung ihres Lebens herausreißen und sie als kritisch Informierte an Entscheidungsprozessen partizipieren lassen. Dadurch könnten sie auf der Grundlage von Gleichheit und Respekt mit den Politikern in Dialog treten. Ginsborg skizziert dieses Modell mit seinen Worten wie folgt: „Diese Form der Demokratie stellt besonders hohe Ansprüche, sie lehnt es ab, die Politik als eine getrennte und entfernte Sphäre Berufspolitikern zu überlassen, und versucht vielmehr, Repräsentation und Partizipation miteinander zu verbinden, sie hält es für falsch, dass die Menschen im politischen Bereich als Bürger behandelt werden, im Arbeitsbereich aber nur als Untertanen, und sie fordert eine Politik, deren Tätigkeiten und Prioritäten sich in radikal veränderter Form den geschlechtsspezifischen Bedürfnissen anpassen. Ebenso wichtig ist all dies meiner Ansicht nach, um die Demokratie, so wie wir sie kennen, wieder zu beleben und zu schützen" (S. 93).

Genau darum geht es dem Autor, der Demokratie nicht als abstraktes Regelwerk, sondern als gelebte Praxis ansieht. Hierbei blendet er problematische Aspekte nicht aus, werde die deliberative Demokratie doch häufig „nur von einer Minderheit wahrgenommen" (S. 67). Es geht nicht um die Ersetzung, sondern um die Ergänzung der repräsentativen Demokratie: „Der entscheidende Punkt ... liegt darin, dass die dauerhafte Partizipation die Qualität der Repräsentation gewährleistet, stimuliert und kontrolliert" (S. 67). Hinsichtlich der realen Umsetzung dieser Forderungen bleibt Ginsborg aber zu allgemein. Dies fällt vor allem bei den Ausführungen zur „Wirtschaftsdemokratie" auf, wo von angestrebten „Formen, die noch zu erfinden zu definieren wären" (S. 80) gesprochen wird. Die hier und an anderen Stellen genannten Beispiele deuten den gemeinten Weg an, bleiben aber für den Gesamtkontext konzeptionell und strategisch eher diffus. Gleichwohl macht Ginsborg überzeugend deutlich, dass Teilnahme in einer lebendigen Demokratie nicht nur auf den Wahlakt beschränkt ist.

Armin Pfahl-Traughber

Paul Ginsborg, Wie Demokratie leben. Aus dem Italienischen von Friederike Hausmann, Berlin 2008 (Verlag Klaus Wagenbach), 126 S., 9,90 €