Obama und die Moral der Finanzkrise (2)

USA. (hpd) Seit einiger Zeit wird von Politikern hinsichtlich ökonomischer Entwicklungen „moralisch" kommentiert und interveniert. Ein besonders bemerkenswertes Beispiel setzte der neue US-Präsident Obama, der von „Verantwortungslosigkeit" der Manager sprach. Was kann er damit gemeint haben?


Ein Kommentar von Rudolf Mondelaers


Teil 2

Stellvertretend für die heute boomende Renaissance dieser systemkritischen Schule steht Karl Marx, der mit Recht als Vater der fundamentalen Kapitalismuskritik bezeichnet werden kann. Der Verleger des marxschen Hauptwerkes „Das Kapital" konnte dann auch letztens mitteilen, dass sich, parallel zur Ausbreitung der Finanzkrise, die Verkaufzahlen des Klassikers mehr als verdreifacht haben. Aber auch andere systemkritische Schulen wie die französischen Nonkonformisten, die Regulationsschule bis hin zu den Beiträgen vieler christlichen bzw. spiritualistischen Denker finden vermehrtes Interesse.

Für Marx nun ist die rücksichtslose Maximierung der Verwertung des Kapitals die einzige Triebfeder des Handelns des Einzel-Kapitalisten. Berühmt ist seine Hervorhebung des Dunningschen Zitats, dass - bei Aussicht auf eine hohe Profitrate -, das Kapital keine Gesetzmissachtung und keine Verbrechen mehr scheut. Noch mehr gilt dies bei auftretenden Verwertungskrisen, wie das z. B. bestimmte Interpretationen zur Quelle des realen Faschismus nahe legen. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass der einzelne Kapitalist zwangsweise zur Unmoral neigt, sondern dass der Kapitalist „personifiziertes Kapital" ist. Als solches muss er unter dem Zwang der Konkurrenz die Profitmaximierung mit allen Mitteln exekutieren. Es gibt also keinen direkten normativen Zusammenhang zwischen dem Wirtschaftssystem und den ethischen Prinzipien der Menschenrechte und der Demokratie.

Es ist ebenso unrealistisch zu erwarten, dass das personifizierte Kapital auf Moralappelle reagiert. Nicht subjektiver Neid und Habgier bzw. persönliche Gewinnsicht verleiten Unternehmer und Manager zu diesen gesellschaftlich „unmoralischen" Verhaltensweisen, sondern die Angst vor dem ökonomischen Tod des Unternehmens durch nicht ausreichende Kapitalakkumulation. Das bedeutet bei Marx auch, dass der Mensch nicht generell durch tierischen oder genetischen Eigennutz, sondern, als soziales Wesen durch die von ihm gestaltete soziale Welt gelenkt wird. Und dieser beinhaltet auch Sphäre, die außerhalb der unmittelbaren Produktion liegen. Hier herrschen wohl moralische und antikapitalistische, ja sogar hedonistische bzw. philanthropische Vorstellungen. Auch der Unternehmer ist zwar „Bourgeois" aber kann zugleich „Citoyen" sein. Unternehmer und Manager können somit schon moralisch handeln, müssen dies allerdings ausserhalb ihrer direkten wirtschaftlichen Tätigkeit gestalten, wie heute z. B. mit Stiftungen als emanzipierte Form der religiösen Almosen. Duale Wirtschaftsversuche wie z. B. der „Rheinische Kapitalismus" hatten nur einen kurzen, lokal begrenzten Bestand und wurden schnell durch den eiskalten anglosächsischen Wind des Shareholder-Value Prinzips weggeblasen.

Die postmoderne Moral

Dieses komplexe Nebeneinander von Wirtschaft und Moral wird heute präzisiert durch die verschiedenen Sichtweisen der so genannten Systemtheorie und der Postmoderne. Vielleicht vergleichbar mit Marx als Urvater, kann hier Max Weber beispielhaft fungieren. Die Gesellschaft teilt sich nach ihm in Teilsysteme, die jeweils eigene Normkataloge besitzen. In der Wirtschaft regiert die Rationalität des Rechnens, der Berechenbarkeit als säkularisiertes, d. h. von seiner Moral entkleidetes, protestantisches Ethos: der Gottgebende Gewinn. Die Normen der Rationalität werden durch das staatliche Recht geschützt. Dadurch gibt es eine prinzipielle Unvereinbarkeit von Recht und Moral bzw. von Wirtschaft und Moral. Die Trennung zwischen Wirtschaft und Moral ist fundamental, da die Wirtschaft nicht in der Lage ist, mit dem Moralsystem zu kommunizieren. Die Signale der Moralsphäre können nicht wahrgenommen werden, es sei denn, sie erreichen die Ökonomie nur über die Sphäre des Geldes und des Marktes. Und auch dann erzeugen sie nur Aktionen, die wirtschaftsadäquat sind.

Mehr noch: Die Zwänge der kapitalistischen Rationalität erobern schrittweise auch die anderen Teilsysteme des gesellschaftlichen Lebens. Sie steuern das Verhalten der Konsumenten, der Kulturträger, der Wissenschaftler ja sogar der Kirchen: ein in sich geschlossener Kreislauf ohne Ende. Störungen dieses Kreislaufes durch Teilsysteme bzw. Lebenswelten mit noch autonomen, nicht wirtschaftlichen Handlungsnormen wie emanzipatorische Mitbestimmung und -entscheidung, Solidarität, soziale Gerechtigkeit, natürliche und soziale Nachhaltigkeit, alternative Kulturauffassungen und Konsumpräferenzen etc., können so schwer behoben werden. Moralische Appelle ohne Änderung der Paradigmen des heutigen Wirtschaftssystems sind daher sinnlos.

Der durch Obama benutzte Appell gegen die „Verantwortungslosigkeit" der Manager kann daher nur Sinn machen, wenn Sichtweisen wie beispielweise die in den letzten Jahren in wirtschafts- und unternehmensethischen Debatten oft auftretende These der so genannten „Corporate Social Responsibility" (CSR) recht bekommen. Nach ihr wäre das Verantwortungsprinzip die ethische Leitkategorie von Unternehmen, die sich in zunehmendem Maß an ethischen, sozialen und ökologischen Werten und Normen orientieren. Ausgangspunkt ist die These, dass die Berücksichtigung ethischer Standards zum integralen Bestandteil der heutigen Marktwirtschaft geworden ist. Das Verantwortungsprinzip kann als ethisches Kriterium ökonomischer Prozesse fungieren, weil es sowohl moralische Prinzipien als auch wirtschaftliche Erfolgsfaktoren einschließt. Danach kann die Einhaltung sozialer, ökologischer und ethischer Standards zur erhöhten Wertschöpfung beitragen. Dieses Prinzip ist dem ökonomischen Handeln immanent, weil die Akteure sich aus eigener Überzeugung und Wertvorstellung freiwillig für bestimmte Ziele einsetzen und sich für die Verbesserung bestehender, auch außer dem eigenen Handlungsfeld liegender, gesellschaftlicher Zustände engagieren.

Aber eigentlich handelt es sich dabei nur um eine der Theorie der getrennten Systeme angepasste praktische Betriebslehre. Das Verantwortungsprinzip ist sicherlich nicht dadurch relevant geworden, dass sich in der Wirtschaft selbst ein Wertewandel vollzogen hätte. Es ist vielmehr Ausdruck einer gewandelten gesellschaftlichen Lage, in der die sozialen Akteure insgesamt größeren Wert auf umweltverträgliche Produkte, humane Arbeitsbedingungen und faire Einkommensverteilung legen. Die meisten Unternehmen verwenden es daher nur aus Gründen des Marketings und der internen Unternehmenskommunikation.

Fazit

Der durch die heutige Finanzkrise aufgewühlte Sturm der moralischen Entrüstung über das Verhalten seiner maßgeblichen Akteure setzt der ideologischen Deutungshoheit des wirtschaftlichen (Neo)Liberalismus momentan ein Ende. Teils aus Empörung über die Verletzung von durch die jahrhundertealten Erfahrungen der Menschheit erworbenen Verhaltensregeln, teils aus Ratlosigkeit über die Bedeutung dieser Brüche. Nach den Ereignissen der Oktoberrevolution und des Faschismus steht der Kapitalismus weltweit bei vielen Menschen scheinbar erneut zur Disposition. Allmählich wird für sie deutlich, dass die Krise der virtuellen Welt der Finanzen seine realen Wurzeln in der Art und Weise der Verteilung des Volkseinkommens hat. Durch die Umverteilung sind in den letzten Dezennien die realen Einkommen der Masse der Beschäftigten und die relative Nachhaltigkeit der Konsum- und Produktionstrukturen kontinuierlich gesunken. Die Menschen stellen sich erneut Fragen über das System an sich. Der Homo Oeconomicus hat als Held der wirtschaftlichen Seifenoper ausgedient und der widerborstige Hartz IV Empfänger erobert die Bühne. Sogar die Politiker, die gestern noch jeden Zweifel an die marktliberale Rationalität und Deregulierung heftig schmähten, schlagen jetzt sogar staatliche Enteignungen vor. Das Ende des Kapitalismus? Kaum!

Die angebliche Zuwendung zur moralischen Erziehung des Kapitalismus ist substantiell eher als ein raffinierter Rückzugskampf der wirtschaftsnahen Elite zu deuten. Sicherlich durch manche Politiker, wie auch Obama, ehrlich gemeint, aber aufgrund der nachgewiesenen Inkompatibilität von Moral und Wirtschaft doch mit großer Naivität bestückt. Viele wissen um diese Naivität, stimmen aber heuchlerisch ins Konzert ein. Entweder um ihre Lobbyarbeit für beschränkte Wirtschaftsinteressen unter veränderten Bedingungen weiter zu führen, oder harmlos, aber zynisch charakterloser, aus pragmatischem Eigennutz. Wer die heutige Krise lösen will, muss sich mit den grundlegenden gesellschaftlichen Beziehungen befassen. Eine Regulierung der Finanzbeziehungen und sogar die Verstaatlichung einiger Banken reichen nicht, obwohl sie in der aktuellen Finanzkrise nötig sind. Aber wer reguliert den Staat und was kann oder darf er überhaupt regulieren?

Wie das geschieht, das zeigt die Richtung der angeblich an die neue Moral ausgerichtete Regulierungsmaßnahmen, welche die These der manipulierten Verteidigungsstrategie zu beweisen scheinen. Nehmen wir als Illustration nur das deutsche Maßnahmenpaket für den Finanzsektor. Die bisherige Liste der Umgehungsdelikte ist lang und wir beschränken uns auf die wichtigsten in Kurzfassung:

- keine verbindliche nachhaltige Gegenleistung der Finanzbranche
- Keine Sonderabgabe oder Ähnliches zulasten der vom Gesetz Begünstigten
- Keine verbindlichen substanziellen Strukturreformen für den Finanzsektor
- Kein Verzicht auf abstruse "Finanzmarktförderungsgesetze" (Zulassung massenhafter
  Kreditverbriefung, Zulassung von Hedgefonds, Gewerbesteuerfreiheit für Spekulanten aller Art,
   etc.)
- Durch die Art der Bankenrettung werden die „giftigen" Finanzprodukte auch weiterhin nicht
   verboten
- Keine nachvollziehbare Lastenteilung (Benachteiligung der Bundesländer)
- Kein angemessener Schutz des bislang stabilsten Teils des Banksektors (Sparkassen
   und Genossenschaftsbanken)
- Die Tätigkeit der professionellen Finanzjongleure und -berater wird nicht eingeschränkt
- Die juristische Behandlung von Eigentumsdelikten wird nicht angepasst
- Es gibt kein verbindliches staatliches Prozedere (freie Hand für Minister und Staatssekretäre
   und diesbezügliche Korruptionsgefahren)
- Keine Festschreibung des Inhalts der Aktienrechte bei Staatsbeteilungen (die betroffenen
   Unternehmen entscheiden selbst)

Ein kritischer Experte kommt so zu folgender Schlussfolgerung: „Eine nicht mehr kontrollierte Exekutive erhält die Ermächtigung, nach ‚Ermessen', ohne verbindlich geregelte Gegenleistung und ohne verbindlich festgeschriebene Rechte des Subventionsgebers den Bedarf der Finanzbranche zu bedienen." Trotz Moraloffensive scheint die Devise erneut zu sein: Die Gewinne und Entscheidungen bleiben privat, die Verluste und Lasten werden auf die Allgemeinheit abgewälzt, d.h. sozialisiert. Die nächste Finanzkrise lässt grüßen, auch in den USA. Ist dort doch bereits dem Steuerzahler die nicht mehr vorstellbare Summe von 3.000 Milliarden Dollar nur zur Rettung der gewohnten leeren Finanzpraktiken und noch mal 1.000 Milliarden Dollar nur für die nachhaltige Absicherung der Verwertung kriminell spekulativer Schrottpapiere (die so genannte ‚Bad Bank') aufgebrummt worden.

Neben der Gefahr einer neuen Glaubwürdigkeitskrise der Demokratie ist die mögliche Unterminierung von Moral an sich, durch die Unwirksamkeit des populistischen Missbrauches der moralischen Züchtigung der Wirtschaft, die größere Gefahr. Denn Moral und Ethik sind ein kostbares aber sehr fragiles menschliches Gut. Ihre Überforderung durch sinnlose Aktionen, ihre Überfrachtung mit unrealistischen Forderungen und nutzlosen Aufrufen beschädigt sie ernsthaft und kann sie zu Zynismus verkehren. Das wäre für die Zukunft der Menschheit schlimmer als eine neue Finanz- oder Wirtschaftskrise.

Letztendlich aber können, trotz Skepsis über die direkte Wirkung und möglicher Gefahren, die Aufrufe zu mehr Moral in der Wirtschaft nicht wie bei einigen ihrer Kritiker sofort als närrische Anekdoten vom Tisch gefegt werden. Sie widerspiegeln eine mögliche Änderung des berühmten Zeitgeistes, die mit neuen Verhaltensweisen den Weg zur Veränderung der gesellschaftlichen Paradigmen öffnen kann. Obamas Frage nach der Verantwortung der Wirtschaft, könnte in diesem Kontext als Frage nach dem Beitrag der zweifellos sehr gescheiten und mit Sachwissen überladenen Wirtschaftsexperte zu diesem Diskurs gestellt sein. Sie dürfen in der Tat nicht aus ihrer heute global dimensionierten Verantwortung entlassen werden. D. h. er stellt dann die Frage nach der Art und Weise eines gesellschaftlichen Paradigmenwechsels der vielleicht der Wirtschaft doch eine Moral geben kann. So verstanden und auch verwirklicht hat Obama unsere Unterstützung verdient.

Dass dies ein harter und nicht unbedingt erfolg versprechender Kampf wird, verdeutlicht die aktuelle Reaktion der Börse auf die Milliardengeschenke. Mit manipulierten Kursverlusten wollen die „gescheiten" Finanzexperten scheinbar noch mehr Löcher in die geplanten Reformen „erpressen".