Er nannte mich einen „Wolf im Schafspelz“

Wie fühlte es sich an, die Welt naturalistisch zu betrachten nachdem die Beschwernis der beruflichen Verquickung entfallen war? Ich frage das, weil mir scheint, Du bist einer der wenigen Menschen, der beide Seiten aus eigenem Erleben kennt.

In diesem Zusammenhang kann ich mich an eine Begebenheit erinnern. Es mag im Winter 1943 auf 44 gewesen sein, als meine Mutter kleine Medaillons an unsere Fenster hängte; auf meine verwunderte Nachfrage was das bedeute, gab sie mir zur Antwort das seien geweihte "agnus dei“-Medaillons; sie sollten unser Haus und unsere Wohnung behüten. Darauf fragte ich meine Mutter, ob sie wohl glaube, dass, wenn die ganze Stadt in Flammen steht, unsere Wohnung allein verschont bleiben würde. Meine Mutter schaute mich irritiert an; ich nehme an, sie hat dann für ihr missratenes Kind gebetet. Ich war damals 13 Jahre alt. - Ich hatte also schon vorher in meiner Familie, wie ich schon angedeutet habe, beide Seiten erlebt: inbrünstige Frömmigkeit und kühle Rationalität auf der anderen Seite. Nicht umsonst war mein Vater Naturwissenschaftler und Musiker in einer Person. Als begeisterter Ingenieur war es für ihn immer wieder schwer, naturwissenschaftliche Erkenntnisse und den theologischen Glauben zu vereinbaren. Als Kind habe ich mit großen Augen daneben gestanden.

Stellte die humanistisch-naturalistische Weltanschauung tatsächlich eine Zäsur da und wie äußert sich diese?

Die humanistisch-naturalistische Weltanschauung brachte ich also von Zuhause mit; sie hat sich in mir weiter entwickelt und gefestigt, mein Fortgang von der Theologie war in Wahrheit keine Zäsur, vielmehr eine Weiterentwicklung. Nur das Tote verändert sich nicht mehr!

Wie ist es mit der Ethik - speziell religiöse und auch einige politische Amtsinhaber vertreten die These, christliche Werte seien die eigentlichen. Mir erscheint diese Denkweise arrogant und sondert ohne Verständnis für individuelle Denkweisen einen großen Teil der Menschen auf dieser Erde aus. Was magst Du dazu speziell jungen Menschen mit auf den Weg geben?

Vor einigen Wochen hat der geist- und kenntnisreiche Vorstandssprecher der Giordano Bruno Stiftung zu diesem Thema ein gut verständliches und sachlich begründetes Buch verfasst, es trägt den Titel „Jenseits von Gut und Böse“. Darin setzt er sich mit dem Anspruch der Religiösen auseinander, nur sie könnten bestimmen, was gut und böse sei. Wenn man sieht, wie Teile unserer Welt in Blut und Tränen versinken, wie religiöse Ideologien miteinander bis aufs Messer streiten, da weiß man, dass die Frage nach gut oder böse eine schwierige ist, die aber ganz gewiss nicht von religiösen Ideologien beantwortet werden kann.

Bundeskanzlerin Merkel wurde auf der Pressekonferenz zur Regierungsbildung am 27. Oktober danach gefragt, warum sie Herrn Schäuble zum Finanzminister berufen habe, obwohl er sich in der Spendenaffäre im Jahr 2000 nicht an einhunderttausend Mark erinnern konnte. Ihre erste Antwort war plausibel, nämlich weil sie ihm vertraue. Und zum Thema nachgefragt verweigerte sie jeden weiteren Kommentar.
Dieses nur als Beispiel zu meiner Frage: Regen wir Menschen uns zu häufig über unwichtige Aktualitäten auf oder ist das Verhalten, dem Volk die Auskunft zu verweigern der Anfang vom Ende und damit sehr wohl beachtenswert?

Ich meine, wenn man auf drängende Fragen keine Antwort gibt, braucht man sich nicht zu wundern, wenn unsere Antworten nicht ernst genommen oder gar nicht gehört werden. Das gilt für alle Bereiche der Politik wie des menschlichen Miteinanders.

Was ändert sich im Laufe eines langen Lebens? Welche Dinge beschäftigen Dich aktuell um Deinen Geburtstag herum? Bei unserem letzten Gespräch hattest Du gerade Deine Computer-Lehrerin verabschiedet ….

War ich mit 14 Jahren alleine aus Königsberg furchtlos mit einem der letzten Züge herausgefahren, währenddem meine Eltern drei Tage später für die gleiche Reise drei Tage brauchten, blieb die Angstlosigkeit bei mir. Ich war über 60 Jahre alt, als sich ein Gefühl von Angst einstellte. Es kam plötzlich im Auto beim Bergfahren. Angst war für mich dabei unvoraussehbar, denn dieses Fahren war bis dato mein Hobby. Aber ich musste meine Frau Ursula bitten, das Steuer zu übernehmen. Seither begleitet die Angst mich mal weniger, mal stärker. Es ist Angst, Krank zu werden, Hinzufallen, Schmerzen zu haben.

Zu meinem Geburtstag habe ich ein besonderes Geschenk von meiner Frau, meiner Familie und mir selbst bekommen: es ist ein Edelstahl-Geländer und führt entlang der Treppe von der Veranda in den Garten hinunter und damit zur Straße. Ich kann mich darauf stützen, ich bin wieder beweglich und damit glücklich. Siebenmal bin ich schon gegangen ….

 

Evelin Frerk, Berlin, Johannes Neumann, Oberkirch-Bottenau,
28. Oktober - 20. November 2009

Beispielbild
  Johannes Neumann inmitten von Mitgliedern des Beirates und Mitarbeitern der Giordano Bruno Stiftung