Geschichte einer geraubten Kindheit

Beispielbild
Heimkinder. Foto: Jenö Molnár
„Ich habe dir vergeben, Schwester Margit“

Molnár hält nichts von „ein Leben lang nur anklagen, anklagen. Ich halte das für reine Energieverschwendung.“ Im Rahmen seiner Aufklärungsarbeit besuchte er seine Peinigerin kürzlich mit einem Kamerateam im Pflegeheim: „ Der Heimleiter wollte mich zuerst nicht hineinlassen, weil er meine Geschichte und die Rolle der Schwester Margit darin kannte. Erst als ich erklärte, dass es mir um Friedensschluss geht, stimmte er zu.

Ich bin ins Zimmer gegangen von der Schwester Margit, sie lag da im Dämmerzustand, hab ihre Hand genommen, sie ein bisschen getätschelt, ein bisschen gestreichelt und sagte: ‚Schwester Margit, ich bin der Jöri’, hab also versucht, mit ihr zu reden. Vielleicht reagiert sie ja irgendwie. Prompt hat sie reagiert und hat zu reden angefangen: ‚Der Jöri, der Jöri’. Dann hat sie die Namen der anderen Heimkinder aufgezählt, bis sie irgendwann wieder zurückgefallen ist. Einer der Anwesenden fragte sie: ‚Wissen Sie eigentlich, was Sie dem Jöri angetan haben?’ Da fing sie an, hin und her an der Decke herumzuzupfen, wurde ein bisserl aufgeregt, so dass der Heimleiter meinte, es sei jetzt gut, sie rege sich nur auf. Ich sagte zu ihr: ‚Ich hab dir vergeben’, und bin gegangen. Damit ist die Sache für mich endgültig abgehakt.“ Schwester Margit hatte vor diesem Treffen mit Jöri bereits seit Jahren nicht mehr gesprochen.

Das Schlimmste von allem: staatenlos

Nach dem Heim folgte „das Schlimmste von allem. Nach Abschluss der Lehre musste ich das Heim verlassen, es wurde nicht mehr bezahlt. “ Molnár galt als staatenlos. Sein Vater war Amerikaner, seine Mutter Ungarin, er befand sich in Österreich und hatte keinen Pass. Die Behörden stellten sich stur. „Ich konnte über Jahre nicht arbeiten, konnte keine Wohnung suchen. Ein Erzieher hat mich irgendwann im Schnee liegend gefunden und mich zu seinen Eltern gebracht. Ich hab da geschlafen, bin am nächsten Tag wieder zur Fremdenpolizei. Da hat’s mir irgendwann mal gelangt. Ich war völlig down, fast schon depressiv. Da bin ich bei Nacht und Nebel über die Grenze nach Oberbayern und dann nach München runter getrampt.“

Er ging in Europa auf Wanderschaft und verdingte sich hier und dort als Hilfsarbeiter. „Es war eine schöne Zeit. Ich habe viele Leute kennen gelernt, interessante Typen und nette Menschen. Von den Menschen her habe ich keine einzige schlechter Erfahrung gemacht. Keine einzige. Bis auf die Pyrenäen, wo ein Franzose auf mich schoss und meinen rechten Oberschenkel nur knapp verfehlte – die Kugel ist richtig vorbei gepfiffen, ich bin in einen Graben rein gesprungen.“ Molnár redete sich aus manchen heiklen Situationen heraus – beispielsweise flunkerte er wegen seines angeblich gestohlenen Passes in Francos Spanien sowohl die Polizei als auch die österreichischen Botschafter an und bekam prompt genug Kapital, um weiter über die Runden zu kommen.

Später schloss Jöri eine Lehre zum Buchbinder als Bester seines Jahrgangs in ganz Bayern ab, immer noch staatenlos. Er sollte anschließend „ins Niemandsland“ abgeschoben werden. „Wohin? hab ich gefragt. Nirgendwohin, war die Antwort. Wir schicken dich über die Grenze. Was dann sein wird, ist deine Sache.“ Erst als die Mauer fiel, mit 46 Jahren, erhielt er von der ungarischen Botschaft in Bonn sofort eine Staatsangehörigkeit und damit seine wirkliche Identität, seinen ersten Pass. Diese Zeit wird Gegenstand seines zweiten Buchs werden.

Jöri fordert, „dass alle Kinder, die misshandelt wurden oder deren Leben in Chaos ausgeartet ist, dass die zumindest so rehabilitiert werden, dass sie im Alter würdig leben können. Dazu muss die Rente dementsprechend aussehen, sie müssen finanziell entschädigt werden. Eine Entschuldigung vom Staat nützt nichts. Davon haben die verlorene Würde nicht zurück. Die Verletzung ist da und deren Folgen sind auch da. Die kannst du nicht gut machen.“

Derzeit verklagt Jenö Alpár Molnár Anwalt das Land Österreich auf Entschädigungen für Völkerrechtsverletzung und Menschenrechtsverletzung. Und die verjährt nicht.