Min Dît – Die Kinder von Diyarbakir

Beispielbild

M. Bezar/Foto:Sascha Schmidt
Das Grauen tritt auf vielen Ebenen hervor

Es ist eine Gratwanderung, die Miraz Bezar mit seinem Film unternommen hat. „Der Film hat viele unterschiedliche Ebenen. Für manchen Zuschauer ist er daher etwas überladen, das ist mir durchaus bewusst“ kommentiert er seine Entscheidung, die vielen verschiedenen Probleme im kurdischen Teil der Türkei in seinem Film anzusprechen. Dennoch war es wichtig für ihn, soviel wie möglich über die dortige Situation in die Geschichte einfließen zu lassen.

Das zentrale Thema jedoch bildet JITEM , eine geheime Spezialeinheit der Gendarmerie, die ihrem Namen nach für „Nachrichtenbeschaffung und Terrorabwehr“ zuständig ist, und dem „tiefen Staat“ zugehörig sein soll. Ihre tatsächliche Existenz wird bis heute immer wieder von Teilen der Armee und der Politik bestritten, jedoch gibt es zahlreiche Hinweise darauf, dass JITEM zumindest existiert hat. Eine Reihe von ehemaligen JITEM-Agenten hat in der jüngsten Vergangenheit ihr Wissen an die Öffentlichkeit getragen und die menschenverachtenden Verbrechen der Einheit enthüllt. Besonders wertvoll für die Hinterbliebenen sind dabei Informationen über die Orte, an denen JITEM seine Opfer hat verschwinden lassen. Und tatsächlich findet man an den beschriebenen Orten, wie in Brunnen oder Seen, die Überreste von Verschwundenen, die von ihren Familien nun endlich in angemessener Form beigesetzt werden können.

Besonders aktiv war JITEM während der neunziger und frühen 2000er Jahre. Bezar spricht von bis zu 18.000 Menschen, die in dieser Zeit „verschwunden“ sind, viele von ihnen werden bis heute vermisst. Eine offizielle Aufklärung der von JITEM begangenen Morde findet erst seit wenigen Jahren statt.

Bezar inszeniert diese Gewaltspirale, indem er die psychologischen Folgen der Opfer, sowohl der Kinder, aber auch der Erwachsenen, untersucht – Angst, Orientierungslosigkeit, Verzweiflung, Misstrauen und die vielen Traumata, die von den verschiedenen Akteuren leise mit sich herumgetragen werden und die immer wieder zu einem emotionalen Ausbruch führen. Gerade hierin findet sich das überwiegend kurdische Publikum an diesem Abend im Filmhaus wieder. „Viele Kurden, die hier leben, haben in ihrer Vergangenheit solche Gewalt selbst miterlebt“, gibt Bezar zu bedenken. „Sie haben das dringende Bedürfnis, über diese Vergangenheit zu sprechen. Aber es hört ihnen niemand zu“. Hier sieht der Filmemacher ein mögliches Potential seines Filmes, auf die gesellschaftliche Debatte, auch in Deutschland, Einfluss auszuüben. Min Dît soll sein Publikum für die Problematik sensibilisieren und zugleich den Menschen der Region und den Migranten, die von dort nach Deutschland und in andere Länder geflüchtet sind, eine Stimme geben, die ihnen bislang fehlt.

Ein Politikum auch in seiner Form

Selbst wenn man für einen Augenblick vom brisanten Inhalt des Filmes absieht, handelt es sich bei dem Spielfilmdebut von Miraz Bezar um ein Politikum. Denn Min Dît ist der erste kurdischsprachige Film, der in der Türkei zu sehen ist und dort im Originalton mit türkischen Untertiteln aufgeführt wird. Auch wenn es immer wieder zu heiß diskutierten Auseinandersetzungen kommt, um die Frage nach Ursache und Wirkung, die Frage, wer die Schuld an der eskalierenden Gewalt trägt – PKK oder JITEM –, alleine die Präsenz und die weitestgehende Akzeptanz von Min Dît in der Türkei sind ein Erfolg für sich. „Ich hoffe, dass ich anderen kurdischen Filmemachern damit ein wenig die Tür geöffnet habe“ sagt Bezar.

Dass der Regisseur überhaupt nach Diyarbakir gezogen ist, um dort einen Film zu drehen, ist dabei nicht zuletzt der Weigerung der deutschen Filmförderung geschuldet, ihn bei seiner Arbeit zu unterstützen. Seine Entscheidung, mit privaten Mitteln und umfangreicher Unterstützung seiner Familie vor Ort zu drehen, um den Film in all seiner erschütternden Ehrlichkeit umsetzen zu können, ist somit auch ein Schritt in die Autonomie gegenüber der etablierten Filmwirtschaft - für sein politisch ambitioniertes Projekt scheinbar unerlässlich. Zur Finanzierung der Postproduktion stand Bezar schließlich Fatih Akin zur Seite, der als Gewinner des Goldenen Bären („Gegen die Wand“ 2004) zu den großen Namen im deutschen Filmgeschäft gehört und den eine langjährige Freundschaft mit Bezar verbindet.

Doch auch nach der Fertigstellung von Min Dît ist Bezar wieder auf sich alleine gestellt, zumindest in der Türkei. Denn obwohl der Film beim Filmfest in Antalya 2009 mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet wurde, hat sich kein Verleih bereit erklärt, ihn in der Türkei in die Kinos zu bringen. Dass er nun doch seit April in türkischen Kinos zu sehen ist, ist dem unermüdlichen Einsatz Bezars selbst geschuldet. „So wie auch die Finanzierung des Films habe ich den Verleih einfach selbst übernommen und mit vielen Kinobetreibern persönlich telefoniert, damit der Film in den Kinos gezeigt wird“. Und dort findet er auch sein Publikum, wobei sich zeigt, dass selbst viele Türken nichts über die Zustände im Osten ihres eigenen Landes wissen. Hier leistet Min Dît dringend erforderliche Aufklärungsarbeit.

Daneben zeigt die positive Resonanz auf Min Dît aber vor allem eines, nämlich dass die kurdische Sprache, zumindest über den Kanal der Filmkunst, in der türkischen Öffentlichkeit auf eine gewisse Akzeptanz stößt. Ein wichtiges Signal für die türkische Politik.

Dreharbeiten in Diyarbakir

Fünf Wochen lang dauerten die Dreharbeiten in Diyarbakir. Um mit seinem geringen Budget die beste Wirkung zu erzielen, wollte Miraz Bezar, nach eigenen Angaben, dem Vorbild des iranischen Autorenkinos folgen und den Film durch all das bereichern, was die Stadt zu bieten hat. Und tatsächlich zeichnet er ein interessantes Bild dieser hierzulande weitestgehend unbekannten Millionenstadt. Häufig wirkt sie marode und ausladend, ist geprägt von der riesigen Ruine einer alten armenischen Kirche. In anderen Momenten inszeniert Bezar seine Bilder der Stadt in kräftigen, lebendigen Farben und lässt seine Schauplätze in sympathischer Urbanität florieren. Auch das starke Gefälle zwischen Armut und Reichtum findet seine Entsprechung in den Häusern und Wohnungen der Stadt. Während beispielsweise die Redaktionsräume der Zeitung, bei der der Vater zu Beginn arbeitet, wie eine kahle Kammer wirken und die Wohnung der Tante recht dürftig eingerichtet ist, lässt sich die Wohnung Nuris durchaus an westlichen Standards messen und ist somit die luxuriöseste, die man im gesamten Film zu sehen bekommt.

Zusätzliche Authentizität sichert der Einsatz von Laienschauspielern, die selbst aus Diyarbakir stammen und laut Bezar auch schon selbst traumatische Erlebnisse verarbeiten mussten. Sensationell ist das Schauspiel der Kinder, die die wenigen Höhen ebenso überzeugend verkörpern, wie die zahlreichen Tiefen und immer neuen Erschütterungen. Senay Orak, die im Film die Gülistan spielt und während der Dreharbeiten gerade einmal zehn Jahre alt gewesen ist, wurde für ihre Leistungen vor kurzem beim Filmfestival von Istanbul verdient als besten Darstellerin ausgezeichnet.

Bedenkt man, dass Bezar trotz der brisanten Begebenheiten in Diyarbakir die Stadt als Originalschauplatz für seinen Film gewählt hat, drängt sich unweigerlich die Frage auf, wie er die Dreharbeiten vor Ort erlebt hat und ob die Lage nicht auch für ihn einmal bedrohlich wurde. Denn, so versichert Bezar in der Pressemappe zu Min Dît, alles was im Film zu sehen ist, „hat in der ein oder anderen Form in Diyarbakir stattgefunden“.

„Die Situation war für uns nie bedrohlich“ erzählt er im Filmhaus, „aber wir waren auch immer sehr vorsichtig“. Da sich das Filmteam vor Drehbeginn eine offizielle Genehmigung einholen musste, reichte Bezar ein verändertes Drehbuch ein, in dem es lediglich um ein Drama zweier Straßenkinder ging - „ohne den Mord, ohne JITEM und auch ohne die kurdische Sprachfassung“. Durch die Genehmigung war es ihm letztlich möglich, relativ problemlos zu drehen, auch trotz häufiger Nachfragen von zivilen und uniformierten Sicherheitskräften. Zudem war die Situation in Diyarbakir während der Dreharbeiten 2007 relativ entspannt. „Seitdem hat sich die Lage aber wieder dramatisch verschlimmert“, gibt Bezar am Ende des Abends mit ernster Miene zu bedenken und verdeutlicht damit noch einmal die Brisanz seines Filmes Min Dît. „Heute herrscht in Diyarbakir fast wieder Kriegszustand“.

Sascha Schmidt

Min Dît, Miraz Bezar, Deutschland, Türkei, 2009, 102 Minuten

Website zum Film mit Terminhinweisen zur aktuellen Tour Miraz Bezars durch deutsche Kinos.