Ein „Band der Freundschaft“ knüpfen (II)

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In Stremingers Garten / Fotografie (c) Evelin Frerk

BAD RADKERSBURG. (hpd) Ein Gespräch mit dem Philosophen Gerhard Streminger über David Hume, Adam Smith, Marktwirtschaft, Religionskritik und auch darum, warum Streminger meint, dass man von der britischen Kultur durchaus noch immer etwas lernen könne, beispielsweise, ein guter Verlierer zu sein. Aber das Gespräch zieht auch seine eigenen Kreise.

Ein „Band der Freundschaft“ knüpfen, Teil I


hpd: Sind Sie getauft worden und religiös aufgewachsen?

Streminger: Ich bin getauft worden, aber komme aus einer sozialdemokratischen Familie – das klingt spannender, als es in Wirklichkeit ist. Denn dies hieß nur, dass man zu Hause immer nur eine bestimmte Partei wählte, Punktum. Gut begründet wurde das alles nicht, wenn auch später die Regierungszeit Bruno Kreiskys sehr wohlwollend zur Kenntnis genommen wurde. Mir erging es also so wie vielen meiner Generation, die in weltanschaulichen Dingen vernachlässigt wurden und, mit Bildung oder Lebensweisheit kaum ausgestattet, sich in einer fremden Welt behaupten mussten. Als ich jung war, wurde praktisch alles dem Wiederaufbau untergeordnet. Nachdem große Teile unserer Eltern- und Großelterngeneration halb Europa und die ganze Humanität in Schutt und Asche gelegt hatten, war die Restauration wichtiger als die Bildung der Kinder; und in den Schulen traf man dann die alten Nazis und die ach’ so armen Priester, die wahren Opfer des Nationalsozialismus.

Doch zurück zur Sozialdemokratie. Im Unterschied zu Deutschland, wo die Sozialdemokratie sehr protestantisch geprägt war (und ist?), waren die Sozialdemokraten in Österreich stärker an den Idealen der Aufklärung und Säkularisierung orientiert. Es gibt ja in Österreich keine bedeutsame evangelische Kirche, und wenn, dann waren die meisten Mitglieder damals deutsch-national gesinnt. Sie müssen also bedenken, dass ich, wie schon gesagt, in einer Zeit groß geworden bin, in der alles dem ‚Schaffe, Schaffe’ untergeordnet war und man sich für Ideologien kaum interessierte.

Mein Vater war als Soldat im Krieg gewesen, und zu Hause lebte er wie in einem Konkon, man konnte ihn also nicht wirklich ansprechen; ich erinnere mich nicht, dass er jemals auch nur eine wichtige Frage beantwortet hätte. Mich aber haben diese Probleme interessiert. Es gab natürlich auch damals, wenn man nur ein bisschen wach blieb, verschiedenste Weltanschauungen zu entdecken, und so stieß ich auf das Christentum, aber eben nicht aus religiösen Gründen. Ich nahm einmal zur Kenntnis, was die da sagen, also schauen wir ’mal.

Als ich später, 1974/5, in Göttingen studierte, haben mich dort die linken Gruppen interessiert und ich habe dann auch diese näher beäugt. Aber auch hier als Intellektueller mit einem fast brennenden Interesse an Wahrheit: Da wird etwas gesagt. Gut, aber mit welchem Anspruch? Stimmt es oder stimmt es nicht? Da ich mich nicht wirklich beteiligte, litt ich auch nicht emotional, wenn ich etwas als falsch oder unbegründet erkannt zu haben glaubte. Ich habe diese Nicht-Bindung als etwas durchaus Positives erlebt, da ich dadurch besser in einer Perspektive der Unparteilichkeit, des Abwägens verweilen konnte. Und in diesen Zusammenhängen, wo es letztlich um Wahrheit geht, ist es meines Erachtens ganz wichtig, dass man von großen Abhängigkeiten frei bleibt und nur der Vernunft verpflichtet ist, also immer wieder nach den besten Argumenten sucht und dann im Lichte dieser handelt. Eine solche ‚frei schwebende Intelligenz’, wie Karl Mannheim sie nannte, ist nun einmal das Wesentliche von Vernunft und Aufklärung. Nietzsche zufolge sind sogar alle Parteigänger Lügner. Mit dieser, an der Wahrheit orientierten Einstellung macht man sich aber selten Freunde, denn die meisten wollen ja doch Bekenntnisse hören und nicht Erkenntnisse durchdenken. Ein solches Fest der Vernunft… Aber vielleicht sollte ich wirklich nicht so häufig von ‚Vernunft’ reden, denn das weckt zu starke Assoziationen zum klassischen Rationalismus, in dem die Vernunft als übernatürlich, göttlich galt. ‚Besonnenheit’ wäre vielleicht ein viel schöneres Wort, um das zu bezeichnen, worum es einem empiristisch und naturalistisch gesinnten Aufklärer hier geht.

hpd: Ich habe auch den Eindruck, dass bei der Beschäftigung mit David Hume die Fairness eine große Rolle spielt, auch dem weltanschaulichen Gegnern gegenüber, und dass es auch für Sie viel bedeutet.

Streminger: Ja! Auf jeden Fall. Im Grunde zählt in diesen Dingen nur die Qualität der Argumente, von welcher Seite auch immer sie kommen mögen. Was wiegt’s, das hat’s! Allerdings kann ich mich gelegentlich des Spotts nicht erwehren, etwa wenn der Papst – selbst im kugelsicheren gläsernen Sarg – seiner Herde Gottvertrauen predigt bzw. Gottvertrauen einfordert. Das halte ich für so lächerlich – kugelsicher der Hirte, sich mit dem Allmächtigen begnügend die Herde –, dass ich darin nur noch den Vorspann zum neuen Monty-Python-Film sehen kann: Papimobil or The desperate Life of Joe.

hpd: „Show?“

Streminger: (lacht) Joe! Von Joseph. Papimobil or The desperate Life of Joe. Aber Spaß beiseite. Gerade als Philosoph versuche ich den Wert der Fairness und Vernunft – bleiben wir dabei – zu pflegen, und ein bestimmtes Erlebnis hat mich dabei ganz besonders geprägt: Als ich begonnen hatte, das Theodizee-Problem in systematischer Weise aufzuarbeiten, bemühte ich mich, der Gegenseite stets Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, denn nur so leistet man etwas für die Philosophie. Aber je freier ich innerlich wurde und das Problem tatsächlich von allen Seiten betrachten konnte, also alle möglichen und unmöglichen Argumente ernst nahm, umso schärfer wurde auch mein religionskritisches Bewusstsein. Das war eine durchaus interessante Erfahrung: Unparteilichkeit, das Bemühen, die andere Position so fair als möglich darzustellen, ist in diesen heiklen Debatten nicht nur ethisch geboten, sondern bewirkte zumindest in mir auch die Schärfung des kritischen Verstandes.

hpd: Der Widerspruch in der religiösen Botschaft ist eigentlich offensichtlich. Was meinen Sie, worin begründet sich die ungebrochene Anerkennung und der Einfluss, den die Kirche trotz aller solcher Widersprüche immer noch haben, speziell auch die katholische Kirche? Für die evangelische Kirche hat Michael Schmidt-Salomon einmal gesagt: „Wären alle Religionen so wie die EKD, brauchten wir keine Religionskritik mehr.“
Und es hat mir jetzt kürzlich jemand gesagt: „Wir können schreiben, was wir wollen, wir können analysieren, so viel wir wollen, und noch so viele Argumente haben, sie werden sich ducken, schweigen und weitermachen.“

Streminger: Die Geschichte spricht insoweit für eine solche Position, da die Kirchen schon oft am Ende zu sein schienen – und sich dann wieder als die ‚wahren Opfer’ wie ein Phönix aus der Asche als moralische Autorität etablieren konnten, eine machtpolitische Meisterleistung! Heute gelten die Kirchen vielerorts immer noch als ‚moralisches Gewissen der Gesellschaft’, auch wenn diese beispielsweise Jahrhunderte lang nichts Schlechtes daran fand, mit der Hölle zu drohen und Angst und Schrecken zu verbreiten. Andererseits zeigt die Geschichte aber auch, dass das Wort auf Dauer mächtiger ist als das Schwert und Ungeheures in Bewegung zu setzen vermag. Ob das eine, das Beharrende, oder das andere, das Fortschrittliche, eher zutrifft? Irgendwie ist es ein wenig müßig, so zu fragen. Denn Aufklärer haben nichts anderes als das Wort, den konsequenten leisen Appell an die Vernunft.

Ich denke, der letzte Grund dafür, dass das ganze religiöse Machtsystem irgendwie noch immer funktioniert, ist das Wissen der Menschen, nur endliche Wesen zu sein. Mit dieser narzisstischen Kränkung werden viele nicht fertig. Und genau an diesem Punkt liefert die Religion zunächst eine Antwort und eine Möglichkeit, wie man mit dieser Kränkung fertig werden kann. Sie behauptet nämlich, der individuelle Tod sei gar nicht endgültig, sondern es gäbe ein Leben danach. Das finden viele in ihrem Leid attraktiv, zumindest so lange, bis ihnen Philosophen erklären, dass dies leider keine wirkliche Lösung, sondern nur eine Sackgasse ist.

  

hpd: Aber ist das wirklich eine Kränkung? Ist das nicht eine Behauptung, ein Setzen des Christentums, um Menschen sozusagen an Ihre ‚Leimrute’ zu bekommen: Wir haben den Ausweg? Für mich war eine wesentliche Erkenntnis, als ich im kurzen Anhang Ihres Buches „Ecce Terra“ las, wie die griechische Philosophie, vor Platon, den Menschen als Lebewesen sah, wie jedes andere auch, das sich von der Geburt, im Aufwachsen, alt werden und Sterben, in einem natürlichen Kreislaufs des Entstehens und Vergehens befindet. Erst Platon und seine Nachfolger führen dann einen Jenseitsbezug ein, eine zweite Dimension, die außerhalb dieser Welt liegt – das Höhlengleichnis von Platon – und von dort aus kommt dann der Zugriff auf die Menschen, denen diese jenseitige Dimension, weil es sie ja nicht gibt, verschlossen ist. Wenn man sich davon abgelöst hat, funktioniert diese vorgebliche Tröstung auch nicht mehr. Mich kann man seitdem weder mit etwas nach dem Tode erschrecken und belohnen wollen. Womit?

Streminger: Hume, um wieder ihn ins Spiel zu bringen, hätte wohl so ähnlich wie Sie und die griechischen Vorplatoniker argumentiert. Er hat einmal gemeint: „Ich mache mir so große Sorgen über das Leben nach dem Tod, wie ich mir Sorgen mache über das Leben vor der Geburt.“ (Lachen) Aber ich glaube nicht, dass viele so denken – die Kirchen tragen natürlich das ihre dazu bei, dass dieses Wissen nicht bekannt wird. Denn es ist ja in ihrem ureigensten Interesse, die Köpfe der Menschen im Dunkeln zu belassen und zu verkünden, dass das wahre Leben erst nach dem Tode begänne -- dann nämlich, wenn man ewig in der Nähe Gottes sitzen und frohlocken kann. Aber diese Verkündigung hat mehrere Haken.

Einer ist der – und alle, die sich so sehr nach dem Jenseits sehnen, mögen dies doch bedenken –, dass die ersten Menschen die Gottesnähe als so umwerfend angenehm gar nicht empfanden: Ein Gott, der durchs Dickicht schleicht und alles sieht; der eine Schlange erschafft, die sie belog, als sie noch gar nicht vom Baum der Erkenntnis dessen, was gut und böse ist, gegessen hatten, also die Täuschung noch gar nicht wirklich durchschauen konnten. Und das soll attraktiv sein? Danach sehnen Menschen sich `mit ganzem Herzen, mit ganzem Gemüt und mit ganzer Seele´? Und das gleich auf ewig? Na, ich weiß nicht. Die ersten Menschen sind jedenfalls sündig und daher aus dem Paradies vertrieben worden. Sie mussten nun zwar arbeiten und unter Schmerzen gebären, aber sie waren … frei! Frei von der Nähe Gottes!

Ich würde also ihre Frage so beantworten: Ein solches, rein am Diesseits orientiertes ‚wahres’ Bewusstsein bedarf der Erkenntnis und auch der Disziplin. Viele Menschen erleben etwa Sterben als großes Scheitern, als großen Schmerz, und hier finden die Kirchen zunächst ein reiches Betätigungsfeld. Zu dieser Todesgewissheit gesellen sich noch die verschiedensten Verluste, der Tod der Lieben, deren Krankheiten etc. Schopenhauer verglich deshalb die Kirchen mit Leuchttürmen (oder auch nur Leuchtwürmern), die der Dunkelheit bedürfen, um zu leuchten. Es ist genau diese Düsternis, in der Kirchen prächtig gedeihen und die sie noch am Leben hält. Not lehrt eben beten, und viele wollen erst dann die Frohbotschaft hören, wenn es schon gehörig donnert. Während die meisten Ärzte wollen, dass es den Menschen besser geht, ist es im Interesse der Kirchen, dass es den Menschen nicht allzu zu gut geht, damit sie ihre Botschaft verkünden und Heil spenden können. Sie wecken dann unendliche Sehnsüchte, die das Diesseits nicht erfüllen kann und so zum Ort des Mangels wird, an dem Menschen sich nicht mehr heimisch fühlen können.

hpd: Aber wer hat ihnen das erzählt, dass der Tod ein Scheitern wäre?

Streminger: Natürlich die Kirchen, aber auch unabhängig davon gibt es viele Formen von Leid, von Verlust, von der Angst, dass man seine Möglichkeiten nicht verwirklichen konnte, dass man zu früh sterben könnte, noch ehe man ein erfülltes Leben geführt hat. Ich denke, solche Menschen erleben die Vorstellung vom Ende des Lebens als etwas sehr Negatives, manche vielleicht sogar als regelrechten Skandal.

Sie dürfen nicht vergessen, dass auch die Griechen, die sie zu Recht so positiv zitiert haben, das Bewusstsein von Leid und Tod nicht einfach hingenommen hatten. Aber sie haben sich zur Bewältigung des Schmerzes etwas ganz anderes erdacht als Religion, also die Rückbindung an eine Höhere Macht, nämlich: die Tragödie, die Kunst. Die Möglichkeit, die dadurch eröffnet wird, nämlich unter bestimmten Bedingungen am großen, fremden Leid teilzuhaben, reduziert das eigene, das kleinere Leid. Wird in einer Tragödie dargelegt, dass es mir noch viel schlimmer gehen könnte als es tatsächlich der Fall ist, Ödipus als Beispiel, und wird das künstlerisch so überzeugend vorgeführt, dass es mich packt, dann gehe ich gereinigt aus dem Theater. Vieles fällt wieder leichter, zumindest für geraume Zeit, denn ich wurde mit allem Ernst daran erinnert, dass ich nicht der Einzige bin, der leiden muss, und mein Leid ist nicht so groß wie das manch’ Anderer. Ich bin keinesfalls der erste und schon gar nicht der einzige! Dieses Wissen bleibt einige Zeit bewusst, und verschwand es wieder in der Nacht des Vergessens, dann ging ich als Grieche nicht in die Kirche, um niederzuknien und Buße zu tun – durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine übergroße Schuld! –, sondern ging wieder ins Theater unter freiem Himmel und saß neben Menschen auf Steinen, die den ganzen Tag lang von der Sonne beschienen worden waren.

Kurz gesagt: Auch die Griechen haben etwas erdacht, etwas viel Besseres, meine ich, um mit dem Wissen um Endlichkeit und Leid verschiedenster Art fertig zu werden. Ihr Angebot finde ich attraktiv, dasjenige der Religion nicht. Denn es gibt, und das ist ein weiterer religionskritischer Einwand, es gibt, wie sich meines Erachtens genau zeigen lässt, keinen gütigen Gott, der eine ausgleichende Gerechtigkeit im Jenseits garantieren könnte. Der Gedanke an ein Leben nach dem Tode mag Trost spenden, aber da nicht gezeigt werden kann, dass es einen gütigen Gott gibt, ist die Vorstellung von einem künftigen Paradies reines Wunschdenken. Menschen orientieren sich hier am Lustprinzip, wie Sigmund Freud dies ausdrücken würde, und nicht am Realitätsprinzip. Der Gedanke an ein herrliches Jenseits mag Stress reduzierend sein, aber es dürfte einen viel größeren Stress bedeuten, wenn man einsehen muss, dass es – so wie die Welt nun einmal beschaffen ist -- gar keinen gütigen Gott geben könne. Man mag es bedauern oder auch nicht, aber die Menge an Leid in dieser Welt ist mit der Existenz eines gütigen, gerechten und mächtigen Gottes nicht vereinbar. Allerorts wird der Religion eine Trostfunktion zugestanden. Aber wie viele Fragen und Probleme handelt man sich bereits ein, wenn man den Schöpfer Himmels und der Erde – angesichts allen Leids -- für gütig und gerecht hält?

 

  

hpd: Das steht aber in starkem Kontrast zu unserer Spaßgesellschaft, die dafür keine Zeit hat.

Streminger: Sie meinen hier wohl das Wissen um das individuelle Scheitern. Aber die Spaßgesellschaft, dieser Zwang zur Oberflächlichkeit, übertüncht meines Erachtens nur dieses allgemeine Bewusstsein. Denn wir Menschen sind nun einmal Primaten, deren Gehirn so groß geworden ist, dass sie wissen, was einmal sein wird, dass ihr Leben und das anderer endlich ist und voll Leid sein könnte. Ich denke doch, dass auch die Spaßgesellschaft im Grunde dafür empfänglich ist.

Ich selbst versuche, aber das nur so ganz nebenbei, bei anderen immer auch sogleich auf deren Leid und Probleme zu achten. Das vergrößert nicht nur mein Verstehen, sondern reduziert auch meine Selbstbezogenheit, was ich wiederum als positiv erlebe. Sehr gut gelingt mir das alles zwar nicht, aber ich nehme an, dass auch Schicki-Mickies etwa mit den Problemen ihrer Eltern konfrontiert sind, konfrontiert sind mit unglücklichen Liebschaften, manche haben eine Abtreibung hinter sich, einige einen Selbstmordversuch … und das alles versuchen sie dann mit Spaß zu überspielen, weil sie nichts Besseres kennen.

hpd: Das Marketingkonzept der christlichen Kirchen besteht ja auch darin, dass sie sehr brutale Schriften haben, sehr bedrohliche mit jeder Menge und Variationen von Strafen, selber aber, als Priester die verzeihende, menschenfreundliche Variante fahren...

Streminger: ....Gegenwärtig! Bei uns!

hpd: Ja, sie haben dann so viele Tröstungen, „So schlimm wird es nicht werden“, „Dir ist vergeben“, etc. Die schrecklichen Voraussagen und, als Bodenpersonal, stets das freundliche Lächeln. Wenn dieses Konzept der freundlichen Tröstung funktionieren würde, müssten Christen doch eigentlich fröhlich sterben, was aber, wie mir berichtet wurde, nicht der Fall ist. Da erst der HERR entscheidet, nach dem Tode, haben sie beinahe alle Angst vor den dann möglichen Strafen.

Streminger: Man sollte dieses Eiapopeia, diesen jenseitigen Sozialstaat für alle, der gegenwärtig bei uns von vielen Kanzeln verkündet wird, nicht über Gebühr ernst nehmen. Denn unsere Kirchen sind bereits durch die Dompteurschule der Aufklärung gegangen, vieles ist heute nicht mehr möglich, was früher selbstverständlich war (und anderswo selbstverständlich ist. Denn wurden Religionen nicht durch die Aufklärung zumindest teilweise entgiftet, dann zeigen sie sogleich ihr weniger anziehendes Gesicht.)

Aber geistiges Schunkeln in unseren Kirchen hin oder her: Schreckliches findet sich in den angeblich von Gott offenbarten Büchern. So beruft sich Jesus, um nur ein Beispiel zu nennen, etwa zwanzig Mal auf die Hölle, er verkündet Heulen und Zähneknirschen und droht mit ewigen Feueröfen. Wie motivierte Jesus seine Anhänger, damit sie das tun, was er will? Antwort: Durch den Appell an deren Egoismus: Seid doch nicht dumm, seid klug, sammelt Schätze im Himmel, wo keine Motten sie zerfressen, und wenn ihr das nicht tut, was ich euch sage, dann, ja dann, wartet die Hölle auf euch, und das gleich auf ewig (für endliche Vergehen!). Das ist doch schrecklich, und ich frage mich, wie sich Jahrtauende lang das Gerücht halten konnte, das christliche Evangelium sei eine Liebesethik. Franz Buggle hat dazu ein lesenswertes Buch mit glänzendem Titel geschrieben: Denn sie wissen nicht, was sie glauben.

Bei Licht besehen, entpuppt sich die Jesuanische Ethik, trotz manch bedenkenswerter Passagen, als infantiler Appell an den Egoismus bzw. an den Jenseitsegoismus des Einzelnen. Es geht primär gerade nicht um das Wohl der anderen oder um Verständnis, sondern um das eigene Wohlergehen, spätestens im Himmel. Warum soll ich das tun, etwa anderen helfen oder gar die Feinde, die mir Böses getan haben, lieben? Jesus: Sei klug und denke an die Schätze im Himmel -- und an die Schrecken der Hölle! Die Frohe Botschaft ist also in Wahrheit eine ziemlich rohe Botschaft und eine Gefahr – keine Stütze – für Moralität. Denn diese gründet sich auf Empathie, auf Mitgefühl und Freude am Wohl anderer. Aber nicht diese emotionale Teilhabe am Schicksal anderer wird gefördert und kultiviert, sondern es wird an den Egoismus des Einzelnen gemahnt (Gottesnähe oder Höllenstrafen, darum geht es letztlich), und dieser Egoismus zerstört auf subtile Weise alles das, was an Empathie existiert. Das vorhandene Mitgefühl mit anderen, das eigentlich bekräftigt werden sollte, verliert sich im Streben nach eigener jenseitiger Seligkeit wie Flüsse sich im Meer verlieren.

Aber diese problematische Form des Motivierens ist nur ein Argument gegen die Jesuanische Ethik. Es gibt noch andere. Nehmen wir etwa das Gebot: „Richtet nicht, auf das ihr nicht gerichtet werdet.“ Das ist zumindest unbedacht, denn wir müssen nun einmal ständig richten, aus der Informationsflut auswählen, zwischen gut und böse unterscheiden. Jesus, für viele der größte Morallehrer aller Zeiten, hätte, anstatt das Richten zu verbieten, die Menschen lehren sollen, wie sie richtig urteilen. Zum Glück hat die moderne Gesellschaft dennoch Gerichtsverfahren entwickelt, die am ehesten Fehler ausschließen können: Richter, Verteidiger, Gutachter, Gesetze, sodann höhere Gerichte und Verfassung. Diese großartigen zivilisatorischen Errungenschaften mussten, wie so vieles, gegen das angebliche Wort Gottes durchgesetzt werden.

Der nächste grobe Fehler Jesu ist die Tatsache, dass er keinen Unterschied machte zwischen Impuls und Tat: „Wer die Frau eines anderen begehrlich ansieht, der hat die Ehe schon gebrochen.“ Das ist doch Unsinn. Zum Glück wird in aufgeklärten Ethiken gerade auf den Unterschied zwischen Impuls und Tat gepocht. Denn nach einem Impuls, einem Wunsch, etwas Bestimmtes zu tun, setzt im moralischen Menschen erst einmal die Reflexion ein: Will ich das wirklich? Welchen Schaden füge ich anderen damit zu? Ist das, was ich will, rechtens? Ein Wunsch kann durch Reflexion, insbesondere durch die Beachtung der Konsequenzen der Handlung, zum Interesse werden. Aber ein Wunsch kann auch strikt abgelehnt werden, um Gottes willen... (fröhliches Lachen), ach du meine Güte, ... nein, nein, ich meinte: um der Mitmenschen und des Rechts willen: Einem bestimmten Impuls, etwa in der Stadt zu schnell mit dem Auto zu fahren, werde ich, wie ich eingesehen habe, auf keinen Fall nachgeben!

Bei den Missbrauchsfällen, über die jetzt so viel geredet wird, dürfte das besagte Wort Jesu auch eine gewisse untergründige Rolle spielen. Katholische Priester, nehmen wir einmal an, verspüren den Impuls, dass ein bestimmtes Kind erotisch anziehend ist. Nun sagt ihnen Jesus, das göttliche Vorbild, es sei kein Unterschied zwischen Impuls und Tat. Daraus schließen sie dann (oder ihr Unterbewusstes): Also kann ich es ja tun. Somit ist Jesus mit seinen unbedachten Äußerungen mitverantwortlich für das Schreckliche, was geschehen ist, und müsste ebenso zur Verantwortung gezogen werden...

hpd: ...Weil sie beim Denken, im Impuls bereits verwerflich waren, konnten sie es dann auch tun, denn schlimmer ging es sowieso nicht...

Streminger: Ja, genau. Denn Jesus sagt, mit dem Impuls, dem Antrieb daran habe ich die Untat bereits begangen. Warum soll ich es also nicht auch tatsächlich tun? Wo ist noch der Unterschied, denn schuldig bin ich bereits durch das Denken daran? Dieses Gebot: „Wer eines anderen Frau begehrlich ansieht ….“ ist also unsinnig und verwerflich.

Was die katholische Sexualmoral anlangt, gibt es ohnedies fundamentale strukturelle Probleme. Nennen wir nur eines: Wenn man als Priester eine eheähnliche Beziehung eingeht, so wird man aus der Kirche oder vom Sakramentalen, also vom Kirchenleben, ausgeschlossen; wenn man sich an Kindern vergeht, wird man bloß versetzt (zumindest so lange, so lange die Öffentlichkeit nichts davon erfahren hat). Das ist doch pervers. Hier könnte sich vielleicht etwas ändern, doch der Anspruch des katholischen, im Zölibat lebenden Klerus, Experte auf dem Gebiet der Sexualmoral zu sein, wird weiterhin geradezu trotzig erhoben. Das weckt in mir allerdings die Vorstellung von Bergführern, die sich zu Experten aufplustern und zugleich stolz darauf sind, noch nie einen Berg bestiegen zu haben. Diese Unwissenheit und Unmoral – Wenn schon nicht keusch, dann wenigstens heimlich! – sind wohl die Hauptgründe dafür, dass immer mehr Menschen der katholischen Kirche und deren Priestern, die nie gelernt haben, auf eigenen Beinen zu stehen – Nicht mein, Dein Wille geschehe! – den Rücken kehren. Immer weniger glauben denen, die nicht willens sind, sich selbst ein Bild von der Wirklichkeit zu machen, sondern demütig nach oben, also ins Nichts schauen. Die ehemalige Männerhochburg verkümmert so zur Seniorenhupfburg. Wie riesige Mühlen in ausgetrockneten Bachbetten stehen sie da, die Kirchen. Aber ihre Macht geht noch immer weit über ihre Bedeutung hinaus.

  

hpd: Ich möchte noch einmal kurz auf die griechische Tragödie zurückkommen: Die Funktion der griechischen Tragödie. Ich sage jetzt einfach einmal: Diese Funktion hat in Deutschland die BILD übernommen, in Österreich die Kronen-Zeitung. ...

Streminger: Mmh.

hpd: ...und zwar, Begründung: Die BILD hat ja das Problem, wie schafft man es, dass jeden Tag rund drei Millionen Menschen dieses Unterhaltungsblättchen kaufen? Ist das Grundprinzip, nach dem die Schlagzeilen getextet werden, nicht ähnlich? „Frau stützt sich auf U-Bahntreppe: Elektrischer Schlag!“ Uups! Wie gut, dass ich weder U-Bahn fahre, bzw. dass ich, als ich da hin griff, keinen elektrischen Schlag bekommen habe, etc. D. h. diese Spezialität des Blattes, „Wenn man sie schräg hält, läuft das Blut heraus“, Einzelschicksale vorzuführen von Prominenten und anderen Leuten, dass ich als normaler Mensch, der ohne große Sensation lebt, sagen kann: Wie gut, dass alles das mir nicht passiert. Wie gut, das ich kein Prominenter bin, der sich schon wieder scheiden lassen muss, etc. Könnte es sein, dass diese Funktion mit der Katharsis, der Reinigung durch die griechische Tragödie, ähnlich ist? Wenn ich täglich diese Dramen sehe, kann ich froh sein, dass es mir halbwegs besser geht? Als These?

Streminger: Das ist eine interessante Idee, an die ich noch nie gedacht habe.

hpd: Ich auch nicht! (Gemeinsames Lachen) Es kam mir in den Sinn: Haben wir nicht doch, neben dem Guidomobil von Herrn Westerwelle, gesellschaftliche Instanzen, die dieses Prinzip für den Einzelnen immer wieder herstellen? Freue dich, lebe bescheiden, bleib in deinem kleinen Glück, dort bist du gut aufgehoben – es hat daneben ja auch noch die gesellschaftliche Funktion des Klein-Haltens...

Streminger: Nun meine ich, dass es sich bei den Lesern von Bild und Kronen-Zeitung doch vornehmlich um Klein- und Spießbürger handelt, die möglichst nicht über ihren Tellerrand schauen wollen und ihnen alles, das jenseits davon liegt, Angst und Schrecken macht. Bei der griechischen Tragödie ging es jedoch um Menschen, die im Überfluss ihrer Emotionen lebten, weshalb ihnen ja auch in Delphi über dem Tempel geraten wurde: Haltet Maß! Diejenigen, die in Griechenland an einem Tragödienspiel teilnahmen, waren gepackt vom Geschehen auf der Bühne und erlebten Gemeinschaft mit anderen unter freiem Himmel. Die Funktion der griechischen Tragödie war doch wohl eine andere als BILD.

hpd: Die griechische Gesellschaft war doch aber eine Sklavenhaltergesellschaft, bei der nur die vielleicht zehn Prozent der Elite im Theater als Teilhabende saßen, während den Sklaven im Hause, die nicht direkt daran beteiligt gewesen sein konnten, danach darüber berichtet wurde. Und dieses Berichten ‚über etwas’, wäre das nicht vergleichbar mit den heutigen Medien?

Streminger: Nach Aristoteles löst die Tragödie Jammer und Schrecken aus und bewirkt dadurch Reinigung. Da müsste man nun genauer prüfen, ob das bei den Medien, die Sie erwähnt haben, und bei den nicht direkt am Tragödienspiel Beteiligten (Sklaven) auch der Fall ist bzw. war. Das müsste empirisch bzw. historisch untersucht werden: Jammer und Schecken und Reinigung. Aber ich nehme einmal an, wenn Kleinbürger, die immer glauben, dass das wahr ist, was sie für wahr halten… Wenn sie also, nachdem der Gummibaum endlich abgestaubt wurde, daheim am Küchentisch sitzen und mit leichtem Schauer im Boulevard die Welt erklärt bekommen, dann erleben sie wohl keinen Jammer, sondern eher Schadenfreude, und innerlich gereinigt werden sie von gar nichts, im Gegenteil: In ihren Ängsten und Ressentiments werden sie nur noch bestärkt.

hpd: Es gibt nun aber doch das Phänomen in Deutschland, dass mittlerweile jeden Abend ein oder zwei Kriminalfilme im Fernsehen gezeigt werden. Da gab es die These, dass diese Kriminalfilme die Aufgabe haben, erst einmal dem Menschen etwas geschehen zu lassen, damit er seine kriminellen oder mörderischen Impulse virtuell etwas ausleben kann, aber dann kommt zum Schluss die klare Botschaft: Lass das, du wirst sowieso erwischt. Ist das eine ‚Reinigung’?

Streminger: Sie können aber hartnäckig sein!

  

hpd: Nun gut, wechseln wir das Thema. Wir hatten vorhin ja bereits ein paar Facetten des Verhältnisses der Griechen zur Natur angesprochen und ein besonderer ist der Dionysos-Mythos. Inwiefern ist der etwas Besonderes oder eigenartig?

Streminger: Für Dionysos wurde auf der Akropolis ein eigener Tempel errichtet. Der diesbezügliche Mythos lautete, dass der Gott im Herbst, wenn die Tage kürzer werden, gefoltert und schließlich getötet wird. Die Natur trauert. Aber Dionysos kommt im Frühjahr im Triumphzug zurück, er kehrt heim auf seine Erde und lässt wieder die Triebe sprießen und alles wird für lange Zeit gut. Ganz anders der christliche Mythos: Da stirbt Jesus, also Gott selbst oder sein Knecht, nur einmal am Kreuze, verweilt dann einige Tage im Totenreich und entfleucht in den Himmel, von wo er ursprünglich gekommen ist, um uns am Ende aller Zeiten zu richten. Das ist der gewaltige Unterschied: Der griechische Gott blieb seiner Erde treu, er blieb eingebunden in den natürlichen Kreislauf von Entstehen und Vergehen, in den Zyklus der Jahreszeiten. Jesus hingegen kehrte der Erde und der Natur, die von der Erde hervorbracht wird, den Rücken und fuhr zurück in den Himmel zum Vater, mit dem er, der Sohn -- wenn man das nur richtig verstehen tut –, ja im Grunde eins ist. Hand auf’s Herz: Welcher Mythos ist wohl der schönere?

Ein anderer griechischer Mythos ist derjenige des Pan, des Gottes der Natur. Er schläft gerade dann, wenn die Sonne im Zenit steht, also in der heißesten Zeit des Tages und die ganze Natur hält stille, um ihn nicht zu stören.

hpd: Also, die ‚Siesta’ der Menschen zur heißen Mittagszeit nur, um den schlafenden Pan nicht zu wecken...

Streminger: Ja, vielleicht, ursprünglich. Dieser Pan wurde nun als Mischwesen dargestellt, halb Mensch, halb Ziege. Eben dieses Mischwesen, der Gott der Natur, wurde in der christlichen Mythologie … zum Teufel. Die teuflische Natur hier und das Göttliche dort! Wie viel an Schrecklichem, das im Christentum geschehen ist, lässt sich auf so einfache Weise veranschaulichen!?

Diese Diesseitsfeindlichkeit findet sich bereits im Genesisbericht, in der Erzählung von der Schlange. Sie ist laut christlicher Lehre das Wesen, das die Menschen belogen hat. Aber die Schlange ist ebenjenes Tier, das der Erde am nächsten ist! Die Verleumder des Diesseits gebrauchten sie, die augenfälligste Erdenbewohnerin, um wieder einmal das (überprüfbare) Diesseits zu verdrießen und damit die Lust am (unüberprüfbaren) Jenseits zu steigern. Dort werde am Jüngsten Tag dann endlich auch der Spreu vom Weizen getrennt, heißt es, selbst den Armen werde Gleichbehandlung widerfahren -- vorausgesetzt, sie waren bereit, die Ungleichheit im Diesseits zu akzeptieren.

Menschen sind also laut christlicher Frohbotschaft die Krone der Schöpfung und der Feind der Natur. Macht Euch die Erde untertan!, lautet ja das Gebot Gottes. Aber in Wirklichkeit verdient die Natur viel mehr Ehrfurcht als die von Priestern erfundenen Geschichten über den gerechten Gott, zum Beispiel diese: Um den Menschen zu bestrafen, wurde die ganze Natur geflutet (Sündflut). So sehr hat der Barmherzige seine Schöpfung geliebt!? Also: Die heidnische Vergöttlichung der Natur ist viel plausibler als die christliche Vergöttlichung des Menschen.

 

hpd: Steht das auch im Zusammenhang damit, dass viele den Baum als heilig verehren, als Sitz der Götter oder der Seelen, und das Christentum diesen Baum ja auch wiederum ins Gegenteil verkehrt, denn der Baum ist dann das Holz, an dem der Jesus getötet wird? Auch wieder die Verkehrung eines positiven Symbols von Kraft, Wachstum und Stärke, das verwurzelt ist im Boden, in das Kreuzsymbol der Schwäche, des Opfers und des Todes?

Streminger: Das ist ein hochinteressanter Gedanke, den ich so noch nie gehört habe. Das mag durchaus so sein und passte vorzüglich ins Bild, dass man im Christentum immer willens ist, die wahre, jenseitige Welt auf-, und das Hier und Jetzt, die diesseitige Welt, abzuwerten. Dabei spielt der Mythos Platons wohl auch eine gewisse Rolle, der für Theisten sehr attraktiv ist, das Höhlengleichnis nämlich: Wir Menschen sitzen in eine Art Kinosaal und sehen nur ein Abbild der Wirklichkeit. Philosophen und religiöse Menschen können sich jedoch laut Platon umdrehen und die wahre Welt schauen. Ich bin zwar Philosoph, ich Armer habe aber einen ziemlich steifen Nacken, denn ich vermag nur das zu schauen, was so vor meinen Sinnen abläuft.

hpd: Reinhard Marx, der heute als Erzbischof von München-Freising residiert, war vorher Bischof von Trier, und soll dort einmal gesagt haben, dass Karl Marx den Arbeitern ja nur eine Eigentumswohnung versprochen habe, wir, die katholische Kirche, versprechen den Menschen einen Bungalow mit Swimmingpool.

Streminger: Mmh, allerhand, was der Herr Erzbischof so alles seinen Schäflein versprechen kann. Ein wirklicher Bungalow? Mit Swimmingpool gar? Und das auf ewig? Wirklich dumm, wer angesichts solcher Aussichten sich noch über diesseitige Schätze Sorgen macht, ist es auch nur eine bescheidene Eigentumswohnung, und nicht gleich alles der Kirche spendet. Besonders dumm sind freilich jene, die sich auch noch fragen, wie eigentlich der Herr Erzbischof und die Kirche zu ihren diesseitigen Eigentumswohnungen, Palästen gar, gekommen sind? Und stimmt es wirklich, dass die katholische Kirche der größte Grundbesitzer auf Erden ist? Und warum wähnen Bischöfe sich in der Nachfolge Christi, des Besitzlosen, wo sie doch eher dem Kaiphas ähneln, jenem jüdischen Hohepriester, der maßgeblich an der Verurteilung Jesu beteiligt war?

 

hpd: Nun aber in Bezug auf die Realitätsverdrehung der Theologie: Was hält einen Menschen wie Drewermann, der ja erst nach seinem 65. Lebensjahr, also nach seiner Pensionierung, aus der katholischen Kirche ausgetreten ist, oder auch einen Küng, eigentlich in der katholischen Kirche? Ist es ihr Status, solange sie Kirchenmitglieder sind, als opponierender Katholik, als Märtyrer? Diesen Märtyrerstatus verlieren sie ja, wenn sie aus der Kirche austreten. Ist das die Basis für die dissidente katholische Theologie, dass sie versuchen, etwas Menschliches ins Katholische hinein zu bringen, und bisher am Ratzinger scheiterten?

Streminger: Vielleicht sollten wir nicht gleich an so etwas Unappetitliches wie Märtyrer denken, sondern zunächst einmal annehmen, dass die beiden – naiverweise – dachten, die Kirche könne von innen her verändert werden. Bei Drewermann ist das ganz deutlich, und er hat sein Herz gewiss am richtigen Fleck; zudem ist sein Versuch durchaus ehrenwert, die Psychoanalyse für das Verständnis der Evangelien fruchtbar zu machen. Ob der Drewermanirismus und die Konzeption eines an Freud geschulten lieben Jesuleins mit dem Christentum und den Evangelien allerdings noch viel zu tun hat, mögen die vielen Experten entscheiden. Aber leider scheint Drewermann unter einem Schreibzwang zu leiden, und in Interviews ist er eine ziemliche Dampfpfeife.

Auch Hans Küng hat sein Herz gewiss am richtigen Fleck, auch wenn er gegenüber kritischen Einwänden ziemlich, d. h. völlig immun zu sein scheint. So hat Hans Albert schon vor Jahrzehnten ein ganzes Buch geschrieben, in dem er Küngs Annahmen und Behauptungen zerpflückte. Aber die kritisch-rationalen Argumente prallten, soweit ich sehe, vom theologischen Schwergewicht ab wie die Tautropfen von der Mähne eines Löwen. Nehmen wir nur die Theodizee-Kritik. Ohne sich um philosophische Einwände zu scheren, redet Küngkong seit Jahr und Tag von einer ‚vernünftigen Hoffnung’, die ihn in seinem Glauben beseele, deren Vernünftigkeit allerdings nur er allein zu erkennen vermag. Denn weil es hier im Diesseits unter der Aufsicht des Allmächtigen überaus ungerecht zugeht, ist die Hoffnung, dass es anderswo anders sein werde, gerade unbegründet. Aber eine solche Spitzfindigkeit ist vor dem Hintergrund des dringlichen Entwurfs eines Weltethos natürlich kaum der Rede wert, geradezu ein philosophisches Kinkerlitzchen. Sehr bemerkenswert ist jedoch Küngs Einstellung gegenüber seinem ehemaligen Kollegen Ratzinger, dem er sogar nahe gelegt hat, doch einmal zu überlegen, ob er nicht besser als Papst zurücktrete. Durchaus bemerkenswert, meine ich, aber noch bemerkenswerter wäre es, wäre da nicht gelegentlich der etwas schale Eindruck, dass Küng am meisten darunter zu leiden scheint, nicht als einziger als unfehlbar zu gelten.

hpd: Da gibt es auch noch andere, die mir dazu einfallen würden....

Streminger: Ach ja, natürlich: der Papst selbst. Bei Josef Ratzinger gab es nach seiner Ernennung durch den hl. Geist durchaus die Hoffnung, dass er auch die Vernunft hochhalten werde. Viele nahmen an, Ratzinger sehe sich in der Tradition des hl. Thomas, des ersten Lehrers der Kirche, dem zu folge man an Gott glauben und von Gott wissen könne. Thomas, der ein großer Verehrer des griechischen Philosophen Aristoteles und des spanisch-arabischen Philosophen Averroes war, ging davon aus, dass beide Erkenntnisquellen: Glaube und Wissen bei der Erforschung der Erstursache Gott dienlich seien. Wieder war es Hans Albert, der in seinem Buch über Ratzinger gezeigt hat, dass dieser in Wahrheit einem sehr verkürzten Vernunftbegriff das Wort rede. Glaube und Vernunft seien für Ratzinger eben nicht gleichwertig, sondern dem Glauben gebühre der Primat und dieser bestimme, was vernünftig sei und was nicht. Deshalb gehe Ratzinger, so Albert, auch auf das berühmt-berüchtigte Theodizee-Problem gar nicht näher ein.

Aber wir sollten nicht allzu kritisch über den Papst reden, sondern Verständnis zeigen dafür, dass der berühmte Universitätsprofessor und Oberlehrer seine bescheidene Wohnstatt auf Erden gelegentlich verlassen und auf Reisen gehen möchte, demnächst sogar ins blasphemische England. Ob diese mutige Tat der katholischen Sache wirklich dienlich sein werde, bleibt jedoch abzuwarten. In den großen Informationssendungen der BBC dürfte zwar mit Ausführlichkeit und Interesse von den vornehmlich irischen Massenaufläufen berichtet werden, aber dem Wunder des Sakralen – etwa dem des Zölibats – wird man wohl kein tieferes und damit adäquateres Verständnis entgegen bringen. Hingegen dürften die Gläubigen eindringlich vor möglichen Taschendieben bei solchen Menschenansammlungen gewarnt werden. Oh, du praktisch denkendes Volk, dessen Sinn fürs Übernatürliche, dessen Aufstieg zum Göttlichen bei Uncle Bertie, dem Schlossgespenst, zu enden scheint.

hpd: Zurück zur Theodizee. Ist das nicht eines der Kernprobleme, das so genannte Theodizee-Problem?

Streminger: Ganz gewiss. Das Theodizee-Problem ist meines Erachtens überhaupt der Schlüssel zur begründeten Kritik an der Religion. Denn wenn nicht gezeigt werden kann, dass Gott gütig ist, dann fällt auch der Anspruch, dass er der Ursprung der Moral und Garant für Moralität sei; es fällt die Idee einer ausgleichenden Gerechtigkeit im Jenseits. Und wie sollte man zu einem Wesen, von dem man nicht einmal wissen könne, ob es überhaupt gütig sei, eine Vertrauensbeziehung aufbauen können? Das sind die für jede Religion mit einem positiven Gottesbild fatalen Folgen, wenn das Theodizee-Problem nicht gelöst wird. Und so lange dies nicht gelingt, so lange erscheint es als verwerflich, den Willen eines Wesens tun zu wollen, von dem man gar nicht weiß, dass es gut ist; noch verwerflicher ist es freilich, andere zu dieser Selbstaufgabe überreden zu wollen.

  

hpd: Spielt das aber für die so genannte „Volksfrömmigkeit“, die von den Theologen so herablassend ja beinahe verächtlich betrachtet wird, überhaupt eine Rolle? Ich habe den Eindruck, dass der christliche Glaube so eine Art Projektionsfläche darstellt, auf die der Gläubige seine persönlichen Wünsche, Hoffnungen, Erwartungen drauf projiziert, und die Kirche ihm dafür nur die Worthülsen als Vorlagen liefert, wie Weihnachten als das „Fest der Familie und des Friedens“? Wir wissen vermutlich alle, dass „Familie“ das wohl am schlechtesten funktionierende Sozialmodell überhaupt ist und trotzdem haben wir eine Sehnsucht nach diesem biologischen Verband, der sich Familie nennt, und projizieren nun alles, von der „Heiligen Familie“ bis „Fest der Familie“ unter dem Druck der Projektion, die die Kirche einem bietet. Und wer ist gegen „Frieden“? Und so projizieren alle Menschen ihre subjektiv sehr unterschiedlichen Vorstellungen auf die gleichen nichtssagenden Flächen. Das ist perfekt und funktioniert.

Streminger: Natürlich vermag das Christentum erst einmal viele Bedürfnisse zu befriedigen. Es spendet Trost und auch eine gewisse Sicherheit, aber das geschieht immer auf Grundlage der Vorstellung, dass Gott gütig und gerecht ist. Denn wenn Gott es nicht ist, dann kann es keine begründete Hoffnung auf Trost geben oder dass ich beten kann und er mir beistehen wird. Das gilt gerade auch für die Volksfrömmigkeit, denn die Frage: Warum lässt Gott das bloß zu? ist kein akademisches Problem frisch aus dem Elfenbeinturm. Wenn das eigene oder das Nachbarkind Krebs bekommt, dann stellt sich unausweichlich die Frage: Warum denn das unschuldige Kind? Niemand, der auch nur halbwegs empfindsam, gütig oder gerecht ist, würde das alles zulassen. Aber der Allmächtige und angeblich Allgütige beschäftigt sich offensichtlich nicht mit dieser Welt, sondern mit anderem (vielleicht spielt er gerade mit sich selbst Tennis, auch dazu müsste ein Allmächtiger doch imstande sein). Besäßen jedoch Menschen die Macht, so beendeten die meisten von ihnen sofort die meisten Leiden, sie griffen ein, wenn Schreckliches wie ein Genozid geschieht, aber der angebliche Allmächtige schaut zu und tut nichts. Vielleicht wird einmal die Zeit kommen, da werden Menschen diesen Allmächtigen des milliardenfachen Mordes anklagen, oder noch besser: Sie werden ihn einfach übersehen und sich Interessanterem widmen.

hpd: Das ist wohl richtig, aber wird nicht deshalb in der „Volksfrömmigkeit“ immer von dem „lieben Gott“ gesprochen? Und es ist doch auch eine Wunschvorstellung eines Vaters, der einen behütet, der gut zu einem ist, etc. Da hatte ich einmal in Rom, in der Peterskirche, den Eindruck, diese Kirche ist wie ein riesiges Dorf, in dem an verschiedenen Ecken alles Mögliche an Aberglauben, Volksfrömmigkeit, Gespuke erlaubt ist, solange man die Autorität des Papstes oder der Kirche nicht kritisiert. Das heißt, die katholische Kirche ist wie ein großer Mantel, der unter diesem Mantel beinahe alles erlaubt, während die Evangelischen da sehr engstirnig und rigoros sind, und eine Vielzahl von getrennten Glaubensgemeinschaften haben.

Streminger: In Italien sieht man wohl am besten, was die katholische Kirche so alles zu ummanteln versteht. Aber es gibt einen Fallschirm, an dem alles hängt: die Vorstellung vom lieben Gott. Und dieser öffnet sich in Wahrheit nicht. Viele Menschen ahnen wohl, dass es aufgrund der Beschaffenheit der Welt einen gütigen Gott nicht geben könne.

hpd: Aber ist im Christentum das Theodizee-Problem nicht gelöst, da mit der Geschichte des Hiob jedes Leid nur die Prüfung Gottes ist, ob man vom Glauben abfällt oder nicht. Und insofern kann man dann doch sogar aus dem Leid im Glauben gestärkt hervorgehen? Und der Satz: „Credo quia absurdum!“ – „Ich glaube, obwohl es unsinnig ist!“ heißt doch eher, ich denke, Sie haben es einmal geschrieben, „Ich glaube, weil es unsinnig ist!“? Deshalb dieses Beispiel mit Abraham. Jeder empfindsame Vater hätte sich der Aufforderung – von wem auch immer – versagt, sein Kind zu töten. Aber da es gottgefällig ist, will er es tun, weil Gott es so will.

Streminger: Genau, das ist das ungeheuer Gefährliche an der Religion. Es negiert nämlich die innersten Instinkte der Menschen oder handelt ihnen bewusst entgegen. Weil Moralität im Wesentlichen ein natürliches Phänomen ist, ist es eigentlich nichts Besonderes, sich moralisch zu verhalten, seine Steuern zu bezahlen, dem Nachbarn nichts Böses zu wünschen, am Wohl und Wehe der Nächsten teilzuhaben usw. Aber genau deshalb eröffnet sich für religiöse Menschen ein großer Konflikt. Denn wenn ‚moralisch sein’ eigentlich etwas Natürliches, wenn auch nichts Selbstverständliches ist, dann stehen religiöse Menschen vor der Frage, was sie eigentlich Gott zuliebe tun. Wie kann ich mir und anderen zeigen, dass ich religiös bin und gottgefällig lebe? Zwei Möglichkeiten tun sich auf.

Das eine ist das Rituelle, indem ich jeden Sonntag in die Kirche gehe, usw. Das andere ist das Unmoralische, das eben nicht dem natürlichen Empfinden entspricht (Abrahambeispiel, Schiffbrüchigenbeispiel). Gerade deshalb, weil eine bestimmte Handlung unmoralisch ist und jedem moral sense widerspricht (den eigenen Sohn zu töten, Schiffbrüchigen nicht zu helfen), ist sie für religiöse Menschen auf fatale Weise anziehend. Denn wenn sie so handeln, dann können sie zeigen, dass sie gottgefällig leben. So oder ähnlich denken wohl religiös motivierte Terroristen. Es gibt gute und schlechte Menschen. Aber es bedarf der Religion oder einer politischen Religion, damit gute Menschen Böses tun.…

  


Der dritte Teil und Abschluss des Interviews am Freitag