Ein „Band der Freundschaft“ knüpfen (II)

hpd: Das steht aber in starkem Kontrast zu unserer Spaßgesellschaft, die dafür keine Zeit hat.

Streminger: Sie meinen hier wohl das Wissen um das individuelle Scheitern. Aber die Spaßgesellschaft, dieser Zwang zur Oberflächlichkeit, übertüncht meines Erachtens nur dieses allgemeine Bewusstsein. Denn wir Menschen sind nun einmal Primaten, deren Gehirn so groß geworden ist, dass sie wissen, was einmal sein wird, dass ihr Leben und das anderer endlich ist und voll Leid sein könnte. Ich denke doch, dass auch die Spaßgesellschaft im Grunde dafür empfänglich ist.

Ich selbst versuche, aber das nur so ganz nebenbei, bei anderen immer auch sogleich auf deren Leid und Probleme zu achten. Das vergrößert nicht nur mein Verstehen, sondern reduziert auch meine Selbstbezogenheit, was ich wiederum als positiv erlebe. Sehr gut gelingt mir das alles zwar nicht, aber ich nehme an, dass auch Schicki-Mickies etwa mit den Problemen ihrer Eltern konfrontiert sind, konfrontiert sind mit unglücklichen Liebschaften, manche haben eine Abtreibung hinter sich, einige einen Selbstmordversuch … und das alles versuchen sie dann mit Spaß zu überspielen, weil sie nichts Besseres kennen.

hpd: Das Marketingkonzept der christlichen Kirchen besteht ja auch darin, dass sie sehr brutale Schriften haben, sehr bedrohliche mit jeder Menge und Variationen von Strafen, selber aber, als Priester die verzeihende, menschenfreundliche Variante fahren...

Streminger: ....Gegenwärtig! Bei uns!

hpd: Ja, sie haben dann so viele Tröstungen, „So schlimm wird es nicht werden“, „Dir ist vergeben“, etc. Die schrecklichen Voraussagen und, als Bodenpersonal, stets das freundliche Lächeln. Wenn dieses Konzept der freundlichen Tröstung funktionieren würde, müssten Christen doch eigentlich fröhlich sterben, was aber, wie mir berichtet wurde, nicht der Fall ist. Da erst der HERR entscheidet, nach dem Tode, haben sie beinahe alle Angst vor den dann möglichen Strafen.

Streminger: Man sollte dieses Eiapopeia, diesen jenseitigen Sozialstaat für alle, der gegenwärtig bei uns von vielen Kanzeln verkündet wird, nicht über Gebühr ernst nehmen. Denn unsere Kirchen sind bereits durch die Dompteurschule der Aufklärung gegangen, vieles ist heute nicht mehr möglich, was früher selbstverständlich war (und anderswo selbstverständlich ist. Denn wurden Religionen nicht durch die Aufklärung zumindest teilweise entgiftet, dann zeigen sie sogleich ihr weniger anziehendes Gesicht.)

Aber geistiges Schunkeln in unseren Kirchen hin oder her: Schreckliches findet sich in den angeblich von Gott offenbarten Büchern. So beruft sich Jesus, um nur ein Beispiel zu nennen, etwa zwanzig Mal auf die Hölle, er verkündet Heulen und Zähneknirschen und droht mit ewigen Feueröfen. Wie motivierte Jesus seine Anhänger, damit sie das tun, was er will? Antwort: Durch den Appell an deren Egoismus: Seid doch nicht dumm, seid klug, sammelt Schätze im Himmel, wo keine Motten sie zerfressen, und wenn ihr das nicht tut, was ich euch sage, dann, ja dann, wartet die Hölle auf euch, und das gleich auf ewig (für endliche Vergehen!). Das ist doch schrecklich, und ich frage mich, wie sich Jahrtauende lang das Gerücht halten konnte, das christliche Evangelium sei eine Liebesethik. Franz Buggle hat dazu ein lesenswertes Buch mit glänzendem Titel geschrieben: Denn sie wissen nicht, was sie glauben.

Bei Licht besehen, entpuppt sich die Jesuanische Ethik, trotz manch bedenkenswerter Passagen, als infantiler Appell an den Egoismus bzw. an den Jenseitsegoismus des Einzelnen. Es geht primär gerade nicht um das Wohl der anderen oder um Verständnis, sondern um das eigene Wohlergehen, spätestens im Himmel. Warum soll ich das tun, etwa anderen helfen oder gar die Feinde, die mir Böses getan haben, lieben? Jesus: Sei klug und denke an die Schätze im Himmel -- und an die Schrecken der Hölle! Die Frohe Botschaft ist also in Wahrheit eine ziemlich rohe Botschaft und eine Gefahr – keine Stütze – für Moralität. Denn diese gründet sich auf Empathie, auf Mitgefühl und Freude am Wohl anderer. Aber nicht diese emotionale Teilhabe am Schicksal anderer wird gefördert und kultiviert, sondern es wird an den Egoismus des Einzelnen gemahnt (Gottesnähe oder Höllenstrafen, darum geht es letztlich), und dieser Egoismus zerstört auf subtile Weise alles das, was an Empathie existiert. Das vorhandene Mitgefühl mit anderen, das eigentlich bekräftigt werden sollte, verliert sich im Streben nach eigener jenseitiger Seligkeit wie Flüsse sich im Meer verlieren.

Aber diese problematische Form des Motivierens ist nur ein Argument gegen die Jesuanische Ethik. Es gibt noch andere. Nehmen wir etwa das Gebot: „Richtet nicht, auf das ihr nicht gerichtet werdet.“ Das ist zumindest unbedacht, denn wir müssen nun einmal ständig richten, aus der Informationsflut auswählen, zwischen gut und böse unterscheiden. Jesus, für viele der größte Morallehrer aller Zeiten, hätte, anstatt das Richten zu verbieten, die Menschen lehren sollen, wie sie richtig urteilen. Zum Glück hat die moderne Gesellschaft dennoch Gerichtsverfahren entwickelt, die am ehesten Fehler ausschließen können: Richter, Verteidiger, Gutachter, Gesetze, sodann höhere Gerichte und Verfassung. Diese großartigen zivilisatorischen Errungenschaften mussten, wie so vieles, gegen das angebliche Wort Gottes durchgesetzt werden.

Der nächste grobe Fehler Jesu ist die Tatsache, dass er keinen Unterschied machte zwischen Impuls und Tat: „Wer die Frau eines anderen begehrlich ansieht, der hat die Ehe schon gebrochen.“ Das ist doch Unsinn. Zum Glück wird in aufgeklärten Ethiken gerade auf den Unterschied zwischen Impuls und Tat gepocht. Denn nach einem Impuls, einem Wunsch, etwas Bestimmtes zu tun, setzt im moralischen Menschen erst einmal die Reflexion ein: Will ich das wirklich? Welchen Schaden füge ich anderen damit zu? Ist das, was ich will, rechtens? Ein Wunsch kann durch Reflexion, insbesondere durch die Beachtung der Konsequenzen der Handlung, zum Interesse werden. Aber ein Wunsch kann auch strikt abgelehnt werden, um Gottes willen... (fröhliches Lachen), ach du meine Güte, ... nein, nein, ich meinte: um der Mitmenschen und des Rechts willen: Einem bestimmten Impuls, etwa in der Stadt zu schnell mit dem Auto zu fahren, werde ich, wie ich eingesehen habe, auf keinen Fall nachgeben!

Bei den Missbrauchsfällen, über die jetzt so viel geredet wird, dürfte das besagte Wort Jesu auch eine gewisse untergründige Rolle spielen. Katholische Priester, nehmen wir einmal an, verspüren den Impuls, dass ein bestimmtes Kind erotisch anziehend ist. Nun sagt ihnen Jesus, das göttliche Vorbild, es sei kein Unterschied zwischen Impuls und Tat. Daraus schließen sie dann (oder ihr Unterbewusstes): Also kann ich es ja tun. Somit ist Jesus mit seinen unbedachten Äußerungen mitverantwortlich für das Schreckliche, was geschehen ist, und müsste ebenso zur Verantwortung gezogen werden...

hpd: ...Weil sie beim Denken, im Impuls bereits verwerflich waren, konnten sie es dann auch tun, denn schlimmer ging es sowieso nicht...

Streminger: Ja, genau. Denn Jesus sagt, mit dem Impuls, dem Antrieb daran habe ich die Untat bereits begangen. Warum soll ich es also nicht auch tatsächlich tun? Wo ist noch der Unterschied, denn schuldig bin ich bereits durch das Denken daran? Dieses Gebot: „Wer eines anderen Frau begehrlich ansieht ….“ ist also unsinnig und verwerflich.

Was die katholische Sexualmoral anlangt, gibt es ohnedies fundamentale strukturelle Probleme. Nennen wir nur eines: Wenn man als Priester eine eheähnliche Beziehung eingeht, so wird man aus der Kirche oder vom Sakramentalen, also vom Kirchenleben, ausgeschlossen; wenn man sich an Kindern vergeht, wird man bloß versetzt (zumindest so lange, so lange die Öffentlichkeit nichts davon erfahren hat). Das ist doch pervers. Hier könnte sich vielleicht etwas ändern, doch der Anspruch des katholischen, im Zölibat lebenden Klerus, Experte auf dem Gebiet der Sexualmoral zu sein, wird weiterhin geradezu trotzig erhoben. Das weckt in mir allerdings die Vorstellung von Bergführern, die sich zu Experten aufplustern und zugleich stolz darauf sind, noch nie einen Berg bestiegen zu haben. Diese Unwissenheit und Unmoral – Wenn schon nicht keusch, dann wenigstens heimlich! – sind wohl die Hauptgründe dafür, dass immer mehr Menschen der katholischen Kirche und deren Priestern, die nie gelernt haben, auf eigenen Beinen zu stehen – Nicht mein, Dein Wille geschehe! – den Rücken kehren. Immer weniger glauben denen, die nicht willens sind, sich selbst ein Bild von der Wirklichkeit zu machen, sondern demütig nach oben, also ins Nichts schauen. Die ehemalige Männerhochburg verkümmert so zur Seniorenhupfburg. Wie riesige Mühlen in ausgetrockneten Bachbetten stehen sie da, die Kirchen. Aber ihre Macht geht noch immer weit über ihre Bedeutung hinaus.